Justizposse in Osnabrück: Ein ganz schlimmer Finger vor dem Landgericht
Ein Mittelfinger, eine „Gurke“: Polizisten fühlten sich von Demo-Anmelder Roman R. beleidigt. Nun verhandelt das Landgericht Osnabrück darüber.

R. soll 40 Tagessätze zu 30 Euro zahlen, weil er Mitte 2024 als Zuschauer einer Gerichtsverhandlung, in der es um das Zeigen eines Mittelfingers gegen zwei Polizisten ging, auf dem Gerichtsflur diesen Polizisten gegenüber seinerseits den Mittelfinger gezeigt haben soll.
„Ich habe meine Brille hochgeschoben“, sagt R. kopfschüttelnd der taz. „Unbewusst wohl mit dem Mittelfinger, wie ich es manchmal tue, als Automatismus.“ So sagt er es auch vor Gericht. Dessen Urteil wertet das als „lebensfremd“ und als „Schutzbehauptung“.
Weitere 30 Tagessätze zu 30 Euro soll R. zahlen, weil er als Anmelder einer Tanzdemo, die sich Mitte 2024 gegen die Entmietung des selbstverwalteten Osnabrücker Zentrums SubstAnZ richtete, Polizisten als „Gurken“ bezeichnet haben soll.
„Die Demo formierte sich“, erinnert sich R. an den Tag. „Das Einsatzleitfahrzeug der Polizei wollte an ihr vorbei zur Spitze des Zuges. Damit das niemanden gefährdet, habe ich den Teilnehmern zugerufen: ‚Lasst die Gurke mal durch!‘. Damit war das Fahrzeug gemeint.“
R. ist kein Hitzkopf. Der Student ist ein erfahrener Demo-Leiter. Beide Amtsgerichts-Urteile wertet er als „Versuch, Menschen, die sich engagieren, durch Herbeikonstruiertes mit Repressalien zu überziehen, damit sie ihr Engagement einstellen“.
Zum Brillen-Fall schreibt der Verteidiger von R. im Herbst 2024 an die Staatsanwaltschaft: „Die Beamten scheinen sich hier einen Spaß daraus zu machen, bei jeder Gelegenheit Strafanträge wegen angeblicher Beleidigung zu stellen.“ Und: Die gesamte Akte sei „geprägt von einer deutlichen Abneigung gegen die – wie es anklingt – linksmotivierte Szene“.
Im Urteil des Amtsgerichts zum Gurken-Fall ist davon die Rede, der Angeklagte nehme zur Wahrung seines Grundrechts auf Versammlungsfreiheit „gerne die Dienste der Polizei in Anspruch“, habe aber dieser gegenüber „nur eine geringschätzige Meinung“. R. sagt zur Demo-Situation: „Die Leute haben getanzt. Eine Eskalation wollten wir nicht.“
Das Geschehen um die SubstAnZ-Demo, 300 bis 400 Personen stark, ist auch jenseits der Gurken-Problematik skurril. Denn der Einsatzleiter der Polizei, laut R. „überfordert und aggressiv“, sodass „eine sachliche Kommunikation kaum möglich war“, meldete danach Ordnungswidrigkeit auf Ordnungswidrigkeit.
Lautsprecherwagen folgte der Polizei – in die Fugängerzone
Nummer 1: Der Lautsprecherwagen der Demo, von dem Techno-Musik lief, sei unerlaubt durch eine Fußgängerzone gefahren. „Dabei hat die Polizei uns selber die Poller entfernt“, sagt R. „Das Einsatzleitfahrzeug fuhr vor. Und wir hatten die strikte Auflage, ihm mit unserem Wagen in zehn Metern Abstand zu folgen.“
Nummer 2: Die OrdnerInnen der Demo seien betrunken gewesen. „Das ist Unsinn“, empört sich R. „Das wurde auch während der Demo nie durch die Polizei angesprochen.“
Nummer 3: Auf einer zweispurigen Ringstraße soll die Demo nur eine Spur bekommen, sodass Verkehr sie von hinten überholt. R., der das zu gefährlich findet, interveniert beim Staatsschutz, woraufhin die Demo zweispurig laufen darf. Später kritisiert der Einsatzleiter diese Zweispurigkeit.
Alle Ordnungswidrigkeitsverfahren verlaufen später im Sande. Aber R. fühlt sich dadurch unter Druck gesetzt.
Und dann ist da noch die Androhung des Einsatzleiters, die Demo durch Kräfte der Einsatzhundertschaft auflösen zu lassen, weil der Lautsprecherwagen wegen einer Technikpanne kurz anhält. „Das waren wirklich nur ein paar Minuten“, sagt R. „In einer verkehrsberuhigten Zone.“ Die Hundertschaftler seien gekommen, aber untätig geblieben. Kurz darauf, während die Demo offiziell noch lief, sei die Polizei dann plötzlich verschwunden: „Die Einsatzleitung war weg, die verkehrssichernde Fahrradpolizei, am Ende auch der Staatsschutz“, wundert sich R.. „Das war alles höchst seltsam.“
Ihr Verfolgungsinteresse will die Staatsanwaltschaft nicht begründen, verweist auf den Sprecher des Landgerichts. Der Vorsitzende Richter Christoph Willinghöfer schreibt der taz, er könne „keine Auskünfte zu der Motivation der Anklageerhebung sowie dem erstinstanzlichen Urteil geben“.
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