Jüdisch-palästinensischer Protest: „Wir müssen uns entscheiden“
In Israel wächst der Unmut über das Vorgehen der Armee in Gaza, sagt der Aktivist Alon-Lee Green. Einen Ausweg aus dem Krieg hält er für möglich.

taz: Alon-Lee Green, wie geht es Ihnen?
Alon-Lee Green: Das ist heutzutage eine komplizierte Frage. Beschäftigt. Beunruhigt. Sonnenverbrannt. Wir sind jeden Tag in der Sonne, bei Protesten oder bei der Organisation vor Ort. Aber ich habe auch das Gefühl, dass wir stärker sind, als wir es bisher waren.
taz: Als Sie im Dezember 2023 in Berlin zu Gast waren, haben Sie uns auch gesagt, dass Ihre Bewegung stärker wird. Seitdem sind 18 Monate vergangen, der Krieg dauert an, und der Gazastreifen ist fast vollständig zerstört. Werden Sie nicht gehört in der israelischen Gesellschaft?
Green: Nach dem 7. Oktober haben wir monatelang darum gekämpft, überhaupt einen Raum zu haben, in dem wir unsere Ablehnung der Angriffe auf Gaza zum Ausdruck bringen können, in dem wir ein Abkommen und einen Waffenstillstand fordern können. Es war schon eine große Herausforderung, überhaupt als Israelis und Palästinenser zusammen zu sein. Und natürlich begannen wir von Anfang an zu wachsen, weil es eine große Lücke gab, die wir fast allein füllten. Anderthalb Jahre später können wir die Früchte unserer Arbeit in der Gesellschaft sehen. Es ist uns nicht gelungen, das Töten und die Zerstörung zu stoppen. Aber wir haben es geschafft, unserer Gesellschaft die Frage aufzuzwingen, was für eine Art von Gesellschaft wir sein wollen. Es gibt jetzt eine wirklich heftige Diskussion über das Töten von Kindern in Gaza, über das Aushungern von zwei Millionen Menschen. Auch darüber, ob es in diesem Krieg um unsere Sicherheit geht oder um Vernichtung.
taz: Von außen betrachtet scheint es so, dass auch in Israel immer weniger Menschen an die Darstellung glauben, dass es sich noch um einen Verteidigungskrieg handelt.
Green: Vom ersten Moment an nach dem 7. Oktober konnte man die Absichten der Regierungsmitglieder in Israel hören. Sie benutzten Worte wie „Vernichtung“, „in die Steinzeit zurückbringen“, „Gaza auslöschen“, „Tötet sie alle“, „Bombardiert sie mit Atomwaffen“. Die ganze Palette. Und langsam aber sicher gelang es ihnen, diese Absichten auch Teilen der Armee aufzuzwingen, die zurückhaltender waren und sagten, wir müssten auch Zivilisten schützen und so weiter. Es ist jetzt für jeden klar, dass die Absichten, die unsere Regierung schon früh vorgestellt hat, diesen Krieg bestimmen. Und ich glaube, dass viele Teile unserer Gesellschaft jetzt aufwachen und das erkennen.
taz: Wie frustriert sind Sie, dass Menschen das heute erst merken?
Green: In der Politik geht es um Macht. Es geht nicht darum, Recht zu haben. Es geht nicht darum, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Es geht darum, Macht aufzubauen, um zu ändern, was geschieht. Und dafür brauche ich offene Arme, um strategisch zu denken und Koalitionen zu bilden. Koalitionen werden immer mit Menschen geschlossen, die nicht an dieselbe Ideologie oder dieselbe Politik glauben wie man selbst. Aber das ist die einzige Möglichkeit, Macht aufzubauen.
taz: Und Sie glauben, dass Sie tatsächlich auf dem Weg zu einer breiten Koalition sind, zu einer Machtoption?
Green: Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde Premierminister Benjamin Netanjahu nicht gewählt werden. Allerdings sind Oppositionsführer wie Benny Gantz oder Naftali Bennet zwar gegen Netanjahu, doch vertreten sie keine vollkommen andere Politik. Sie unterstützen in den meisten Fällen die Kriegsverbrechen in Gaza. Sie unterstützen die Einberufung weiterer Reservisten. Dennoch wäre es ein großer Schritt nach vorn, wenn es uns gelänge, Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir von der Macht zu entfernen …
taz: … die rechtsextremen Minister für Finanzen und Innere Sicherheit …
Green: … und sie durch eine Koalition zu ersetzen, die auch nur 20 Grad weiter nach links tendiert. Kompromissbereitschaft ist keine Schwäche. Kompromissbereitschaft ist die Fähigkeit, die Realität zu sehen und den besten Weg zum Ziel zu suchen.
taz: Was heißt das konkret?
Green: Das kann heißen, dass wir mit Teilen der Koalition zusammenarbeiten müssen, die extrem rassistisch sind, die manchmal extrem faschistische Tendenzen haben. Aber wenn so das Töten in Gaza zu stoppen ist, dann ist das ein ausreichender Grund für eine solche Zusammenarbeit.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.
taz: Bei den großen Demos für Demokratie und gegen die umstrittene Justizreform, die es vor dem 7. Oktober gab, wurde die Besatzung fast nie angesprochen. Jetzt gehen die Menschen wieder auf die Straße – gegen Netanjahu, für die Geiseln. Aber auch für ein neues Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern?
Green: Wir müssen jeden Menschen zum Widerstand gegen diese Regierung bewegen, was auch immer der Grund dafür sein mag. Und Sie können jetzt jeden Samstag Hunderte, wenn nicht schon mehr als tausend Israelis sehen, die mit Bildern getöteter palästinensischer Kinder auf den Kundgebungen stehen. Wir führen diese Bilderaktion als Organisation an. Am Anfang kamen die Leute zu uns, sahen uns an und sagten: „Verräter, was macht ihr hier? Es geht um die Geiseln. Ihr beschmutzt unseren Protest!“ Und jetzt sind die Bilder der Kinder von Gaza schon auf einigen Hauptbühnen zu finden, wie bei den Protesten in Sabah und Haifa.
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taz: Benjamin Netanjahu arbeitet seit vielen Jahren daran, eine Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Jetzt ist Gaza zerstört und das Westjordanland wird immer weiter besiedelt. Welche Perspektive können Sie überhaupt noch anbieten?
Green: Es gibt nur zwei mögliche Lösungen. Die eine ist, den Palästinensern einen unabhängigen Staat an der Seite Israels zu gewähren, wo sie die gleichen Rechte wie die Israelis haben. Die zweite ist, allen Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft zu gewähren und einfach einen Staat mit gleichberechtigten Bürgern zu haben. Wir müssen uns für eine dieser beiden Möglichkeiten entscheiden. Wenn wir das nicht tun, haben wir eine Apartheid, wie wir sie jetzt schon im Westjordanland sehen. Eine kleine Minderheit kontrolliert eine große Mehrheit. Die Minderheit hat Rechte, die Mehrheit hat keine. Diese Realität wird zu mehr Gewalt führen. Wir müssen uns entscheiden.
taz: International positionieren sich immer mehr Länder kritisch gegenüber dem israelischen Vorgehen. Hilft das Ihrer Bewegung oder stärkt es eher das Narrativ, dass ohnehin immer alle gegen die Juden sind?
Green: Man kann an den Staat Israel keine anderen Maßstäbe anlegen als an den Rest der Welt. Wir sind nichts Besonderes. Insofern gelten für uns die gleichen Fragen: Begeht die Regierung Kriegsverbrechen? Ist sie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich? Und die Antwort lautet: Ja, die israelische Regierung ist für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen verantwortlich. Regierungen in aller Welt, sogar in Europa, entscheiden, nicht mitschuldig zu sein und keine Waffen zu verkaufen. Die deutsche Regierung stolpert dabei. Sie sagt etwas, nur um zu sagen, was gesagt werden muss. Aber hat sie die Macht, diese Verbrechen zu verhindern? Die hat sie. Macht sie von dieser Macht Gebrauch? Das tut sie nicht. Aber Israel ist keine in der Geschichte gefangene Antiquität, die man nicht anfassen darf.
taz: In Deutschland fühlen sich jüdische Menschen auf der Straße unsicher und vermeiden, als jüdisch erkannt zu werden.
Green: Gegen Personen zu protestieren, die ein religiöses Symbol tragen, hat nichts mit unserem Kampf zu tun. Nein, das ist einfach nur Rassismus und Antisemitismus. Was haben die Menschen in der deutschen Synagoge mit dem Staat Israel zu tun? Sind sie verantwortlich, nur weil sie Juden sind? Das ist verrückt. Andersherum wird auch das Zeigen der palästinensischen Flagge in der Öffentlichkeit in Deutschland verurteilt. Da wird behauptet, jede Person, die sich für die Rettung der Palästinenser einsetzt, sei irgendwie antisemitisch. Das ist eine sehr bösartige Lüge, die gern von der Rechten verbreitet wird.
taz: Aber sind die internationalen Proteste in ihrer Radikalität wirklich immer sinnvoll?
Green: Hass, Gewalt und Antisemitismus haben keinerlei Legitimität, niemals. Sie sind aber auch strategisch falsch. Es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen der Verurteilung dessen, was man nicht mag, und dem Aufbau von Macht, um es zu ändern. Was manche tun, ist eine selbstverliebte Selbstdarstellung, die oft sehr hermetisch daherkommt. Wenn man zig Kriterien erfüllen muss, um überhaupt in die Bewegung zu kommen, dann macht man die Bewegung kleiner. Mit dem Ziel, das Töten zu stoppen, werden sich mehr Menschen identifizieren, als wenn ich große Reden gegen Imperialismus, Zionismus und Kolonialismus schwinge. Wenn ihr den Kampf zur Ideologie macht, dann verliert ihr eine Menge Leute.
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