Kampf um soziale Gerechtigkeit in Chile: Demos zum 2. Jahrestag der Proteste
Die vor zwei Jahren geforderte Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist gestartet. Die Proteste gegen Piñera dauern an.
In Sprechchören forderten sie unter anderem die Absetzung von Präsident Sebastián Piñera, der für die damaligen brutalen Übergriffe der uniformierten Einsatzkräfte mitverantwortlich gemacht wird.
Mehrfach kam es auch diesmal wieder zu Rangeleien zwischen Protestierenden und uniformierten Einsatzkräften. Einige Geschäfte wurden geplündert, vereinzelt Barrikaden errichtet. Die befürchteten großen Auseinandersetzungen blieben jedoch aus.
Auslöser der Proteste am 18. Oktober 2019 war eine Anhebung der Preise für U-Bahn-Tickets, die sich rasch zu einer Revolte gegen die soziale Ungleichheit entwickelten. Zugleich wurde die Forderung nach einer neuen Verfassung immer lauter.
Präsident Piñera reagierte mit brutaler Härte: Er verhängte den Ausnahmezustand und schickte Polizei und Militär auf die Straßen. Mindestens 34 Menschen kamen ums Leben. Die Zahl der Verletzten geht in die Tausende. Viele erlitten schwere Kopf- und Augenverletzungen, da die Uniformierten mit Gummigeschossen gezielt in die Gesichter der Protestierenden schossen.
Entsprechend groß war auch jetzt die Furcht vor neuen Übergriffen, zumal am Montag 5.000 Uniformierte allein in der Hauptstadt im Einsatz waren. Vorsorglich war im weiten Umkreis der Plaza Italia alles entfernt worden, was potentiell zum Barrikadenbau hätte verwendet werden können.
Geschäftsleute wurden aufgefordert, spätestens am Nachmittag ihre Läden zu schließen. „Schützen wir das Zusammenleben in unserer Stadt, unsere Nachbarschaften, unsere öffentlichen Räume und den lokalen Handel, der vielen Familien Arbeit und Brot bietet“, appellierte die kommunistische Bürgermeisterin Irací Hassler, die dem Hauptstadtbezirk seit Juni vorsteht.
Während in Chile nach wie vor eine tiefe soziale Ungleichheit herrscht, wurde die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung erfüllt. Die hatte sich Anfang Juli konstituiert und just am Montag mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung begonnen.
„An diesem 18. Oktober beginnt die Debatte über die neue Verfassung. An diesem Tag werden die Kommissionen eingesetzt, die den Verfassungstext schreiben werden“, sagte tags zuvor die Präsidentin des Verfassungskonvents, die Mapuche Elisa Loncon. Sie würdigte die Versammlung als einen immensen Erfolg der sozialen Mobilisierung.
Noch immer gilt in Chile die Verfassung der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) aus dem Jahr 1980. Sie schreibt de facto den Neoliberalismus als alleinige Wirtschaftsdoktrin fest. Deshalb sind auch knapp über 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur noch immer nahezu alle öffentlichen Dienstleistungen in privater Hand, darunter die Bereiche Bildung, Gesundheit, Rentenversicherung und Wasserversorgung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag