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Kampf gegen DiskriminierungDie neue Unerbittlichkeit

Der Kampf gegen Diskriminierung hat zwei Gesichter: notwendigen Widerstand und überschießenden Exzess. Das macht ihn zutiefst ambivalent.

Raleigh im Juni: Demonstranten ziehen eine Figur von einem Konföderierten-Denkmal über die Straße Foto: Robert Willett/dpa

D ie Intensivierung des Kampfes gegen Diskriminierung, das Ringen um Political Correctness und Identitätspolitik – all diese Aufladungen, die wir derzeit beobachten, haben die Tendenz, sich auf eine Frage zuzuspitzen: Bist du dafür oder dagegen?

Aber diese Art der Fragestellung ist irreführend. Denn sie verdeckt, dass es zwei Kämpfe, zwei Gesichter dieser Auseinandersetzung gibt. Das eine ist das Gesicht des Kampfes gegen Ungerechtigkeit. Zu diesem Gesicht gehören etwa die derzeitigen US-Demonstrationen, die an der Polizeigewalt den grassierenden Rassismus aufzeigen. Und dazu gehört auch das Echo dieses Aufschreis, das in Europa nachhallt als neues Bewusstsein der eigenen verdrängten Kolonialgeschichte.

Zugleich gibt es das andere Gesicht dieses Kampfes. Jenes, wo es nicht um Rechte, sondern um Meinungen geht. Hier ufert der Einspruch aus. Hier bekommt er dogmatische, ja fanatische Züge. Das Eintreten gegen Rassismus, gegen Diskriminierung ist also gespalten. Man könnte auch sagen: Es ist zutiefst ambivalent. Diese Ambivalenz, diese zwei Gesichter treten auch noch gleichzeitig auf. Ja, sie gehen teilweise sogar ineinander über. Und oft ist es schwierig, die Grenze zu ziehen. Und dennoch.

Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Kampf gegen manifesten Rassismus, Diskriminierung, Gewalt – und jenen gegen einen unterstellten. Man ist fast versucht zu sagen: Es gibt einen rationalen und einen irrationalen Kampf. Das ist der Unterschied zwischen notwendigem Widerstand und überschießendem Exzess.

Wo der Verdacht ausreicht

Derzeit präsentieren sich beide Varianten als Herabstoßen alter Autoritäten von ihrem Sockel – metaphorisch und wörtlich. Es ist wichtig, hier festzuhalten: Der Unterschied liegt nicht darin, ob man gegen große Autoritäten oder gegen kleine Wörter – wie etwa das N-Wort – vorgeht. Auch in Wörtern, Abbildern, Filmen finden sich sedimentierte Hierarchien und Abwertungen. Sie dienen den kleinen diskriminierenden Alltagsentladungen.

Der Exzess aber liegt woanders. Er setzt dort ein, wo ein Verdacht ausreicht, wo Meinungen geahndet werden. Ahnden – das ist das entscheidende Stichwort. Der wahre Exzess beginnt dort, wo an die Stelle der alten Autoritäten nicht einfach Freiheit, Gleichberechtigung, Inklusion tritt – sondern eine neue Autorität. Eine, die Vergehen ahndet. Diese neue Autorität ist nicht personalisiert. Sie hat keinen Sprecher. Keine Adresse.

Hier wird die Grenzziehung zusätzlich erschwert. Denn beide Formen von Antirassismus funktionieren über dieselbe Art von Politik: eine deregulierte Politik. Dereguliert heißt, sie tritt plötzlich auf. Unerwartet. Dereguliert heißt, dass es keine institutionelle Organisation gibt: Die politischen Energien treten unkanalisiert und eruptiv auf. Das macht ihre Vehemenz aus.

Streng. Strafend. Unnachgiebig. Das neue Über-Ich

Dereguliert heißt auch, dass es keinen vorexistierenden politischen Akteur gibt. Es sind Einzelne, die sich zu Netzwerken formieren, zu Gruppen, zu Massen, zu einem Hashtag. Diese Hashtag-Politik hat keine geregelten Formen der Konfliktaustragung. Keine vorgegeben Orte der Auseinandersetzung. Dort aber, wo der Exzess beginnt, dort kippt sie: von einer heterogenen, dezentralen, führerlosen Bewegung in ihr Gegenteil: in die Implementierung eines neuen gesellschaftlichen Über-Ichs.

Auch Kulturen haben, so Freud, ein solches Über-Ich. Das ist jene Instanz, die genau das leistet, was der Exzess an Political Correctness betreibt: Beobachtung, Kontrolle, Urteil, schlechtes Gewissen, Tabus, Ahndung der Abweichung vom Ideal. Streng. Strafend. Unnachgiebig. Mit einer Tendenz zum Ausufern. Es war ein schönes Stück – gesellschaftlicher, kultureller, politischer – Arbeit, das alte Über-Ich mit seinen Normierungen und Vorschriften abzubauen.

Umso erstaunlicher ist das Aufrichten einer neuen strafenden Instanz. Im Exzess zeigt sich das wilde Begehren, die Sehnsucht nach einer neuen Unerbittlichkeit. Hier kippt die liberale Freiheit und offenbart ihre Kehrseite: ein neues kollektives Über-Ich.

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7 Kommentare

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  • Wie wäre es, sich schlicht auf gegenseitiges Wohlwollen, etwas Menschlichkeit, Großzügigkeit und Toleranz zu einigen? Man braucht nicht immer ein und derselben Meinung zu sein. Das wäre sogar langweilig. Ein simples "leben und leben lassen" würde manchmal schon genügen...

    Maximalforderungen (von welcher Seite auch immer) haben dem Miteinander jedenfalls noch nie gut getan.

  • Ich bin absolut einer Meinung mit der Autorin, einerseits macht der Kampf gegen Diskriminierung gesellschaftliche Ungerechtigkeit und Vorurteile sichtbar und sie können so reflektiert werden. Das ist gut.

    Andererseits wird leider oft eine zu einseitige Täter-Opfer Einteilung vorgenommen und nicht angemessen differenziert. Dadurch ergeben sich dann wieder neue Vorurteile und eine Diskriminierung der Gegenseite beginnt.

  • finde die idee sehr gut formuliert und im alltag praktisch anwendbar - sichtbar. meine frage ist, ob sich die beiden positionen überhaupt groß unterscheiden - also auch vom exzesshaften. ich glaube nicht - wenn sie recht haben. und ich glaube, dass haben sie. wir erleben schlicht die zweite seite einer münze.

  • Es kommt darauf an, wie wir den Begriff der Freiheit definieren. Libertäre sehen darin das Recht, zu tun, was immer ihnen in den Sinn kommt. Ohne Rücksicht auf Konsequenzen.

    Bei Kant ist Freiheit hingegen gar nicht ohne Regeln denkbar. Nur dass halt die Vernunft die Regeln selbst bestimmt, nicht irgendwelche Über-Ichs, Traditionen, konservative „Familienwerte“ oder was weiß ich. Der kategorische Imperativ wird hier zu einer Verfassung, nach der wir die Regeln der Moral heute selbst bestimmen! Darin liegt unsere Autonomie als Menschen.

    Erst wenn wir den kategorischen Imperativ beachten, also alle (!) Menschen als Selbstzweck betrachten, werden wir wirklich frei. Denn dann bestimmt nicht mehr die Meinung des Chefs oder Familienpatriarchen, was Sache ist; dann gibt es zu deren Position auf einmal ein echtes Gegengewicht.



    Quelle: Tim Henning, Kants Ethik, Reclam Verlag, ca. 6 Euro

    Ach ja übrigens: Es gehört zur Natur von Idealen, dass sie der gelebten Realität widersprechen. Ihr Ziel ist nicht, diese wiederzugeben, sondern über sie hinauszuweisen. Ein Ziel vorzugeben, auch wenn wir es nie perfekt erreichen werden. Ideale sind wie der Horizont: Wir können uns auf sie zubewegen. Dort ankommen werden wir nie.



    Quelle: Susan Neiman, Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten

    Als Weiße müssen wir im Blick behalten, dass privilegierte Gruppen sich generell schwer damit tun, Mitgliedern weniger privilegierter Gruppen ihre Sensibilität zuzugestehen. Darüber klagen nicht nur Schwarze. Auch deutsche Juden müssen sich von ihren nicht-jüdischen Freunden hier anhören, dass sie sich doch ein dickeres Fell zulegen sollen, wenn sie sich über alltäglichen Antisemitismus beklagen. www.zeit.de/2019/4...nd/komplettansicht

    Das geht so nicht. Zumindest dann nicht, wenn alle Menschen Selbstzweck sein sollen.

  • "Auch Kulturen haben, so Freud, ein solches Über-Ich." - Klares Nein! Es gibt Scham- und Schuldkulturen (bitte Suchmaschine anwerfen). Schuldkultur bleibt die Ausnahme.

    • @Mzungu:

      Schuldkultur bleibt die Ausnahme von was?

      Ich denke sowohl Scham- als auch Schuldkultur haben eine Art Über-Ich, es funktioniert nur anders, in Schuldkulturen fühlt man sich schuldig in Schamkulturen schämt man sich...

  • Ist das letzlich nicht immer so, wenn gesellschaftlicher Status Quo verschoben wird? Müssen wir das nicht als Teil des Prozesses einerseits akzeptieren, andererseits immer wieder kritisch hinterfragen?

    Nehmen wir #metoo, z.B.

    Wie oft wurde es als Pranger angeprangert? Manchmal dürfte es auch als solcher (miss?) braucht worden sein. Dennoch war das wichtigste daran (wie der Hashtag tatsächlich schön ausdrückt!) das Bewusstsein, vor allem bei Frauen zu wecken: "Ja, ihr ist es auch so ergangen. Und sie hält nicht mehr den Mund". Also der Kampf gegen das verinnerlichte Herrschaftsverhältnis, d.h. Klappe halten, niedlich sein, lächeln. "Sei doch froh, dass sich der reiche, alte Sack für Dich interessiert". "Hab' Dich nicht so". Und so weiter.

    In diesem Sinne finde ich, war #meetoo tatsächlich sehr erfolgreich. Dass es dabei ein paar alte Säcke für weit zurückliegende Gräuel vom Sockel haut -- nicht so wichtig, aber ohne wäre es wahrscheinlich nicht gegangen.

    Mit der Grauzone muss mensch leben, denke ich. Wie bei #meetoo. Wie war die "Übersetzung" ins Französische? #balancetonporc (und auch in der praktischen Umsetzung [1]) viel mehr auf die "Bestrafung" der Täter aus. Einerseits nachvollziehbar, andererseits kann das vom eigentlichen gesellschaftlichen Wandel ab, das solche Bewegungen herbeiführen können.

    Und dann gibt es auch noch die Gegenbewegungen ("backlashes"), die versuchen, diesen Wandel zu behindern und alles tun werden, das ganze als "Hexenjagd" u. dgl. zu diffamieren (und in dieser Grauzone auch viele Anker finden).

    [1] fr.wikipedia.org/w...ement_MeToo#France