Kampf ums Gipfelkreuz: Über allen Gipfeln ist Unruh
Ein Berg hatte binnen sechs Wochen drei Gipfelkreuze. Das erste wurde gefällt, das zweite von „Identitären“ inszeniert. Das dritte soll Frieden bringen.
Fünfzig Hostien will der Bruder später ausgegeben haben. Die Tölzer Stadtkapelle spielt mit eiskalten Fingern das Stück „Alles meinem Gott“. Die Männer nehmen die Hüte ab. „Wir schaffen das!“, der kräftige Franziskaner blickt in die Runde, dann in den Himmel. „Das Christentum ist eine integrierende Religion. Wir lassen niemanden vor den Toren stehen, der Hilfe braucht“, so der Bruder. „Kyrie eleison!“, antworten die Bergler auf Griechisch. Bruder Thomas wird später zufrieden über den steilen Abhang hinabschreiten.
Jetzt kann endlich wieder Ruhe einkehren auf dem 2.101 Meter hohen Gipfel im Karwendelgebirge mit seinem neuen Kreuz aus massiver Eiche. Am letzten Augustwochenende war das alte von einem Frevler zerstört worden. Spät in der Nacht muss er aufgestiegen sein. Die steilen Passagen ganz oben hat er nach etwa zwei Stunden erreicht. Nun wird der Steig alpin: Nackter Fels und Geröll wechseln sich ab. Unter dem mächtigen Gipfelkreuz, 250 Kilogramm schwer, hat er sich vermutlich noch einmal ausgeruht, Kräfte sammelnd für seine Tat.
Was der Unbekannte nicht wusste: In jener Nacht hatten sich auch zwei junge Frauen unterhalb des Gipfels ein schönes Plätzchen gesucht. Biwakieren wollten sie dort, friedlich unter Sternen schlummern. Doch stattdessen wurden sie urplötzlich von schauerlichen Geräuschen geweckt: Zwei Stunden lang ein dumpfes Hacken, weit über der Baumgrenze. Die beiden Frauen ahnten, dass es der „Kreuzhacker“ sein könnte, der unlängst schon zwei Gipfelkreuze umgelegt hatte. Eine Sennerin hatte ihn Wochen zuvor beobachtet, am Prinzkopf, einem Nachbargipfel. „Wie ein wildes Tier“ sei der Unbekannte zugange gewesen.
Ein schwer angeschlagenes, christliches Symbol
Die Freundinnen harrten aus. Am Morgen, gegen halb sieben, wagen sie sich schließlich auf den Gipfel. Tatsächlich, er war es, der Kreuzhacker! Schwer angeschlagen hängt das christliche Symbol in seiner Verankerung.
Der Täter ist derweil längst zurück im Tal. Bald wird man ihn suchen. Denn von den Almen verbreiten sich die Geschichten schnell ins Tal und in die Stadt – Bad Tölz. Dort ist Walter Mayer seit 40 Jahren im Dienst der Polizei, der stellvertretende Dienststellenleiter. „Eine sonderbare Sache“, findet er. „Was will uns der Mann damit sagen?“
Man könnte die Geschichte damit auf sich beruhen lassen. Man könnte sie abtun als ein Paradestück bayerischen Volkstheaters, gäbe es nicht einen ernsten Hintergrund. Nämlich die Auseinandersetzung darüber, was Heimat ist und wer die Deutungshoheit über diesen schwierigen Begriff erlangt: die gutmeinenden Traditionalisten und Patrioten, die zwar auf „Tschüss-freien Zonen“ bestehen, ansonsten aber nach der bayerischen Maxime des Leben-und-leben-Lassens denken und handeln. Oder aber die Jungen und zugleich Ewiggestrigen, die unter dem Feigenblättchen der Heimatliebe düsteres Gedankengut verbreiten wollen.
Ganghofers Revier
Der Tatort, der Schafreiter, ist ein breitschultriger Zweitausender. Stolz und solitär ruht er im Vorkarwendel, 80 Kilometer von München entfernt. Ein Bild von einem Berg, wie aus einem Heimatfilm: würzig duftendes Kieferngewächs, imposante Wasserfälle, Almvieh, Gämsen und steilen Fels bietet er auf. Der legendäre Ludwig Ganghofer ließ seinen Roman „Jäger vom Fall“ in dieser bayerischen Urlandschaft spielen. Dabei ist das Gelände so wild, dass sich noch immer Bergsteiger auf ihm verlaufen.
Wer könnte der „Kreuzhacker“ sein? Was ist sein Motiv? Polizeidienststellenleiter Mayer hat sich kundig gemacht. Es gebe die Schweizer Freidenkerbewegung, sagt er. Deren Mitglieder seien der Meinung, dass es sich bei Bergen um öffentlichen Raum handle und keine Kreuze dort hingehörten. In den lokalen Medien kommt derweil Reinhold Messner zu Wort, weil der Südtiroler immer zu Wort kommt, wenn ein Berg im Spiel ist. Auch er findet Gipfelkreuze unnötig. Die bestehenden sollen aber ruhig bleiben dürfen.
Eine Woche nach der Tat – die Kirche müht sich gerade mit Reinhold Messners Aussage ab und die Tölzer Polizeibeamten beschäftigen sich mit den Medien – stemmen plötzlich stramme Burschen aus Bayern und Tirol ein neues Kreuz auf den Schafreiter. Zu kurzen Lederhosen und Hüten tragen sie lässige T-Shirts, sagen anständig „Grüß Gott!“ und seien auch sonst recht manierlich gewesen, erzählen die Almhirten später.
„Identitäre“ okkupieren den Gipfel
Ihr Kreuz ist nicht allzu schwer, sodass es fotogen geschultert werden kann. Überhaupt entstehen viele schöne Bilder von jungen Männern mit Bergen im Hintergrund. Und auch von ihrem Kreuz, wie es recht schräg aufgestellt wird, gesäumt von einer bayerischen und einer Tiroler Fahne, sowie dem anschließenden fröhlichen Beisammensein mit Bier und Schnaps.
Ein Unbekannter, der ein Kreuz fällt, und Unbekannte, die bald darauf ein neues aufstellen. Zumindest ist das Aufstellen von Kreuzen keine Straftat, stellt Polizist Walter Mayer in Bad Tölz fest. Wer aber diejenigen gewesen sind, das wüssten die Polizei und auch der Deutsche Alpenverein schon gerne. Des Rätsels Lösung lässt nicht lange auf sich warten. Stolz verkündet die „Identitäre Bewegung“, dass sie sich der Sache angenommen habe; betrübt ob der Vorstellung, auf dem Gipfel kein Kreuz zu wissen. Für ihre Tat erhalten sie Lob von den Einheimischen. „Saubere Burschen“ seien das, so lautet der Tenor in Leserbriefen des Tölzer Kuriers.
„Fernab der Zivilisation können wir uns auf die wesentlichen Inhalte unseres Kampfes konzentrieren“, postuliert die Gruppe auf ihrer Facebookseite. „Die natürliche Schönheit unserer Heimat ist die Quelle unserer Kraft und das Band unserer Gemeinschaft.“ „Volltreffer in der Kommunikation“, kommentiert die Tölzer Polizei. Die ist aber für das „identitäre Gipfelkreuz“ nicht weiter zuständig. Sondern die Kripo, denn die „Identitären“ werden vom Verfassungsschutz beobachtet.
Ein rotwangiges junges Mädel mit Zopf
In einem Videopost der „Identitären Bayern“ proklamiert ein rotwangiges junges Mädel mit Zopf: „Der Staat greift nach den Seelen unserer Kinder.“ Ein weiteres Video zeigt die „Sektion Jahn“ beim Wehrsport: Junge Männer mit Lodenhosen in Begleitung eines Jagdhundes, die sich im tannengrünen Walde ertüchtigen. Man wünsche sich „opferbereite, junge Aktivisten, die bereit sind, ihre Heimat zu verteidigen“, heißt es.
Tapfer pariert ein Redakteur des Tölzer Kuriers, „es sei nicht egal, wer ein Kreuz auf einem Gipfel aufstellt“. Daraufhin erhält er einen Korb mit Fressalien in die Redaktion geliefert, der sofort gespendet wurde. Man sei eben so kreativ „wie Greenpeace“, sagt einer ihrer Sprecher, mit schwarzer Brille und Wiener Akzent.
Unterdessen geht in München die fünfte Jahreszeit zu Ende. Madln und Burschen brezeln sich für den letzten Samstag auf dem Oktoberfest gehörig auf. Dirndl, Lederhose und Gründerzeitfrisuren gehören wie selbstverständlich dazu. Bäuerlich gibt sich der Banker, fesch wie ein Jäger der Werber, lieblich die Controllerin.
Das dritte Kreuz
Zur selben Zeit ziehen die Bergfreunde der Tölzer Sektion des Deutschen Alpenvereins vergnügt Richtung Schafreiter, mit dabei ein neues Kreuz, ihr Kreuz, 180 Kilogramm schwer. Das „identitäre“ Ersatzkreuz soll wieder verschwinden. Die Zimmerleute tragen ihre Arbeitshosen, und wer einen Hut hat, setzt ihn auf. Ohne großes Aufhebens hat der Verein gut gelagertes Eichenholz aufgetrieben, welches gespendet wurde. Berufsschüler haben daraus ein Kreuz gefertigt, und das wird jetzt aufgestellt.
Vorsorglich hat der ehrenamtliche Wegebauer des Alpenvereins noch einmal über die Kante gehobelt, die Träger des neuen Gipfelkreuzes sollen sich nicht die Haut aufreißen. Paul Schenk, der heitere Vorsitzende des Alpenvereins Tölz, der im Hauptberuf bei der Bergwacht arbeitet, freut sich über die mitgebrachte Brotzeit der Damen. „Wenn der Kreuzhacker sieht, wie wir uns hier plagen, wird er sicher nicht noch mal zuschlagen, das wird er uns nicht antun wollen“, glaubt Schenk.
Doch vielleicht wetzt irgendwo da draußen schon wieder jemand seine Axt.
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