Judenfeindlichkeit in Deutschland: Antisemitismusforschung ohne Juden
Jüdische Forscher lehnen den offiziellen „Expertenkreis“ der Bundesregierung ab. Sie planen eine alternative Kommission und üben Kritik an einer Studie.
BERLIN taz | Wie jüdisch muss man sein, um über Antisemitismus zu forschen und als Experte konsultiert zu werden? Über diese Frage gibt es nun Streit.
Das Moses Mendelssohn Zentrum, die Amadeu Antonio Stiftung und das American Jewish Committee (AJC) in Berlin üben jetzt scharfe Kritik am neuen „Expertenkreis Antisemitismus“, den das Innenministerium einberufen hat. Dass unter den acht Wissenschaftlern und Pädagogen nunmehr kein einziger jüdischer Herkunft sei, das sei „ein einzigartiger Skandal“, erklärt Julius H. Schoeps, Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam.
Schoeps war bisher der einzige jüdische Wissenschaftler in dem Gremium gewesen, das die Bundesregierung im September 2010 einberufen hatte. Im Januar tagte das Gremium, das von zehn auf acht Teilnehmern verkleinert und zum Teil neu besetzt wurde, zum ersten Mal in neuer Runde.
Das AJC hatte sich schon zuvor über eine Studie des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung empört. Dessen Forscher hatten analysiert, wie sich rund 40 unterschiedliche Initiativen in der Hauptstadt gegen Antisemitismus engagieren – und wie sie diesen definieren. Denn laut Polizeistatistik ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle in den letzten zehn Jahren zwar zurückgegangen. Zugleich aber hat in Teilen der jüdischen Gemeinde das Bedrohungsgefühl zugenommen – bedingt durch körperliche Übergriffe wie auf den Rabbiner Daniel Alter im Jahr 2012 oder antijüdische Schmährufe, die bei Demonstrationen gegen den Gazakrieg im Sommer 2014 laut wurden.
Der AJC wirft den Forschern jetzt in einem Papier vor, sie würden diese Bedrohung ignorieren und in ihrer Studie behaupten, jüdische und andere Organisationen würden das Thema Antisemitismus sogar übertreiben, um ihre Arbeit zu legitimieren. Außerdem würden die Forscher etwa die Judenfeindlichkeit unter muslimischen Jugendlichen verharmlosen und seien selbst antiisraelisch eingestellt.
Einer der Autoren der Studie, der Forscher Michael Kohlstruck, weist diese Kritik zurück. „Dass wir jüdische Organisationen die Legitimation absprechen würden, dieser Vorwurf ist haltlos“, sagte er der taz. „Unser Ansatz war ein ganz anderer.“ Aus der Kritik des AJC spräche die „Enttäuschung, dass wir nicht das Gleiche machen wie sie“, vermutet er. Man plane nun „kein Gegenpapier“, sei aber jederzeit für eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung offen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe