Isländische Cellistin über Filmmusik: „Eigentlich bin ich Performerin“

Die isländische Cellistin Guðnadóttir ist für ihren Soundtrack zu „Joker“ für den Oscar nominiert. Nun tritt sie beim Berliner CTM Festival auf.

Die isländische Cellistin Hildur Guðnadóttir

Die isländische Cellistin Hildur Guðnadóttir tritt beim CTM-Festival in Berlin auf Foto: Timothée Lambrecq

taz: Frau Guðnadóttir, Sie haben sowohl für die Musik zur TV-Serie „Chernobyl“ als auch zu „Joker“ Preise gewonnen, die Musik zu „Joker“ ist sogar für einen Oscar nominiert. Was bedeutet es für Sie, Filmmusik zu kreieren?

Hildur Guðnadóttir: Filmmusik ermöglicht es einem, auf eine völlig andere Art und Weise zu arbeiten, die man vorher nicht in Erwägung gezogen hätte. Wie bei „Chernobyl“. Ohne „Chernobyl“ hätte ich wahrscheinlich nie die Möglichkeit bekommen, in ein Kraftwerk zu gehen, wir haben dafür ein Schwesterkraftwerk von Tschernobyl in Litauen besucht – ein Atomkraftwerk gleicher Bauart. Filmmusik öffnet die Türen für eine Menge musikalischer Experimente. Mich nur darauf zu konzentrieren, wäre mir aber zu wenig. Die vergangenen Jahre waren sehr filmintensiv, davon möchte ich ein bisschen wegkommen. Eigentlich bin ich Performerin. Es ist mir sehr wichtig, live aufzutreten. Dafür möchte ich mir wieder mehr Zeit nehmen und ich will ein neues Soloalbum aufnehmen

Sie werden nun beim Berliner Festival CTM die Musik zu „Chernobyl“ aufführen und damit einen besonderen Ort bespielen: die Betonhalle unter einem ehemaligen Krematorium, dem Silent Green. Inwiefern passt das zu dem, was Sie vorhaben?

Das Konzept der Liveshow ist stark mit der TV-Serie verbunden, denn wir haben den Sound für die Serie ja auch schon an einem sehr speziellen Ort aufgenommen, im Kraftwerk. Mir ist es deshalb wichtig, eine Performance zu machen, die sehr immersiv ist, die eine Soundwelt erschafft, eine ganzheitliche Erfahrung.

Wie meinen Sie das?

Die Performance in Berlin ist Teil einer Reihe, die in verschiedenen Städten stattfindet, meist in Räumen mit industrieller Vergangenheit. Wir arbeiten mit einem 10-Kanal-Surround-System, das an jeden Ort angepasst werden muss. Auch das Licht muss immer neu konzipiert werden. Jeder Ort wurde sorgfältig ausgewählt. Es ist fast so, als ob es sich dabei um einen weiteren Musiker handelt. Wir hatten schon eine Performance in Krakau in einer alten Fabrik, eine sehr physische und immersive Erfahrung. Die Betonhalle in Berlin ist stark mit dem Tod und mit Verlust verknüpft. Ich bin gespannt, wie das in die Performance einfließen wird.

Sie haben es bereits erwähnt: Die Musik für „Chernobyl“ haben Sie aus Fieldrecordings komponiert, die Sie in einem litauischen Kraftwerk aufgenommen haben. Wie kam es dazu?

Ich wollte möglichst faktentreue Musik machen, keine fiktionale. Es wäre so einfach, Musik zu einem Ereignis wie der Katastrophe von Tschernobyl zu überdramatisieren, mit spannungsgeladenen Schlagzeugeinlagen oder dramatischen Streichern. Stattdessen wollte ich, dass die Musik den Ort und die Strahlung verkörpert. Tschernobyl und der Super-GAU spielen eine so große Rolle in der Geschichte; die Strahlung ist einer der wichtigsten „Charaktere“. Man kann die Strahlung nicht filmen, man kann sie nicht sehen, aber: Man kann sie in der Serie hören.

Die Cellistin und Komponistin (geb. 1982 in Reykjavík) kam 2003 zum Studium an der Universität der Künste nach Berlin. Sie arbeitet sowohl solo als auch mit Bands wie múm und Sunn O))). Sie komponierte u. a. die Musik für die Serie „Chernobyl“ und den Film „Joker“. Am 29. und 30.01. (je 20 Uhr) tritt sie beim Berliner CTM Festival auf.

Wie haben Sie sich dem Ort angenähert? In Tschernobyl selbst waren Sie ja nicht.

Es wäre wegen der Strahlung und den ganzen Restriktionen zu kompliziert gewesen, in Tschernobyl aufzunehmen. Stattdessen waren wir in dem litauischen Kraftwerk, in dem auch die Serie gefilmt wurde. Es stammt aus der gleichen Zeit. Wenn Tschernobyl noch stehen würde, sähe es genau so aus.

Ist dieses Kraftwerk noch aktiv?

Nein. Der Meiler ist außer Betrieb, aber es dauert sehr lange, ihn tatsächlich stillzulegen. Es arbeiten immer noch viele Leute dort, die nur damit beschäftigt sind, alles auseinanderzunehmen. Es war einfacher, Zugang zu dem Ort zu bekommen, aber es gibt noch immer strenge Sicherheitsvorkehrungen.

Wie hat es sich angefühlt, dort zu sein?

Tschernobyl hatte massive Auswirkungen auf die ganze Welt. Dorthin zu gehen, mit dem Wissen über die Geschichte, dieser tiefer nachzuspüren, auch anhand des großartigen Drehbuchs, war überwältigend. Allein schon die Dimensionen! Zu sehen, wie unglaublich lang diese Korridore sind und wie riesig die Turbinenhalle, hat mir sehr geholfen zu verstehen, was diese Leute durchgemacht haben, als sie herausgefunden haben, was los war. Mir vorzustellen, wie sie auf die Nachricht reagieren mussten, wie sie drei Kilometer die Korridore entlanggerannt sind, hat mich tief beeindruckt.

Wie haben Sie die Aufnahmen verarbeitet? Wie entstand daraus die Komposition?

Wir haben fast zehn Stunden Aufnahmematerial gesammelt. Ich musste jede einzelne Minute durchgehen und musikalische Rohmasse herauspicken. Ich habe mir alles intensiv angehört und dann notiert: Ungefähr bei einer Stunde, 35 Minuten, 20 Sekunden ist ein kleines Düdüdü. Das habe ich dann herausgelöst und gesäubert. Manches musste ich strecken, dehnen oder multiplizieren. Oder ich musste die Frequenz drosseln, damit es überhaupt hörbar wurde. Im nächsten Schritt habe ich die Elemente auf die Bilder angepasst. Es war ein sehr aufwändiger Prozess, wie eine Schatzsuche.

Hat Ihnen der Regisseur freie Hand gelassen?

Der Regisseur kommt aus Schweden, das war für mich ein großes Glück. Menschen aus nordischen Ländern haben einen ähnlichen Zugang zum Storytelling. Wir neigen dazu, dunkle, düstere Geschichten zu erzählen.

Weil in nordischen Ländern das Licht fehlt?

Wahrscheinlich. Es vereinfacht den Dialog, wenn man aus kulturell ähnlichen Regionen kommt. US-Ame­ri­ka­ne­r:in­nen haben zum Beispiel oft eine sehr andere Vorstellung, was den Einsatz von Filmmusik betrifft. Sie neigen dazu, alles mit einer konstanten musikalischen Narration zu überfrachten. Davon bin ich kein großer Fan. Wenn man über alles Musik legt, fehlt der nötige Raum, an den entscheidenden Momenten, mit der Musik etwas aussagen zu können.

Ist das eine Anspielung auf Ihre Arbeit an der Filmmusik für „Joker“? Das war schließlich eine reine US-Produktion.

Am Anfang sah es so aus, als ob auch bei „Joker“ in jeder einzelnen Minute Musik zu hören sein sollte. Dann haben wir es aber geschafft, das auseinanderzuziehen und vieles davon wegzunehmen. Bei „Joker“ war das kein Problem. Wenn man sich aber herkömmliche Comicbuchverfilmungen, Superheldenfilme oder TV-Serien ansieht, ist in der Regel immer Musik zu hören.

Woran liegt das? Misstrauen die Regisseure der visuellen Kraft ihrer eigenen Filme?

Das könnte ein Teil der Erklärung sein. Es liegt aber sicher auch daran, wie heute Filme entstehen. Mittlerweile ist es die Norm, dass Musik als letztes Element hinzukommt. Heute Filme zu machen bedeutet meist viel Postproduktion, CGI (Computer Generated Imagery, d. Red.), Aftereffects. Auch Musik wird meist im Rahmen der Postproduktion gemacht. Viel Zeit bleibt dann nicht. Sowohl für „Chernobyl“ als auch für „Joker“ hatten wir sehr viel Zeit. An der Musik für „Joker“ habe ich fast anderthalb Jahre gearbeitet.

Wow.

Ich habe Musik geschrieben, noch bevor der Dreh begonnen hat. Sie haben die Musik am Set benutzt. So konnte sie Einfluss nehmen auf das Spiel und auf die Kinematografie. Alle Elemente konnten gemeinsam wachsen. Das dauert natürlich länger und ist mehr Arbeit, aber auch kreativ viel erfüllender. Ich mag es nicht, an etwas zu arbeiten, wenn ich mich nicht ganz hineinstürzen kann. Ich hatte viel Glück, dass beide Projekte mir das erlaubt haben.

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