Kartellkriminalität in Ecuador: Außer Kontrolle
Das El Litoral in Guayaquil ist die größte Haftanstalt Ecuadors. Doch statt Sicherheit zu bieten, ist es innerer Schauplatz für die Narcos-Kriege im Land.
V or dem größten Gefängnis Ecuadors, El Litoral in Guayaquil, bilden sich täglich lange Schlangen von Angehörigen. Mit Matratzen, Pappkartons, Lebensmitteln und Getränken bepackt, schieben sie ihre mitgebrachten Sachen Stück für Stück vor sich her, bis sie das Tor der Vollzugsanstalt erreichen und die notwendigen Kontrollen passieren. Hunderte sind es täglich, die in der Morgendämmerung auf dem Platz vor der Haftanstalt am Rande von Ecuadors Industriemetropole sich einfinden, um ihre inhaftierten Verwandten zu versorgen.
Ana Morales war einst eine von ihnen. Bis vor drei Jahren brachte sie ihrem Sohn Miguel regelmäßig das Nötigste. Er saß wegen Diebstahls ein. „Es sind die Angehörigen, die die Häftlinge in Ecuador versorgen. Die Haftbedingungen sind miserabel, medizinische Hilfe oft inexistent“, erklärt die 44-Jährige mit dem dunkelblonden Pferdeschwanz.
Ana Morales kennt wie wenige andere die Realität hinter Gittern. Ihr Leben veränderte sich dramatisch, als Miguel im September 2021 bei dem bisher blutigsten Massaker im El Litoral ums Leben kam – eines von 119 Opfern. „Miguel hat einen Fehler gemacht, er hat gestohlen und musste dafür mit dem Leben bezahlen“, sagt Morales mit leiser Stimme. Sie engagiert sich in einer Vereinigung für Häftlingsangehörige, setzt sich für Reformen im Strafvollzug und eine effektivere Justiz ein.
Miguel Morales sei, wie viele andere auch, in den blutigen Konflikt zwischen rivalisierenden Kartellen geraten, der seit Jahren anhält. Für seine Mutter trägt der Staat Mitschuld an seinem Tod. „Wie können Waffen und Granaten in die Gefängnisse gelangen? Warum werden Morde nicht aufgeklärt?“, fragt sie.
Die Gewalt in Ecuadors Gefängnissen sorgt auch international für Schlagzeilen. Laut dem Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte (CDH) aus Guayaquil wurden zwischen 2018 und 2023 insgesamt 680 Menschen in Haftanstalten ermordet oder bei Massakern getötet. Teils waren die Leichen so zerstückelt oder verbrannt, dass Forensiker die Identität nicht mehr feststellen konnten. Ecuadors Ex-Präsident Guillermo Lasso bezeichnete die Haftanstalten des Landes im Jahr 2023 als „Lagerhallen für Menschen und Folterzentren“. Unter seinem Nachfolger hat sich daran kaum etwas geändert.
Besonders brutal tobt der Machtkampf im El Litoral: Die Haftanstalt, 1958 eröffnet, trägt offiziell den Namen Centro de Rehabilitación Social de Varones N.1 de Guayaquil, übersetzt Zentrum zur Rehabilitierung von Männern Nummer 1 von Guayaquil. 2013 modernisiert, sind in ihr etwa 12.000 der rund 40.000 Inhaftierten des Landes untergebracht. Doch statt Ordnung herrscht dort Kartellgewalt: Laut Polizeiberichten von 2021 kontrollierten Verbrechersyndikate alle zwölf Pavillons, allen voran Los Choneros, das größte Drogenkartell Ecuadors. Dieses hatte damals in fünf Pavillons das Sagen. Für die Kartelle ist die Kontrolle der Vollzugsanstalten eine lukrative Einnahmequelle. Sie verdienen an der Vergabe von Zellen, dem Handel mit Handys, Datenpaketen und „Sicherheit“, so eine Analyse des investigativen Portals „Insight Crime“. Aus den Gefängnissen koordinieren etliche Kartelle ihre Aktivitäten, darunter Morde, Erpressungen und vieles mehr.
Präsident Daniel Noboa, seit dem 23. November 2023 im Amt, versprach, unter seiner Regie die Kontrolle über die 36 Gefängnisse des Landes zurückzugewinnen. Dabei hat Noboa vor allem auf das Militär gesetzt und die eigentlich für den Schutz der Grenzen und die Landesverteidigung zuständigen Streitkräfte am 9. Januar 2024 für den Einsatz im Landesinneren und in den Gefängnissen des Landes in Marsch gesetzt. Der Sohn des Bananen-Milliardärs Álvaro Noboa erklärte, Ecuador befinde sich im „internen bewaffneten Konflikt“ mit den Kartellen. Am 21. April bestätigte ein Referendum die Maßnahmen.
Doch Menschenrechtsorganisationen wie das CDH, aber auch Juristen oder Kriminalwissenschaftler warnen. Die Armee sei für solche Einsätze nicht qualifiziert. Ihre Befürchtungen haben sich laut Billy Navarrete, Direktor des CDH bewahrheitet: Allein 2024 seien 80 Häftlinge durch Gewalt umgekommen – die Hälfte von ihnen im El Litoral.
Der 58-jährige Dokumentar mit schwarzer Brille und graumelierten Kinnbart arbeitet eng mit Angehörigen, kirchlichen Organisationen und juristischen Hilfsgruppen zusammen. Er macht regelmäßig auf die prekäre Lage in Ecuadors Gefängnissen aufmerksam, auch bei den Vereinten Nationen. In einem Bericht vom 18. Januar 2025 dokumentierte das CDH Folter durch das Militär und 308 Tuberkulose-Fälle im Pavillon 7. „Wir stützten uns dabei auf Aussagen von Angehörigen, von Häftlingen, aber auch auf Fotos und Videos aus der aus zwölf Pavillons bestehenden Haftanstalt“, so Navarrete.
Die nach wie vor prekäre Situation in den Haftanstalten bestätigt auch Fernando Carrión, Kriminalwissenschaftler der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso). Er ist sich sicher, dass die Kartelle heute wieder die Kontrolle über die Haftanstalten haben. „Ich bin der Meinung, dass der Einsatz des Militärs in der Öffentlichkeit und in den Vollzugsanstalten zwar zwischenzeitlich einen Effekt gehabt hat, dass dieser nach ein paar Monaten jedoch weitgehend verpufft ist“, meint Carrión und verweist auf harte Fakten.
Dass die Kartelle weiterhin die Kontrolle haben, zeigen jüngste Vorfälle: Am 13. November 2024 starben 17 Menschen bei einem Massaker, im Dezember wurden hinter Gittern Granaten eingesetzt – ein Beweis für anhaltende Korruption und mangelnde Kontrolle, meint Carrión. „So etwas wäre unmöglich, wenn das Militär dort alles unter Kontrolle hätte, wie es Präsident Daniel Noboa behauptet“, so der 70-jährige Kriminologe.
Unbequeme Aussagen für Präsident Daniel Noboa vor dem gestrigen ersten Wahlgang für die Präsidentschaftswahlen. Der erst 37-Jährige wird seit Monaten nicht müde zu betonen, dass seine Politik der harten Hand positive Konsequenzen habe. Sein Team inszeniert jeden Erfolg von Polizei und Militär medienwirksam. Umfragen sehen ihn vorn, die Mordrate sank 2024 von 47 auf 40 pro 100.000 Einwohner. „Das ist positiv. Allerdings weisen die Statistiken in den letzten Monaten des Jahres wieder einen Anstieg der Morde aus. Dazu haben die Stromausfälle, die Ecuador ab Oktober 88 Tage immer wieder im Dunkeln sitzen haben lassen, viel beigetragen“, analysiert Kriminalwissenschaftler Carrión.
Zwischen Oktober und Mitte Dezember war in ganz Ecuador der Strom rationiert, weil die Wasserkraftwerke des Landes auf dem Trocknen saßen. Es gab – auch aufgrund des Klimawandels – nicht ausreichend Wasser, um Energie zu generieren. Für Carrión, der seit nunmehr zwei Jahrzehnten zum Vordringen der Drogennetzwerke in Mittel- und Südamerika forscht, ist das ein Faktor, der das erneute Erstarken der Kartelle begünstigt.
Carrión sieht die sozialen Missstände als Nährboden für die Kartelle. Schätzungen zufolge verfügen die 22 bis 26 aktiven Kartelle über rund 22.000 Bewaffnete. Die größten – Los Choneros, Los Lobos und Los Tiguerones – weiten trotz des verhängten Ausnahmezustandes ihren Einfluss aus und rekrutieren Jugendliche aus verarmten Vierteln. Auch der permanente Einsatz des Militärs im öffentlichen Raum vor allem in den Küstenstädten sowie im Gefängnissektor des Landes hat daran nur wenig ändern können.
Die Regierung Noboa reagierte damals auf spektakuläre Ereignisse: Am 7. Januar 2024 entkam „Fito“, alias José Adolfo Macías, Chef der Drogenbande Los Choneros, aus seiner Zelle. Zwei Tage später drang ein bewaffnetes Kommando des rivalisierenden Kartells Los Tiguerones in das Sendestudio von TC Televisión in Guayaquil ein. Beide Vorfälle zeigen, wie selbstbewusst die Kartelle agieren und wie weit ihr Einfluss reicht. „Fito“, einst Taxifahrer, war am Tag seiner Verlegung ins Hochsicherheitsgefängnis La Roca schlicht verschwunden – er hatte sich selbst entlassen.
Der Grund lag auf der Hand: Mit der geplanten Übernahme der Gefängnisse durch das Militär drohte ihm der Verlust seiner luxuriösen Haftbedingungen und der ungehinderten Kommunikationsmöglichkeiten, mit denen er sein Kartell aus der Zelle steuerte. Also setzte er sich ab. Wenige Tage später gelang dieses Kunststück Fabricio Colón Pico, Capo der konkurrierenden Drogenbande Los Lobos. Die beiden spektakulären Fluchten offenbaren die Verstrickung nicht nur der Gefängnisverwaltung SNAI, sondern auch von Staatsanwält:innen, Richter:innen und Ermittler:innen in die Machenschaften der Kartelle. Gegen diese Strukturen ging die Regierung im Januar 2024 vor, nahm in einer landesweiten Razzia rund dreißig Verdächtige aus Justiz und Sicherheitsbehörden fest.
Für Analysten wie Fernando Carrión war das längst überfällig, doch er fordert mehr: „Präsident Noboa hat es versäumt, eine neue Institution für die Verwaltung der Haftanstalten zu schaffen. Stattdessen sorgt das Militär nun für neue Probleme in den Haftanstalten“, kritisiert er. Dazu zählen brutale Übergriffe und Folter. In einigen Fällen ermittelt die Justiz bereits gegen Vollzugsbeamte, Polizisten und Militärs.
Ana Morales bestätigt das. Sie und ihre Mitstreiter:innen dokumentieren Folterfälle und klagen Missstände an. Mit ihrer Angehörigenorganisation erzielte sie einen Erfolg mit einer Klage wegen Folter im Gefängnis Turi in Cuenca, Ecuadors drittgrößter Stadt. „Zwar gibt es immer noch kein endgültiges Urteil, da die staatliche Menschenrechtsstelle Revision eingelegt hat, aber der Prozess ist für uns ein Achtungserfolg“, sagt Morales. Sie ist regelmäßig mit den Kolleg:innen in Cuenca im Austausch und gehört zu den wenigen Expert:innen, die hin und wieder Zugang zu den Vollzugsanstalten haben. „Ich bin für die kirchliche Gefängnisseelsorge aktiv, bekomme mehr von drinnen mit“, sagt Morales. Auch Videos, die Folter zeigen, bekomme sie zugeschickt.
„El Litoral ist eine Universität der Gewalt“
Für sie ist El Litoral das Gefängnis, an dem sich die anderen 35 im negativen Sinne orientieren. Was dort möglich ist, wird andernorts kopiert. „El Litoral ist eine Universität der Gewalt“, sagt sie. Ohne Differenzierung zwischen Häftlingen sitzen Mörder neben Dieben. Resozialisierung sei unmöglich.
„Wir sind tief in Korruption versunken – jede Gefälligkeit kostet“, kritisiert Morales. Sie weiß, wie Häftlinge drinnen um harte US-Dollars betrogen werden. Diese Strukturen sind es, die Veränderungen im ecuadorianischen Knastalltag verhindern und die Macht der Kartelle stärken.
Die Kartelle erwirtschaften laut Kriminalwissenschaftler Carrión jährlich rund 15 Milliarden US-Dollar: „Auf das Kerngeschäft, den Drogenschmuggel und -verkauf, entfallen rund sechs Milliarden US-Dollar, auf den illegalen Bergbausektor, den Verkauf von Gold, rund fünf Milliarden US-Dollar und auf Erpressung, Entführung sowie Auftragsmorde rund vier Milliarden.“ Unter den letzten Punkt fallen auch die Einnahmen der Kartelle aus der Kontrolle der Gefängnisse.
Dies hat die Politik den Kartellen ermöglicht. Der Staat wurde durch Korruption und Reformen zwischen 2017 und 2019 geschwächt, als Präsident Lenín Moreno Sparmaßnahmen durchsetzte. Dies führte zu einem massiven Personalabbau im Gefängniswesen und öffnete den Kartellen Tür und Tor. Dadurch drangen sie schnell in die Strukturen von Politik, Justiz und Gesellschaft ein, so Carrión. Die Reformen in der Gefängnisverwaltung, Justiz und bei den Ermittlungsbehörden brachten ein bis dahin funktionierendes System aus dem Gleichgewicht. „Verantwortlich für die Reformen war die Regierung von Lenín Moreno, die Sparzwängen durch den Internationalen Währungsfonds folgte und Personal im staatlichen Sektor abbaute. Auch die Zahl der Gefängniswärter:innen wurde reduziert – bis sie deutlich unter den UN-Empfehlungen lag“, erklärt Carrión mit einem bitteren Lächeln.
Der Sparkurs führte bereits 2018 zu einer steigenden Zahl an Morden hinter Gittern, 2021 folgten die ersten Massaker. Obwohl diese Zusammenhänge unter Experten wie Carrión oder CDH-Direktor Billy Navarrete unstrittig sind, hat Ecuadors Politik es vermieden gegenzusteuern. Selbst nach der Vereidigung von Daniel Noboa und angesichts der prekären Situation in den Gefängnissen wurde der Etat für die Haftanstalten nicht spürbar angehoben.
Während Noboa auf Strafverschärfung und den Einsatz des Militärs setzt, plädieren Experten für eine Justizreform und Investitionen in Resozialisierung. Doch das ist wenig wahrscheinlich. In den öffentlichen Debatten im Vorfeld der Wahlen wurde eher über die Verschärfung der Strafmaße und die Verhängung der Todesstrafe diskutiert als über die Bekämpfung der sozialen Krise, die es den Kartellen so leicht macht, ihr Netzwerk und ihre Aktivitäten auszubauen.
Guayaquil sei eine verarmte Stadt mit prekären Strukturen, erklärt Ana Morales. Die Straßen gleichen Schotterpisten, Wasseranschlüsse gibt es keine, der Staat ist abwesend. Tankwagen müssen die Bevölkerung versorgen und oft wird dabei für Wasser kassiert, das längst nicht immer frisch und unbedenklich ist. „Die stehen Schlange in Stadtteilen wie Monte Sinaí, San Francisco oder Flor de Bastión, die allesamt nicht weit vom El Litoral angesiedelt sind.“
Morales macht sich keine Illusionen, dass sich daran je etwas ändern wird. Weiterkämpfen für eine gerechtere Zukunft möchte sie trotzdem. „Unsere Politiker kennen das Leben in den Armenvierteln nicht. Sie leben in bewachten Wohnanlagen“, kritisiert die 44-jährige und verabschiedet sich. Sie hat noch ein Treffen mit einem Angehörigen von einem Inhaftierten. Dazu muss sie von ihrer Wohnung in der Nähe des Krankenhauses von Guayaquil ans andere Ende der Stadt: wieder mal zum El Litoral.
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