K-Gruppen in Westdeutschland: Als Mao die BRD eroberte
Vor 50 Jahren in einer Hamburger Kneipe: 33 Leute gründen die KPD/ML. China ist nicht nur Vorbild der Partei – die Volksrepublik mischt auch mit.
In der Versammlung führt der 45-jährige Ernst Aust das große Wort und beschwört, leicht näselnd und mit Eimsbütteler Tonfall, das „sozialistische China, den Leuchtturm der Weltrevolution“. Der schmächtige Mann mit zurückgekämmten Haaren bringt seit einem Jahr ein hektografiertes Monatsblatt mit dem Namen „Roter Morgen“ heraus und fordert dort die „Vereinigung aller Marxisten-Leninisten“.
Vergessen sind an diesem Tag seine langen Dienstjahre als Funktionär der 1956 verbotenen KPD. Jetzt beklagt Aust den „revisionistischen Verrat“ in der Führung der Partei, in der DDR und vor allem in der Sowjetunion. Das neue Vaterland aller Werktätigen sei die Volksrepublik China, gefolgt vom treuen Verbündeten Albanien.
Seine Genossen in der Bramfelder Kneipe reden sich an diesem Tag in Feuer über die „Errichtung der proletarischen Diktatur“ und gründen noch in der Nacht die erste maoistische Partei Deutschlands, die KPD/ML. In den Wochen und Monaten danach breitet sich die erste sogenannte K-Gruppe schnell aus, organisiert schließlich ein paar Tausend fester Anhänger, verteilt Mitte der siebziger Jahre vor fast 100 Betrieben ihre Flugblätter, zieht mit „Roten Betriebsräten“ in die Arbeitnehmervertretungen von Opel und Siemens ein, agitiert und demonstriert im Dauereinsatz. Und liefert das Vorbild für die anderen K-Gruppen, die sich ab 1970 bilden und für einige Jahre die radikale Linke in Westdeutschland dominieren.
Maos West-Kommunisten – keine Erfindung von Studenten
Bis heute gelten die deutschen K-Gruppen und ihre maoistischen Schwesterparteien in aller Welt als dogmatischer Endpunkt der Studentenbewegung – und zugleich als Produkt des Bruchs mit den Idealen der Achtundsechziger. In Wahrheit geht ihre Entstehung bis in die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre zurück – und ihre Entwicklung verlief zunächst vollständig getrennt von der Studentenbewegung. Erst ab Anfang 1970 übernahmen ehemalige SDS-Führer wie der spätere taz-Redakteur Christian Semler oder Joscha Schmierer (später Chefstratege des Auswärtigen Amts) die Leitung maoistischer Organisationen. Bei der Gründung der KPD/ML im „Ellerneck“ war noch kein Einziger von ihnen dabei.
Neben Ernst Aust und seiner Frau Waltraud gehört der cholerische Wirrkopf Günter Ackermann zum innersten Kreis der Gründer, ein ehemaliger Volkspolizist aus der DDR, der sein Geld zeitweise als Vertreter einer Versicherung verdient. Rund ein Drittel der Delegierten, die oft nicht mehr als sich selbst vertreten, stößt aus der alten moskautreuen KPD zu der neuen Mao-Partei. Dazu zählen zum Beispiel der Mannheimer Daimler-Arbeiter Emil Ludwig und der 54-jährige Hamburger Werner Konczak, die beide schon zwischen 1960 und 1962 erste chinesische Propagandaschriften in Westdeutschland verbreiteten.
Auch der Chefideologe des Gründungskerns, Klaus Schaldach, kommt aus der alten KPD. Der Kommunalbeamte aus Düsseldorf bleibt der Silvesterrunde aber aus „Sicherheitsgründen“ fern und schickt nur seine Frau. Nicht ohne Grund: In der maoistischen Runde schreibt ein Mitarbeiter des geheimen Abwehrapparats der alten moskautreuen KPD, der „Zentralen Parteikontrollkommission“ (ZPKK), eifrig jedes Wort mit. Die ZPKK-Protokolle wiederum gelangen durch einen westdeutschen Spion in Ostberlin prompt zum Verfassungsschutz in Bonn.
Studenten aus Kiel, Tübingen, Hannover und Berlin finden sich ebenfalls unter den KPD/ML-Gründern – aber keiner von ihnen spielt im SDS oder anderen radikalen Uni-Gruppen eine nennenswerte Rolle. Über einige Prominenz im linken Lager verfügen allenfalls die blutjungen Führer einer radikalen Schülergruppe, die sich als Rote Garde Berlin auf die Seite Austs schlagen und prompt mit Spitzenämtern in der neuen Partei belohnt werden. Ihr Sprecher ist der Sohn des Schriftstellers und Verlegers Rainer Maria Gerhardt, der 18-jährige Ezra Gerhardt. Der neue „Jugendbeauftragte der KPD/ML“ holt gleich ein paar Dutzend Schüler aus der ehemaligen „Terrorgruppe Neuruppin“ (Selbstbezeichnung) und verschiedenen Berliner Gymnasien in die Partei, die es dort jedoch nicht lange aushalten.
Der Hauptnenner, der die Männer (und sehr wenigen Frauen) der neuen KPD/ML verbindet, ist das kommunistische China. In der kurzen Gründungserklärung, die Aust im Januar 1969 im „Roten Morgen“ veröffentlicht, fällt der Name Mao Zedong gleich sechsmal. Sie beginnt mit einem langen Zitat des „Großen Vorsitzenden“ und endet mit einem Bekenntnis zu seiner „revolutionären Theorie“. Nur ein einziger Absatz befasst sich mit der Lage in der Bundesrepublik. Die KPD/ML gibt sich von Anfang an als „Bruderpartei“ der KP Chinas und schickt ein Grußtelegramm an Mao, in dem seine deutschen Anhänger die „erfolgreiche Zündung der zweiten Wasserstoffbombe“ als „große Ermutigung für die revolutionären Volksmassen der ganzen Welt“ feiern.
Aber nur ein Einziger in der aufgeregten Runde in der Hamburger Kneipe kennt die Volksrepublik wirklich: ein sehr kleiner, wohlbeleibter Mann mit Glatze, der in seinem dunklen Anzug eher wie ein Oberbuchhalter wirkt und nicht wie ein Revolutionär. Doch der „Genosse Gerd“ mit dem Nachnamen Flatow hält sich an diesem Tag im Hintergrund; eine damals noch sehr junge Teilnehmerin der Silvester-Versammlung erinnert sich heute so: „Gerd brachte uns mit seinem Auto von Düsseldorf nach Hamburg, mehr als Chauffeur. Das war eigentlich sein wichtigster Part bei dieser Sache.“
Maos Verbindungsleute in Europa
Die 33 Anwesenden wählen den 58-Jährigen nicht in ihr Zentralkomitee wie etwa Ackermann und Aust. Zusammen mit Schaldach rückt Flatow in die Zentrale Kontrollkommission ein – eine Art Aufsichtsrat, der vor allem für die Einhaltung des Statuts zuständig ist. Dabei könnte der Altgenosse nicht nur aus seiner eigenen Zeit in China zwischen 1934 und 1956 reden, sondern auch über Maos Pläne zur Schaffung einer Mini-Internationale von chinatreuen Parteien in Europa. Der geborene Berliner mit dem bürgerlichen Namen Gerhard Ludwig Flatow, der fließend Chinesisch spricht und noch vor Kurzem als Direktor des Stahlkonzerns Otto Wolff in Köln gute Geschäfte mit China machte, ist seit Jahren einer von Maos wichtigsten Verbindungsleuten in Europa.
Flatow bemüht sich schon seit seiner Rückkehr aus China, den Einfluss der weitgehend isolierten Volksrepublik in der Bundesrepublik zu erweitern. Am 7. September 1957 gründet der Kaufmann gemeinsam mit seinem alten Bekannten Wolf Schenke – einem ehemaligen China-Korrespondenten der Nazi-Parteizeitung Völkischer Beobachter – die Deutsche China-Gesellschaft. Sie tritt vor allem für die schnelle Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik ein. Als Direktor der Asien-Abteilung des Kölner Stahlkonzerns Otto Wolff bemüht sich Flatow gleichzeitig um den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, die seit dem Koreakrieg 1950–153 auf Druck der Amerikaner fast vollständig zum Stillstand gekommen sind.
Gerhard Ludwig Flatow, KPD/ML-Mitgründer
1963 bereitet der überaus umtriebige Geschäftsmann gemeinsam mit seinem Vorstandschef Otto Wolff von Amerongen die Gründung einer deutsch-chinesischen Handelsgesellschaft in Düsseldorf vor – der ersten ihrer Art in der Bundesrepublik. Doch die westlichen Geheimdienste, die Flatow seit vielen Jahren beobachten, legen sich quer. Auch sein nächster Versuch scheitert, von Hongkong aus die Geschäfte anzukurbeln. Die Behörden der damaligen britischen Kronkolonie erklären Flatow als Einflussagenten der Rotchinesen zum „Sicherheitsrisiko“ und verweigern ihm eine Aufenthaltsgenehmigung.
Flatow macht sich 1965 selbstständig – und übernimmt eine Doppelrolle: Auf der einen Seite sucht der Mann Chinas Mitkämpfer für die Gründung einer maoistischen Partei in der Bundesrepublik, auf der anderen Seite treibt er auf eigene Faust kräftig Handel mit den Chinesen. Sein neues Büro in Luxemburg wird so zeitweilig zu einer wichtigen Drehscheibe für die Bemühungen der Volksrepublik China, die politische und wirtschaftliche Isolierung zu durchbrechen. Mao macht 1963 den Bruch mit dem gesamten sowjetischen Lager öffentlich und startet eine schrille „Polemik über die Generallinie der kommunistischen Weltbewegung“. In Westeuropa setzen die Chinesen nun mit aller Macht auf die Spaltung der jeweiligen kommunistischen Parteien.
Wie China Verbündete in Westeuropa sucht
Die Botschaften in Bern, London und Stockholm – damals die einzigen offiziellen Vertretungen der Volksrepublik China in den kapitalistischen Ländern Europas – setzen alte Verbindungen und einiges Geld dafür ein. 1964 meldet die Peking Rundschau erste Erfolge: In Belgien kündigt der Altkommunist Jacques Grippa die Gründung der ersten Mao-Partei in Westeuropa an. Kurz darauf folgt der altgediente Wiener Parteifunktionär Franz Strobl mit seinen Marxisten-Leninisten Österreichs (später in MLPÖ umbenannt). Weitere Organisationen entstehen in kürzester Zeit in Großbritannien, Frankreich und Italien. Ende 1966 steht die maoistische Mini-Internationale. Und mit dem Absender „Guozi Shudian, Postfach 399, Peking“ liefern die Chinesen tonnenweise Mao-Bibeln, Blechplaketten und Propaganda-Broschüren kostenlos an ihre neuen europäischen Filialen.
Zur Finanzierung der Pro-China-Parteien setzen die Kulturrevolutionäre in Peking auf kapitalistische Praktiken, die sie sich bei den moskautreuen Kommunisten und der KPdSU abgeschaut haben: Überall, wo eine Mao-Partei entsteht, gründen sich auch Firmen für den China-Handel, die ein Vertrauensmann der jeweiligen Partei heimlich steuert. So gründet der Brite Jack Perry die London Export Corporation, die erst Gelder für die Zeitschrift „The Marxist“ abzweigt und dann für die Communist Party of Britain (Marxist-Leninist). In Belgien ziehen Grippas Leute die Fäden bei der Handelsgesellschaft Sodexim. Beide Gesellschaften arbeiten bis heute im China-Handel, auch wenn die dazu gehörigen Parteien längst in der Versenkung verschwunden sind. In Italien verschaffen die Maoisten dem staatlichen Energiekonzern ENI sogar über ihren Vertreter in Peking einen lukrativen Erdölvertrag. Der Deutsche Flatow baut zwischen 1965 und 1968 Verbindungen zu einigen dieser Führungsfiguren des europäischen Maoismus auf und träumt selbst von einer ähnlichen Doppelrolle in der Bundesrepublik: Parteifunktionär und zugleich China-Händler.
Doch die deutschen Maoisten sind im internationalen Vergleich spät dran – und die Chinesen haben mit ihren Geldern für ihre westeuropäischen Ableger bereits schlechte Erfahrungen gemacht. In Belgien genehmigen sich Jacques Grippa und seine Parteifunktionäre fürstliche Gehälter aus chinesischen Quellen. Und in Wien fällt deutschen Maoisten beim Besuch die herrschaftliche Fünf-Zimmer-Villa auf, in der ihr Genosse Strobl residiert. Ihre Kritik behalten sie aber lieber für sich: Der Österreicher vermittelt dem späteren KPD/ML-Gründer Ackermann 1967 einen Besuch beim einzigen Verbündeten der Chinesen in Europa – den Albanern. Der Versuch des deutschen Maoisten, dort Geld für den Aufbau einer Partei und für sich selbst einzusammeln, scheitert jedoch schmählich. Die Albaner informieren ihre Freunde in Peking, die ihrerseits auch kein Geld locker machen. Erst einmal sollten sich „alle Marxisten-Leninisten in einer Partei vereinigen“, bringt Ackermann als Botschaft an seine Genossen mit nach Hause. Danach sehe man dann weiter. Doch die Fähigkeit zur Einigung geht den deutschen Maoisten ab.
Spaltung gehört zur Partei
Schon vor ihrer Gründung am Silvesterabend 1968 verliert die KPD/ML mehrere ihrer aktivsten Gründerväter. Der Hamburger Hans Kolbe – eigentlich als Vorsitzender des Vereins vorgesehen – schlägt sich in die Büsche. Umgekehrt hängt das Ehepaar Aust vor der Runde im „Ellerneck“ auf den letzten Metern den poltrigen 48-jährigen Gastwirt Werner Heuzeroth aus dem Westerwald ab, der dort mit seiner Frau Ruth das Lokal „Freundschaft“ betreibt und sich bereits den Zorn anderer Maoisten zugezogen hat: Der ehemalige Schlosser sei nur ein „an der Oberfläche sehr dünn rotlackierter Stammtischspießer“, hetzt einer seiner Kritiker erfolgreich.
In dieser Tonlage geht es auch nach der Gründung der Mao-Partei munter weiter: Schon im Januar 1969 wechselt ein Mitbegründer die Seiten und watscht Aust als „Scharlatan“ ab. Nach wenigen Monaten verabschiedet sich auch der Chefideologe Schaldach.
In den nächsten Jahren spaltet sich die Partei so häufig, dass selbst die Spitzel des Verfassungsschutzes allmählich den Überblick verlieren. In den frühen siebziger Jahren streiten sich streckenweise gleich sechs Gruppen um den Namen KPD/ML. 1973 behauptet eine abtrünniger Ex-Chefredakteur der Parteizeitung Roter Morgen unwidersprochen, von den 33 Gründern sei niemand mehr an Bord – „außer Ernst Aust und Frau“. Als Chef der Partei schafft der Hamburger einen nachhaltigen Personenkult um seine Person („Hoch die Faust für Ernst Aust!“) und macht trotz aller Spaltungen einfach weiter.
Die albanischen Kommunisten empfangen Aust mehrfach als „Führer“ ihrer „Bruderpartei“. Im Mai 1975 reist der Funktionär zum ersten und letzten Mal in die Volksrepublik China, wo ein Mitglied des Politbüros grünen Tee serviert. Damit ist Schluss, als seine KPD/ML ein Jahr später nach dem Tod Maos gegen die neue Parteiführung in Peking wettert. Die schockierten Mitglieder verlassen Aust danach in Scharen. Der kleine Vorsitzende stirbt 1985, seine Partei löst sich ein Jahr später selbst auf.
Sein Genosse Flatow findet sich nach einigen Spaltungen in einer anderen K-Gruppe wieder, dem KABD (der heutigen MLPD), der ihn jedoch im Sommer 1978 wegen seiner Unterstützung für die „chinesischen Revisionisten“ ausschließt. In einem privaten Brief vom 8. Oktober des gleichen Jahres schreibt der 68-Jährige: „Was mich angeht, so schäme ich mich bis tief in meine Socken meines Mangels an kritischem Denken.“ Auf seiner letzten Reise nach China stirbt Gerhard Ludwig Flatow am 31. März 1980 in Hongkong.
Der Autor, ehemaliger Chefredakteur des Handelsblatts und in seiner Jugend selbst Mitglied einer K-Gruppe, schreibt gerade ein Buch über den Stahldirektor, Agenten und Maoisten Gerhard Ludwig Flatow.
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