Kandidatin für Berlin-Wahl: Früher taz, jetzt AfD
Sibylle Schmidt lebte ein Sponti-Leben, war in der SPD. Bei den Berlin-Wahlen im September kandidiert sie für die Alternative für Deutschland.
Das ist ein erstaunlicher Wandel. Schmidt ist Urkreuzbergerin. In den 1980ern betrieb sie einen bekannten Konzertclub, war in der Kreuzberger Spaßpartei „KPD/RZ“ aktiv und machte zwischenzeitlich für die taz Marketing. Kurz vor dem Mauerfall organisierte sie in der DDR Punk-Konzerte und eröffnete später in Berlin-Mitte die „Tanzschule Schmidt“, die in Wirklichkeit ein Club war.
Kurz: Sibylle Schmidt hat einen waschechten linken Sponti-Lebenslauf. Ihre Kandidatur für die AfD ist allerdings keine ironische Sponti-Aktion, sondern ernst gemeint. Wie kommt es, dass Schmidt im September bei der AfD auf zwei Berliner Wahllisten steht?
Bald in der BVV?
Schmidt ist noch nicht Mitglied in der Partei. Dass sie für die AfD ein Mandat erringt, ist aber durchaus möglich. Den direkten Einzug ins Abgeordnetenhaus hält sie zwar selbst für ausgeschlossen. Allerdings hat sie Chancen, in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Friedrichshain-Kreuzberg einzuziehen. Auf dieser AfD-Liste steht sie auf Platz vier.
Im Frühling hatte Sibylle Schmidt noch mehrere SPD-Ämter inne: Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Selbständige (AGS), Vorstandsmitglied im Ortsverein „Kollwitzplatz“ im Prenzlauer Berg und Mitglied im Fachausschuss für Inneres, einem parteiinternen Expertengremium. All das gab Schmidt auf, um für die AfD anzutreten.
„Es fühlt sich gut an, aus der SPD ausgetreten zu sein“, sagt Schmidt der taz. „Ich habe im April dem Landesverband mitgeteilt, dass ich seine blauäugige Innenpolitik nicht weiter mittragen kann.“ Was die AfD angeht, hat sie ehrgeizige Pläne: „Ich gucke mir jetzt die AfD gründlich von innen an und bringe denen bei, wie man sich mäßigt.“ Sie bewundere diese Leute „für ihren Mut, in der Flüchtlingskrise trotz Gegenwinds das Notwendige“ auszusprechen.
Für „notwendig“ hält Sibylle Schmidt etwa, über eine aus ihrer Sicht falsche Flüchtlingspolitik zu sprechen. In der SPD sei das nicht möglich. In der Partei gehe es immer um Wahlen und deren Vorbereitung, was inhaltliche Diskussionen abwürge. Somit, glaubt Schmidt, verliere man die Wähler. Die „Ursprungsbevölkerung“ brauche eine Atempause, sagt Schmidt. Den Flüchtlingsstrom bezeichnet sie als eine „aus dem Ruder gelaufene Facebookparty“.
Das sind Positionen, die vermutlich in der SPD nicht nur Einzelne insgeheim vertreten, hat doch der ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky in seiner Rolle als vermeintlicher Tabubrecher bis heute eine inoffizielle Fangemeinde in der Partei. Die Frage ist: Wie kam die SPD über die Jahre mit der Funktionärin Sibylle Schmidt zurecht, deren politische Meinung sich nicht über Nacht geändert haben dürfte?
Tabu-Thema Flüchtlingspolitik
Der erste Auslöser, sich von der SPD abzuwenden, seien die Morde bei Charlie Hebdo Anfang 2015 gewesen, sagt Schmidt. Über islamistischen Terror habe man im SPD-Ausschuss für Inneres nicht sprechen können.
Die Kandidatur für die AfD ist offenbar auch eine Art Abrechnung mit Kreuzberg. „Ich habe hier Frauen auf dem Spielplatz erlebt, die mit mir nicht sprechen durften. Kopftücher sind kein Accessoire, sondern damit zeigt der Mann, dass er seine Frau oder Tochter im Griff hat“, sagt sie. Wegen der hohen Mieten lebt sie inzwischen mit ihrer Familie in Berlin-Steglitz, politisch organisiert war sie in der SPD zuletzt in Prenzlauer Berg. Hinzu kommt ein persönliches familiäres Drama um Drogen. Die SPD-Drogenpolitik hält sie für zu lax.
Florian Dörstelmann, bei der Berliner SPD der Vorsitzende des Fachausschusses Inneres, weist die Vorwürfe zurück: „Dass man bei uns nicht über mögliche Probleme der Migration reden könne, ist vollkommen falsch.“ Im Gremium müsse man aber eine große Bandbreite an Themen abdecken und auch juristische Aspekte berücksichtigen. „Sibylle Schmidt war ziemlich fixiert auf das Migrationsthema“, sagt Dörstelmann.
Die SPD-Kultur aus langwieriger Gremienarbeit, festen Tagesordnungen und Sowohl-als-auch-Kompromissen ist nicht jedermanns Sache. Schwer vorstellbar, dass Sybille Schmidt da jemals richtig hineingepasst hat. Beim Treffen sprudeln ihre Erzählungen aus ihr heraus, sprunghaft wechselt sie die Themen. Sie sagt, dass sie in der SPD immer wieder „tolle und intelligente Leute getroffen“ habe. Die hätten sie so lange in der Partei gehalten.
Niedergang der Volkspartei
Sibylle Schmidts kleine Karriere in der SPD erzählt auch etwas über den Personalnotstand der Partei. Die Mitgliederzahl der Gesamtpartei hat sich seit 1990 auf 440.000 mehr als halbiert, aber die kleinteilige und aufwendige Organisationsstruktur ist gleich geblieben. Allein in Berlin müssen Hunderte Posten in diversen Gremien alle zwei Jahre neu besetzt werden. Von den 17.000 Berliner Mitgliedern seien nur rund 10 Prozent bereit, ehrenamtliche Ämter anzunehmen, sagen Funktionäre. Viel Auswahl gibt es also nicht mehr.
Severin Höhmann, der als stellvertretender Vorsitzender mit Sibylle Schmidt im SPD-Ortsverein „Kollwitzplatz“ saß und bei der Wahl im Herbst für ein Direktmandat kandidiert, sagt: „Man ist heute in der Partei schneller mit ehrenamtlichen Funktionen dabei, weil die SPD nicht mehr so viele aktive Mitglieder hat. In der Regel sortiert sich das Personal aber nach einer gewissen Zeit und ab einer bestimmten Ebene.“
Und er übt Kritik an seiner Partei mit Blick auf Sibylle Schmidt: „In der SPD gibt es auf der Funktionärsebene sicherlich viele, für die formale Fragen sehr wichtig sind: Stimmt die Ausgewogenheit bei Personalpaketen, stimmt die Quote. Dabei rückt anfangs vielleicht der Blick in den Hintergrund, wofür die Person inhaltlich steht.“ In seiner Abteilung wurde wegen der Quote händeringend eine Frau für den Vorstand gesucht.
Rätseln in der SPD
Den politischen Wandel von Sibylle Schmidt kann sich Höhmann nicht erklären, genauso wenig wie Angelika Syring, die Landesvorsitzende der Selbständigen-Vereinigung der SPD. „Der Gesinnungswandel von Frau Schmidt ist mir nicht aufgefallen. Sie hat sich nie dazu geäußert, beziehungsweise sie muss ihre wahre Meinung gut verborgen haben“. Syring meint aber aber auch: „Wir sind eine Volkspartei, bei uns kann jede Meinung vertreten werden.“
Syring hatte Sibylle Schmidt zur Beisitzerin im Landesvorstand der Arbeitsgemeinschaft Selbständige gemacht: „Damit sie eingebunden ist und nicht querschießt.“ „Einbinden“ ist bei Parteien ein beliebtes Mittel, um Ruhe herzustellen – man gibt schwierigen Parteimitgliedern Posten, damit sie beschäftigt sind und sich Mehrheitsbeschlüssen beugen müssen. Bei Sibylle Schmidt hat es offensichtlich nicht funktioniert.
Tilman Fichter, SPD-Mitglied, Veteran der 68er-Studentenbewegung und einst führendes Mitglied im Sozialistischen Studentenbund SDS, kennt Sibylle Schmidt gut. Er sieht sie nicht als Migrantenfeindin, sondern erklärt sich ihre Einstellungen durch persönliche Betroffenheit und „politische Ziellosigkeit“. „Ich kenne sie als angenehme und leidenschaftliche Zeitgenossin“, sagt er.
Sie habe einen anderen Zugang zu gesellschaftlichen Problemen als die „politische Klasse der SPD“. „Es wäre sehr bedrohlich, wenn die linken Parteien solche Leute verlieren würden.“
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