Kältewelle in Südosteuropa: Nicht vor und nicht zurück
Mitten in Belgrad leben über 1.500 Flüchtlinge in einem illegalen Lager. Sie frieren, hungern. Von den Behörden werden sie hilflos geduldet statt betreut.
Einige machen Feuer oder waschen sich an dem einzigen Wasserhahn, andere vertreten sich die Füße oder hocken einfach da und schauen auf den ersten Schnee des Jahres. Über 1.500 Flüchtlinge leben in dem illegalen Lager im Zentrum Belgrads, keine zehn Minuten Fußweg von der Haupteinkaufsstraße entfernt. Keine Heizung, kein Strom, keine Toiletten.
Drinnen schlafen die Flüchtlinge auf Decken, die direkt auf dem Betonboden liegen. Mit ein paar Fundstücken haben sie provisorische Schlafkammern abgeteilt, in denen sie zu mehreren dicht aneinandergepresst schlafen. Manche stehen den ganzen Tag nicht auf, schlummern vor sich hin – hungrig, erschöpft, resigniert.
Auch in den Hallen brennen mehrere Feuer, der Rauch sticht und beißt, sodass man kaum sehen und atmen kann. Die hier Kampierenden verfeuern alles, was sie in die Hände bekommen: Autoreifen, Bahnschwellen, gefärbtes oder lackiertes Holz von ehemaligen Büromöbeln. Husten ist zu hören. Hier und da sieht man Kinder, Jungen, die nicht älter als zehn oder elf Jahre alt sein können. Viele haben Läuse, sind krank oder haben Frostbeulen, eine ärztliche Betreuung gibt es nicht.
Stecken geblieben
Es ist eine reine Männerwelt hier gleich hinter dem Bahnhof. Und das zurzeit größte illegale Flüchtlingslager in Europa. Über neunzig Prozent der Anwesenden sind Afghanen, die anderen Pakistaner. Sie haben keine Chance, legal in die Europäische Union zu kommen. Erstens gelten Afghanistan und Pakistan als „sichere Herkunftsländer“, weshalb es keine Hoffnung auf Asyl gibt; zweitens lassen ungarische Grenzpolizisten nur zehn Bürgerkriegsflüchtlinge pro Tag ins Land, ausschließlich Familien mit Kindern, und auch das nur werktags. Am Wochenende ist Ungarn für Flüchtlinge geschlossen.
Die Geschichte des 20-jährigen Afghanen Ahmet ist typisch. Er sei vor den Taliban, vor dem Krieg geflüchtet, erzählt er. Die Familie habe Geld gesammelt, und er habe sich mit Schleppern auf den Weg gemacht. Über Pakistan, den Iran, durch die Türkei und Bulgarien sei er vor vier Monaten nach Serbien gelangt. Die Reise habe ihn bisher 12.000 Euro gekostet. In dem illegalen Lager haust Ahmet nun seit zwei Monaten. Zweimal hat er vergebens versucht, sich nach Ungarn einschleusen zu lassen. Nun wartet er, wie die meisten hier, auf die nächste Gelegenheit.
Über Handys stellen die Flüchtlinge Kontakt mit Schleppern her, die ihre Familien dann bezahlen. Niemand will in ein legales Flüchtlingslager gehen: Es hat sich herumgesprochen, dass Flüchtlinge aus Serbien heimlich abgeschoben werden. Das bestätigt auch der UNHCR aufgrund von Interviews mit Flüchtlingen. Die Bewohner des Flüchtlingslagers in Preševo an der Grenze zu Mazedonien dürfen sich außerdem nicht frei bewegen, sie sind quasi eingesperrt. Das Weiterkommen der Flüchtlinge wird damit fast unmöglich gemacht.
Seit November ist es Hilfsorganisationen auch verboten, in dem illegalen Lager am Bahnhof Essen und Kleidung zu verteilen. Nur die britische Organisation Hot Food Idomenia wird von den Behörden geduldet und darf eine warme Mahlzeit am Tag verteilen. „Damit wir nicht ganz krepieren“, sagt einer der Flüchtlinge sarkastisch.
Obwohl Serbien bisher wegen seines vergleichsweise menschlichen Umgangs mit den Flüchtlingen von diesen wie auch von Hilfsorganisationen gelobt worden ist, scheinen nun auch die serbischen Behörden ihre Flüchtlingspolitik dem ungarischen Modell angleichen zu wollen: Sie setzen auf möglichst viel Abschreckung und die entsprechende Mundpropaganda.
Die Selbstorganisation läuft
Derzeit sind in Serbien offiziell mehr als 7.000 Flüchtlinge registriert, Hilfsorganisationen schätzen ihre Zahl jedoch auf über 10.000. Die Lager und Aufnahmezentren sind voll. Obwohl die Balkanroute als geschlossen gilt, gelangen derzeit immer noch rund 3.000 Flüchtlinge monatlich nach Serbien, die meisten über Bulgarien.
Gordan Paunovic von der Hilfsorganisation Info Park spricht von einem „organisierten Abschreckungssystem“. Bis Ende Oktober gab Info Park 2.400 Mahlzeiten täglich aus, das ist nun untersagt. Das illegale Flüchtlingslager würde aber mittlerweile weitgehend selbstständig oder „selbsterhaltend“ funktionieren, sagt Paunovic, unabhängig von serbischen Institutionen oder Hilfsorganisationen. Allerdings erschwert die Kältewelle den Flüchtlingen das prekäre Leben enorm. Die meisten Bewohner besitzen keine gültigen Papiere, sie haben in der Regel auch die Chance verpasst, einen Asylantrag in Serbien zu stellen. Da niemand weiß, was mit ihnen geschehen soll, meint Paunovic, würden sie einfach geduldet.
Auch allein reisende Flüchtlingskinder und -jugendliche sind sich selbst überlassen; ihre Anzahl in dem illegalen Lager wird auf über 200 geschätzt. „In Serbien treffen täglich etwa 100 Flüchtlinge ein, sagt Tatjana Ristić von Save the Children, „davon sind vierzig Prozent Kinder, und davon wiederum zehn Prozent unbegleitete Minderjährige.“ Ihr physischer und psychischer Zustand sei „besorgniserregend“.
Insgesamt sollen sich 700 unbegleitete Minderjährige in Serbien aufhalten; allein in den vergangenen zehn Tagen hat Save the Children jedoch fast fünfzig neue Fälle registriert. Die Dezemberstatistik belegt, dass mehr als 75 Prozent der Jugendlichen aus Afghanistan stammen, in fast allen Fällen handelt es um Jungen, meist zwischen 15 und 17 Jahre alt.
Anlaufstelle für Jugendliche
Save the Cildren betreibt in Bahnhofsnähe das Aufnahmezentrum „Miksalište“, ein child friendly space. Dort werden Flüchtlingskinder von ausgebildeten Mediatoren betreut. Außerdem können sich Flüchtlinge hier über das Asylrecht informieren, sich aufwärmen, ihre Handys aufladen. Betten gibt es keine, Unterkunft ist hier nicht vorgesehen.
Trotzdem haben die Leute von Miksalište in den eisigen Nächten zuvor einige Flüchtlinge, vor allem Kinder, auf dem Boden übernachten lassen. Auch den neunjährigen Irfan* mit seinen zwei Freunden, zehn und elf Jahre alt, alle drei aus Afghanistan, alle drei allein unterwegs. Kennengelernt haben sie sich in Belgrad, seitdem halten sie zusammen.
Irfan sagt, er sei mit seinem sechzehnjährigen Onkel unterwegs. Der Dolmetscher von Save the Children übersetzt seine Geschichte: Die Taliban hätten seinem Vater gedroht, ihn und seinen Sohn umzubringen, deswegen habe ihn die Familie mit Schleppern nach Europa geschickt. In Serbien befindet er sich jetzt schon seit fünf Monaten, davon zweieinhalb Monate in dem illegalen Lager in Belgrad. Trotz der sehr schlechten Bedingungen habe ihm sein Vater empfohlen, offizielle Flüchtlingslager zu meiden, damit er nicht abgeschoben oder festgehalten werden kann.
Die Heime sind voll
Immer wieder telefoniert Irfan. „Mit Schleppern“, sagt er, als ob das ganz selbstverständlich sei. Ja, er sei sich des Risikos bewusst, illegal nach Ungarn zu gehen. Irfan hat schon von Fällen gehört, dass Grenzhunde auch Kinder angegriffen hätten, die mit lebensgefährlichen Bisswunden ins Krankenhaus kamen. Aber er will es dennoch versuchen, was bleibe ihm anderes übrig? Wenn es wieder etwas wärmer wird, will Irfan mit seinen Freunden ins illegale Lager am Bahnhof zurückgehen, dort hätten sie ein kleines Zelt, das sie vor Rauch und Kälte schütze.
Eigentlich müssen nach serbischem Gesetz alle Minderjährigen ohne Betreuung oder Begleitung, auch Flüchtlinge, in reguläre Einrichtungen. Doch auch hier sind die Behörden ebenso macht- wie ratlos: Die Kinderheime sind voll, und außerdem sind es keine Gefängnisse, Flüchtlingskinder rennen davon. Also überlässt man sie ihrem Schicksal.
In den letzten Wochen haben internationale Medien auf die Zustände in dem illegalen Lager in Belgrad aufmerksam gemacht. Nichts geschah. Kein Land, schon gar nicht Ungarn will die Geflüchteten aufnehmen; ihr Status in Serbien kann oder soll nicht legalisiert werden, andererseits wagt niemand eine Massenabschiebung. Wie und wohin auch?
Seit Sonntag verteilt nun das serbische Flüchtlingskommissariat Flugblätter, in denen den Flüchtlingen in dem Belgrader Vorort Obrenovac Unterkunft mit Essen, Heizung, Duschen, frischer Kleidung und medizinischer Betreuung in einer ehemaligen Kaserne angeboten wird. Alles ist besser als das Lager hinter dem Bahnhof, doch befinden sich auch diese Gebäude in einem sehr schlechten Zustand. Unklar ist auch, ab wann und wie viele Menschen dort untergebracht werden können und wer sie versorgen soll.
Für die Flüchtlinge ist das zweitrangig. Für sie zählt, dass das neue Lager nicht weit vom Stadtzentrum entfernt liegt und dass es offen ist.
*Name geändert
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