Kampnagel-Sommerfestival in Hamburg: Entspannte Ruhe vor dem Trubel
Das Internationale Sommerfestival präsentiert ab Mittwoch drei Wochen lang Tanz, Theater, Kunst und Musik. Die taz war da, bevor der Trubel losgeht.
Dass auf dem Hamburger Kampnagel-Gelände im August das Internationale Sommerfestival stattfinden wird, davon ist Ende Juli dort noch nicht viel zu spüren. Drei Wochen lang präsentiert es jede Menge Tanz und Performances, Theater und Musik, Kunst und Filmen, Installationen, Konzerten, Parties und Literatur- und Theorieveranstaltungen mit Hunderten von Künstler:innen. Noch ist die Stimmung entspannt, auf dem Platz vor den Hallen und im Café sitzen an diesem lauen Nachmittag nur ein paar Grüppchen in der Sonne.
Gerade ist Lucinda Childs aus New York nach Hamburg gekommen. Jetzt sitzt die Tänzerin und Choreografin, die mit ihren postmodernen Arbeiten die Tanzgeschichte seit den 1970ern so maßgeblich geprägt hat, im Schatten eines großen Sonnenschirms an einem Tisch. Sie wirkt entspannt und gut gelaunt, die lange Reise merkt man der 84-Jährigen nicht an.
Childs ist für ein besonderes Projekt nach Hamburg gekommen. Beim Sommerfestival zeigt sie gleich vier Uraufführungen, bei einer von ihnen steht sie selbst mit auf der Bühne. Es sind die ersten neuen Arbeiten, die sie mit ihrer Lucinda Childs Dance Company seit fast zehn Jahren entwickelt hat. Für die vier Stücke, die sie zum Festivalauftakt am Mittwoch zeigt, hat sie dabei mit namhaften Künstler:innen zusammengearbeitet: mit dem Minimal Music-Pionier Philip Glass, mit der isländischen Avantgarde-Komponistin Hildur Guðnadóttir, die 2019 für ihren Soundtrack zur Comicverfilmung „Joker“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, sowie mit dem albanischen Künstler Anri Sala.
Wie gewohnt sind viele der Künstler:innen wieder mehrfach am Festival beteiligt. Das Konzept: Die Tradition der Avantgarde-Kunst mit zeitgenössischem Pop verbinden, um zeitgemäß Kritik zu formulieren. Dahinter steckt ein Verständnis künstlerischer Strategien, die auf flache Hierarchien und intensiven Dialog untereinander setzen. Und so zeigt Anri Sala im Kampnagel-Foyer auch eine großformatige Videoinstallation, seit ein paar Tagen zimmern Handwerker:innen in einer der Hallen dafür die Leinwand. Das Gerüst steht schon, nun kommen noch Platten darauf, erzählt einer von ihnen.
Anri Sala beteiligt sich auch an der gemeinsam mit der Kunsthalle entwickelten Ausstellung „Untranquil Now“. Sie zeigt Videoarbeiten, Installationen und Performances unter anderem von Lucinda Childs und der Choreografin und Tänzerin Trisha Brown. Gemeinsam mit Brown hatte Childs in New York den postmodernen Tanz entwickelt. Browns legendäre Performance „Man Walking Down the Side of a Building“ von 1970 wird am kommenden Samstag und Sonntag jeweils dreimal gezeigt: Um 14 Uhr, um 16 Uhr und um 18 Uhr läuft die kalifornische Vertical Dance Company die gläserne Außenfassade der Galerie der Gegenwart der Kunsthalle hinunter.
Mi, 7.8., bis So, 25.8., Hamburg, Kampnagel; Infos und Programm: kampnagel.de/internationales-sommerfestival
Am Tisch neben Lucinda Childs sitzt die im rumänischen Bukarest geborene Berliner Künstlerin Anca Munteanu Rimnic mit dem Künstlerischen Leiter des Sommerfestivals, András Siebold. Für ihre Arbeit „Rite for Fall“, die sie im Rahmen der „Untranquil Now“-Ausstellung auf der noblen Einkaufsstraße Neuer Wall in der Hamburger Innenstadt zeigen wird, sucht sie noch Performer:innen. In einem leerstehenden ehemaligen Lampengeschäft mit seinen typischen großen Glasscheiben will Rimnic einen Heuhaufen mit einer Rüttelplatte zum Beben bringen. Die Performer:innen will sie damit interagieren lassen, der Sounddesigner Arno Kraehahn entwickelt dazu Klänge.
Einen Performer hat sie heute vielleicht schon gefunden. „Jürgen Wehnert hat auf Kampnagel schon mal drei Stunden lang ein Auto geküsst und hat also die besten Voraussetzungen“, sagt Siebold dazu. Noch isst Wehnert im Restaurant neben dem Eingang, dann will Rimnic ihn fragen.
Den Heuhafen habe sie bereits im Juni auf der Art Basel gezeigt, erzählt sie. Wie genau die Performance in Hamburg aussehen wird, weiß Rimnic noch nicht. „Ich möchte etwas machen, das die Leute, die dort mit Prada-Tüten vorbeilaufen, ein bisschen aus ihrer Shoppingwelt herausreißt.“ Jetzt müsse sie erst mal den Raum sehen, um mit der Entwicklung zu beginnen.
Auch Siebold sieht noch entspannt aus. Gerade ist er leicht erkältet aus Barcelona zurückgekommen, wo er sich Lola Arias' Theaterstück „Los Días Afuera“ angesehen hat. Das Stück der argentinischen Schriftstellerin und aktuellen Ibsen-Preisträgerin ist eine Koproduktion des Sommerfestivals unter anderem mit dem Festival d’Avignon, wo es uraufgeführt wurde. In Form eines Musicals inszeniert Arias gemeinsam mit ehemaligen Gefängnisinsass:innen deren Leben hinter Gittern und die Zeit danach. Parallel dazu drehte Arias mit der Gruppe darüber einen Dokumentarfilm, ebenfalls in Form eines Musicals. Premiere hatte der Film auf der Berlinale.
Aufwendig und nicht unkompliziert sei die Produktion gewesen, erzählt Siebold. Umso beruhigender sei es dann, wenn man sehe, wie gut ein Stück geworden sei und dass alles funktioniere. Arias sei es gelungen, aus ehemaligen Gefängnisinsass:innen echte Schauspielstars zu machen. Nur eine Sorge hat Siebold jetzt noch: In Barcelona habe es nach dem Stück minutenlang Standing Ovations gegeben, hoffentlich sei das Ensemble in Hamburg nicht enttäuscht, falls es nicht ganz so viel Applaus gibt. Das Theaterstück ist von Donnerstag bis Samstag zu sehen, der Film am Sonntag im Alabama-Kino auf dem Kampnagel-Gelände.
Im Probenraum neben dem noch ganz ungemähten frühlingswilden Garten hinter den Hallen, in dem wieder der Festival-„Avantgarden“ entstehen wird, wartet die Berliner Rapperin, Choreografin und Tanzlehrerin Money Mami auf die Hamburger R&B-Musikerin Ace Tee, die auf dem Festival ihre erste Performance-Arbeit zeigen will. Money Mami, die schon mit der Rapperin Shirin David getanzt und im vergangenen Jahr ihren ersten eigenen Hip-Hop-Song veröffentlicht hat, choreografiert Ace Tees aktuelles Album. Siebold erkundigt sich, wie es läuft. Money Mami ist gut gelaunt und zuversichtlich: Sie hat einen Hund dabei, den sie zum „Therapiehund“ ausbilden wolle. Das helfe auch beim Tanzenlernen, sagt sie.
Dann muss Siebold wieder ins Büro und sich noch auf die Suche nach einer zweiten Performerin für Anca Rimnic machen. Bis es am 7. August unter anderem mit Lucinda Childs, der Theatergruppe Nesterval und einem Konzert der kanadischen Folk-Band Timber Timbre losgeht, ist noch einiges zu tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“