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Kammerspiele nach CoronaÄchzen unter der Stofffülle

Die Münchner Kammerspiele suchen die Reibung: mit postkolonialen, feministischen und deutschlandkritischen Themen.

Szene aus „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ an den Münchner Kammerspielen Foto: Thomas Aurin

Auf der Pressekonferenz zur kommenden Spielzeit 2021/22 präsentieren sich die Münchner Kammerspiele, als müssten sie die Stadt im Alleingang mit Kultur überziehen und dazu noch mit der Welt vernetzen. Neben etlichen Premie­ren – nach wie vor das Stadttheater-Kerngeschäft – schaut man voraus auf Konzert- und Diskursformate, vielgliedrige kulturelle „Forschungs“- und Bildungsoffensiven und „Sisterhoods“ mit Kiew, Warschau und Lomé.

Das Full-Service-Programm von Barbara Mundel, deren Intendanz im Herbst 2020 inklusiv, machtsensibel und von Beginn an coronagebeutelt gestartet war, versucht das internationale und freieszeneaffine Erbe ihres zuletzt extrem erfolgreichen Vorgängers Matthias Lilienthal mit dem eigenen, in Freiburg etablierten Theater für die Stadt zu fusionieren. Die Erfahrung der letzten Monate, die den Theatern ihren Bedeutungsverlust verdeutlicht und ihnen zugleich neue sozialpolitische Handlungsfelder untergeschoben hat, hat Mundel in ihren Ausweitungstendenzen nur bestärkt: „Wir können es uns nicht erlauben, unter uns zu bleiben“, sagt sie.

Das Projekt zum Statement wurde an jenem Gewitterabend nachgeholt, an dem die deutsche Nationalmannschaft aus der EM stolperte: „What is the City but the People?“ war ein Schaulaufen von 150 Mitgliedern der Münchner Stadtgesellschaft, die auf dem zentralen Odeonsplatz ihre kleinen und großen Geschichten, Träume und Unterschiede feierten.

Die Stadtraum-Performance nach einer Idee des britischen Konzeptkünstlers Jeremy Deller von 2017 wurde zwar auch schon anderswo umgesetzt, wirkt aber wie der eine noch fehlende Pfeiler des zum Spielzeitauftakt im Oktober 2020 eingeschlagenen Fundaments. Nur drei Wochen lang hatten damals inhaltlich entschiedene und ästhetisch durchwachsene Produktionen unmissverständlich klargemacht, dass die Neuen in München künftig (tänzerische) Körperlichkeit, Antirassismus, Feminismus und kritische Stadtgeschichte großschreiben würden.

Die Wirklichkeit schlug zurück

Dann verkehrte sich im Spielzeitmotto „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“ das Objekt zum Subjekt und die Wirklichkeit ließ das Theater nicht in Ruhe. Im erneuten Lockdown verläpperten sich die Bemühungen im Hause Mundel im Soziopolitischen; kleine Gesten wie die Webserie „Dr. Berg“ des mit dem Downsyndrom geborenen Ensemblemitglieds Fabian Moraw fanden große Schaufenster und authentische Gesten Eingang in kleine Begegnungsformate: So konnte man sich etwa im minutenkurzen Eins-zu-eins echte Tränen von Wiebke Puls abholen.

Das Rebooting allerdings hat dem Haus gutgetan, das mit einer irren Spielfreude aus der Zwangspause kam (und noch bis 30. Juli spielt). Zwar ächzen fast alle neuen Premieren unter der Stofffülle, die sich im Falle von „Who Cares“ (über die Zukunft der Pflege), „Bayerische Sufragetten“ (über die Geschichte der Münchner Frauenbewegung) und dem deutsch-togoischen Film-Thea­ter-Hybrid „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ längeren Recherchephasen verdankt. Aber die meisten von ihnen sind auch pralles Theater – wenn auch zuweilen etwas umständlich darum bemüht, es zu sein.

Auch Pinar Karabuluts Annäherung an die Schriftstellerin Gisela Elsner will viel. Und sie will es in dem knallbunten Schau­spie­le­r*in­nen­abend „Sprung vom Elfenbeinturm“ in jeder Szene mit anderen ästhetischen Mitteln. Zwei so schnörkellose wie großartige Wut-Monologe von Gro Swantje Kohlhof und Zeynep Bozbay rahmen unter anderem eine komplett überzeichnete Groteske im Horrorpuppenmilieu und einen sozialrealistisch-tiefenscharfen Film.

Wiederentdeckung vergessener Frauen

Dieser „Abend gegen deine spießbürgerlichen Phantasien, deine Lebenslügen und deine Kompromisse“, wie er im Untertitel heißt, ist ein literarisch-biografisches Mash-up und kann ebenso wie die genannten Stückentwicklungen als Forschungsprojekt gelten.

In Mundels Programmschiene, die sich der Wiederentdeckung vergessener Frauen und ihrer Stimmen verschrieben hat, passt eine wie Elsner gut rein, die den nie ganz entnazifizierten „bedeutschten Deutschen“ sprachmächtig die Leviten las, in satirischen Romanen wie „Fliegeralarm“ von 1989 Kinder mit Kriegsdevotionalien handeln ließ und schlagfertig Reporterfragen kontern konnte, die ihre „Seriosität“ als Schriftstellerin durch ihre „gute Ausstattung“ (vulgo: Oberweite) in Gefahr sahen.

In Erinnerung an Franz Josef Strauß: Eine Spezlwirtschaft voller Schmiergeld verlängert deutsche Kolonial-geschichte

Karabulut und ihr Dramaturg Mehdi Moradpour feiern die 1937 ins Nürnberger Großbürgertum Hineingeborene, die den DDR-Sozialismus verherrlichte, ohne ihn zu kennen, und 1992 aus dem vierten Stock einer Münchner Entzugsklinik in den Tod sprang, in all ihrer Widersprüchlichkeit. Und sie tun es nicht rund und auch nicht durchweg gelungen, sondern wild und mutig.

Dagegen will Jessica Glause in den „Sufragetten“ von vornherein alles richtig machen: Ein mustergültig diverser Cast (mit unterschiedlichen Handicaps, Körperformen und -farben, Thomas Hauser als queerer Mann ist dabei) steht hier stellvertretend für zehn Feministinnen auf der Bühne, die um 1900 herum von München aus für das Recht auf Bildung, Berufsausübung und den Gang an die Wahlurnen kämpften. Weil ein Zentrum des Münchner Feminismus Anita Augspurgs und Sophia Goudstikkers Fotoatelier Elvira war, das unkonventionelle Bilder von Frauen schoss, wird der Abend von Momentaufnahmen der Ak­teu­r*in­nen flankiert.

Gruppenbild aus den „Bayerischen Sufragetten“ Foto: Julian Baumann

Die Musik von Eva Jantschitsch zieht ihn in die Gegenwart. Und während beim Singen, Zitieren und Schweigen für so manch verschollenen Text aus Bühnenteilen der Drache zusammengebaut wird, der an der Fassade des Fotostudios prangte, bis Hitler selbst ihn entfernen ließ, wohnt man doch eher einer Geschichtsstunde bei. Wenig wird ausspart: weder der Hedonismus einer Fanny zu Reventlow noch die Spaltung zwischen Bürgerinnen und Arbeiterfrauen, Feministinnen-Fundis und -Realos.

Strippenzieher an der Strippe

Weniger beflissen als schillernd und chaotisch ist Jan-Christoph Gockels „Erwiderung“ auf den ehemaligen bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, der 1983 mit dem unglaublichen Spruch „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ eine unheilige Allianz mit Togos Präsidenten Gnassingbé Eyadéma besiegelte, die die deutsche Kolonialgeschichte in eine Spezlwirtschaft voller Schmiergelder, afrikanischer Wurschtfabriken und Brauereien hinein verlängerte.

Noch im Lockdown haben Gockel und sein langjähriger Kompagnon, der Schau- und Puppenspieler Michael Pietsch, mit Schauspielern, Musikern, Cartoonisten und Interviewpartnern aus Togo ein film­thea­tra­les Mosaik gebastelt, in dem eine zeitreisende Geisterjägerin auf eine lebensechte Strauß-Marionette trifft. Schön absurd: der Strippenzieher, der selbst an Fäden hängt!

Zurück zur Literatur ging es an der Kammer mit Felicitas Bruckers Inszenierung von Wolfram Lotz’ Langgedicht „Die Politiker“: Eine mit vielen Wiederholungen und Gedankensprüngen herrlich ins Absurde ausgreifenden Suada für einen Sprecher, in der wie kleine vergiftete Pfeile bittere und/oder erhellende Wahrheiten stecken.

Die kommen allerdings ein bisschen unter die Räder, während drei teils mit immensem Körpereinsatz agierende Schau­spie­le­r*in­nen in überraschend konkreten Spiel­si­tua­tio­nen den Text meist gleichzeitig, aber selten synchron abspulen. Doch auch als sich wider den Restsinn der Worte kehrende Sprechmusik ist das noch furios genug, dass Lodz es nicht bereuen wird, dem Haus seine Tagebücher für die nächste Spielzeit zur Uraufführung überlassen zu haben.

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