Kanzlerinrede im Bundestag: Merkel wieder CDU-Generalsekretärin
Mit absurden Vorwürfen gegen den SPD-Spitzenkandidaten versucht die Kanzlerin, Laschet Auftrieb zu verschaffen. Damit polarisiert sie den Wahlkampf.
M an musste zweimal hinschauen am Dienstag im Bundestag, aber ja, es war wirklich Angela Merkel, die da am Rednerpult stand. Allerdings eine ganz andere Angela Merkel als in den letzten 16 Jahren. Auf einmal sprach da nicht mehr eine Bundeskanzlerin, die stets besonnen bis betulich über die Lage der Nation und ihre kleinteiligen Kompromisse referierte, sondern eine polemische Wahlkämpferin, die sich anhörte wie die CDU-Generalsekretärin Angela Merkel 1999.
Statt sich öffentlich neutral herauszuhalten, wie sie es noch beim unionsinternen Duell zwischen Armin Laschet und Markus Söder getan hatte, ging Merkel jetzt rhetorisch in die Vollen und stahl damit allen aktuellen Kanzlerkandidat:innen die Show. Ohne Rücksicht auf Verluste für ihren Ruf als seriöse Weltenlenkerin. Und ohne Rücksicht auf Olaf Scholz, also jenen Mann, der ihr lange brav bis treudoof gedient hatte.
Wider besseres Wissen tat Merkel so, als habe ihr amtierender Vizekanzler mit seinem verunglückten Spruch von den „Versuchskaninchen“ die Impfkampagne sabotieren wollen. Das ist absurd, weil er das Gegenteil im Sinn hatte, und weit unter Merkels gewohntem Niveau, ließe sich aber noch abhaken als dreiste Stichelei. Oder als Notwehr gegen die schleimigen Merkel-Kopie-Versuche des SPD-Kandidaten, der mit ihrer Raute posiert.
Wirklich bemerkenswert aber ist, mit welcher Verve die Kanzlerin bei einer Rede im Bundestag die Rote-Socken-Kampagne ihrer Partei gegen ein vermeintlich drohendes Linksbündnis mit Scholz an der Spitze anfeuert. Wie ein CSU-Aschermittwochsredner im Bierzelt malte Merkel eine finstere Zukunft an die Wand, in der die deutsche Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Gefahr gerieten, wenn Scholz eine linke 6-Prozent-Partei an den Kabinettstisch ließe, was dieser erkennbar gar nicht möchte.
Damit fällt Merkel nicht nur aus der Rolle, die sie sich selbst gegeben hatte. Sie trägt auch dazu bei, dass der Wahlkampf noch polarisierter wird, dass er sich noch weniger ums Klima und noch mehr um den vermeintlich drohenden Kommunismus drehen wird. Ob Merkels Rückverwandlung zur Parteipolitikerin der Union am Ende hilft, hängt davon ab, wie die Wähler:innen diesen Auftritt wahrnehmen:
Als Panikattacke einer CDU-Kanzlerin, die sich nicht mit einer krachenden Niederlage ihrer Partei aus dem Amt verabschieden möchte. Oder als glaubwürdige Intervention einer Antisozialistin, die sich wirklich Sorgen macht und geprägt von leidvoller eigener Erfahrung vor der SED-Nachfolgepartei warnt. Ihr nettes Image als über den Dingen schwebende, unideologische Pragmatikerin ist sie jetzt auf jeden Fall los.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen