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Journalistin über Schweigen zu Gaza„Deutschland, warum bist du so leise?“

Gastkommentar von Alena Jabarine

Die Journalistin Alena Jabarine hielt auf dem Hamburger Filmfest eine Rede über das deutsche Schweigen zu Gaza. Wir dokumentieren sie.

Von diesem Auftritt gibt es kein offizielles Foto: Fatih Akin (rechts) überließ Alena Jabarine beim Hamburger Filmfest die Bühne Foto: Still aus einem Videomitschnitt

F atih hat mich gebeten, ein paar Worte zu sprechen, bevor der Film beginnt. Danke, Fatih, für deine Menschlichkeit und deinen Mut.

Und ich frage mich, warum es Mut erfordern muss? Warum fällt es mir schwer – als Palästinenserin, als Deutsche, als Hamburgerin – in meiner Heimatstadt, in einem Kino, in dem ich viele Stunden meiner Jugend verbracht habe, die richtigen Worte zu finden? Zu einem Thema, das uns alle etwas angeht. Auch hier, auch heute. Auch jetzt.

Rede auf dem Hamburger Filmfest

Am Sonnabend hatte Fatih Akins neuer Film „Amrum“ beim Hamburger Filmfest Premiere. Er beruht auf dem gleichnamigen Roman seines Mentors Hark Bohm, in dem es auch um dessen Kindheit im Nationalsozialismus geht. Vor der Vorführung überließ der Regisseur der deutsch-palästinensischen Journalistin Alena Jabarine die Bühne für eine Rede, die wir hier dokumentieren. In allen Berichten über die Premiere hatte sie keine Erwähnung gefunden.

Warum widerstrebt es mir, das Naheliegende auszusprechen, so einen feierlichen Rahmen zu stören, Ihre Zeit zu stehlen, mit unangenehmen Informationen, mit der Tatsache, dass es weltweit nirgendwo so viele Kinder gibt, die Arme und Beine verloren haben, wie in Gaza. Dass Kindern Gliedmaßen mit Küchenmessern amputiert werden, während Trucks mit Narkosemitteln vor Grenzen warten, die geschlossen sind, weil Menschen das so entschieden haben.

Dass hunderttausende Kinder jetzt schon im dritten Jahr nicht mehr zur Schule gehen. Dass Gaza zu einem Friedhof der Kinder geworden ist, ihrer Mütter und Väter. Einem Friedhof der Journalisten, der Ärzte. Gestern verkündete Ärzte ohne Grenzen, sie seien gezwungen, ihre lebenswichtigen medizinischen Aktivitäten in Gaza-Stadt einzustellen.

Kontaminierte Erde, in die Luft gesprengte Universitäten, Essenspakete aus der Luft, die Kinder erschlagen. 10.000 Tote, 50.000, 250.000 Tote – was macht es denn hier überhaupt für einen Unterschied? Gelingt es uns doch nicht einmal, Palästinenser als Menschen zu sehen. Warum, frage ich mich, gelingt es uns nicht?

Hannah Arendt spricht von einem Gefühl eines leeren Raumes, der sich um einen bildet im Schock, nicht darüber, was ihre Feinde, sondern darüber, was ihre Freunde taten – oder NICHT taten –, als Unrecht sich ausbreitete. Es gibt noch immer leere Räume in Deutschland. Es sind neue leere Räume dazu gekommen. Ich weiß nicht, ob dieser Raum hier voll oder leer ist.

Du ertrinkst in einem Pool, während am Beckenrand deine Nachbarinnen, Kollegen, die Lieblings-Promis stehen. Vielleicht bekunden sie Mitleid. Vielleicht debattieren sie, wie man das wohl nennen mag, was sich da gerade vor ihren Augen abspielt, welche Begriffe denn jetzt, an diesem Zeitpunkt, angebracht wären, und welche doch umstritten? Für welche Begriffe es noch zu früh sei, denn noch seist du ja nicht ertrunken, noch atmest du, schnappst nach Luft. Doch keiner streckt die Hand aus, um dich zu retten. Im Gegenteil.

Bild: Tim Oehler

Alena Jabarine

geboren 1985, ist Deutsch-Palästinenserin und arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Sie lebte von 2020 bis 2022 für drei Jahre in Ramallah im Westjordanland und hat darüber das Buch „Der letzte Himmel“ (2025) geschrieben.

Erst am Freitag bezog sich Benjamin Netanyahu während seiner Rede vor den UN, für die er eine ungewöhnliche Route fliegen musste, um einer Verhaftung auf europäischem Boden zu entgehen, auf Worte unseres Bundeskanzlers. Zitat Netanyahu: „Der deutsche Bundeskanzler Merz gab die Wahrheit zu. Er sagte: Israel macht die Drecksarbeit für uns alle.“

Wir schauen uns Filme aus der Vergangenheit an, als wäre es ein abgeschlossener Prozess. Der Vorhang wird sich schließen, wir werden nach Hause gehen, vielleicht berührt, vielleicht entsetzt. Die meisten von uns werden sich während dieses Films heute vermutlich mit der widerständigen Tessa identifizieren. Nie, auf keinen Fall, wären wir jemals eine Mitläuferin, eine Regime-treue Hille. Doch wissen wir das sicher?

Warum haben wir in Deutschland mehr Angst vor einem Skandal auf dem Filmfest als vor den Fragen zukünftiger Generationen?

Geschichte ist nie vorbei. Sie ist Teil unserer Gegenwart, ein Teil von uns, wir sind die Fortsetzung dieser Geschichten. Wir sind die Protagonisten der Filme, die unsere Kinder und Enkelkinder in den kommenden Jahrzehnten in Kinosälen schauen und sich fragen werden: Was hätte ich getan?

Als ein Völkermord stattfand – und Deutschland noch immer weiter Waffen lieferte? Und Sanktionen boykottierte? Als Deutschland sich weigerte, verletzte Kinder aufzunehmen, während Kommunen und Ärzte ihre Hilfe anboten? Denn ihre Begleitpersonen könnten ja gefährlich sein, hieß es aus deutschen Behörden.

Und wir? Schweigen.

Warum haben wir in Deutschland mehr Angst vor einer Abmahnung, vor einem diffamierenden Artikel, vor der Absage einer Filmproduktion, als vor unserem eigenen Gesicht im Spiegel? Warum haben wir mehr Angst vor einem Skandal auf dem Filmfest, vor Fragen von Geldgebern, als vor den Fragen zukünftiger Generationen?

Am Montag legten die italienischen Basis-Gewerkschaften als Protest gegen den Genozid einen Großteil des öffentlichen Lebens lahm: Schulen, Häfen, Logistik, öffentliche Dienste. Italien stand still.

Am Dienstag formalisierte Spanien ein komplettes Waffenembargo gegen Israel. Ministerpräsident Pedro Sánchez erklärte, Spanien werde „auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“.

Am Donnerstag erklärte Sloweniens Präsidentin Nataša Pirc Musar auf der 80. Generalversammlung der Vereinten Nationen: „Wir haben den Holocaust nicht gestoppt. Wir haben den Völkermord in Ruanda nicht gestoppt. Wir haben den Völkermord in Srebrenica nicht gestoppt. Jetzt haben wir keine Entschuldigungen mehr; wir müssen den Völkermord in Gaza stoppen.“

Deutschland, warum bist du so leise?

Und warum sind nur so Wenige es nicht?

Die 18-jährige Judith Scheytt befindet sich in diesem Moment, während wir hier uns auf einen Film freuen, auf dem Segelboot Paola 1 südlich von Kreta auf dem Weg nach Gaza. Sie erträgt das Summen israelischer Drohnen über ihrem Kopf, weil sie nicht mehr bereit ist, nichts zu tun, die vermeintliche Handlungsunfähigkeit zu akzeptieren, die sie spürte, als sie in ihrem Kinderzimmer jeden Tag die Bilder gleichaltriger Mädchen sah, die verstaubt und leblos aus Trümmern gezogen wurden. So nahm sie, eine junge Frau aus einem Dorf bei Stuttgart, nur wenige Wochen nach ihrer letzten Abiturprüfung, den Zug nach Catania und bestieg dort ein Boot, beladen mit Babynahrung.

Es sind Menschen wie Judith Scheytt, und die Crews der 41 weiteren Boote, die jetzt ihr Leben riskieren. Es sind Menschen wie Judith Scheytt, an die man sich erinnern wird. Sie ist die Protagonistin zukünftiger Filme. Weil Judith verstanden hat, dass es eigentlich immer nur um eine Frage geht: Was tun wir, wenn Menschen gedemütigt, entrechtet und vernichtet werden, egal wo, egal wann, egal auf welche Weise?

Wer bin ich, wer bist du in Zeiten von Unrecht?

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