Jesidinnen über den Genozid: „Die Gräueltaten werden relativiert“
Vor 10 Jahren begann der Genozid an den Jesid*innen im Irak. Hakeema Taha und Düzen Tekkal sagen, das Leid sei noch nicht vorbei.
taz: Frau Taha, Frau Tekkal, zum zehnten Mal jährt sich der Überfall durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) auf die Jesid*innen im Nordirak am 3. August. Was bedeutet dieser Tag für Sie?
Hakeema Taha: Jedes Jahr ist diese Zeit sehr aufwühlend. Zwar meinen manche, wir sollten die Vergangenheit hinter uns lassen. Aber solange der IS noch existiert, werden wir nicht vergessen, was uns angetan wurde. Auch nicht in 100 Jahren.
45, wuchs als Kind jesidischer Kurden in Deutschland auf. Als der IS die jesidischen Gebiete in Sindschar im Nordirak überfiel, berichtete sie vor Ort. Mit ihrer Organisation HÁWAR.help engagiert sie sich für Mädchen und Frauen im Irak, Afghanistan und Deutschland. Die Genozid-Anerkennung durch den Bundestag hat sie maßgeblich vorangetrieben.
Düzen Tekkal: Es ist wichtig, sich klarzumachen: Der 3. August 2014 ist ein Bruch im kollektiven Gedächtnis der jesidischen Religionsgemeinschaft. Es gibt ein Leben von Jesiden davor und danach. Die meisten, die mit dem Völkermord konfrontiert waren, sind nicht mehr in ihre alten Leben zurückgekehrt.
taz: Auch Sie nicht, Frau Tekkal, obwohl Sie zu Beginn des Angriffs in Deutschland waren. Noch im selben Monat sind Sie auf eigene Faust in den Irak gereist.
Tekkal: Der IS kontrollierte damals noch weite Landstriche im Irak und in Syrien. Die Öffentlich-Rechtlichen wollten mich nicht versichern, meinten, die Reise sei zu gefährlich. Also bin ich selbst los, mit meinem Vater, trotz vieler Morddrohungen.
Ich bin keine Hasardeurin. Ich liebe das Leben. Aber ich wollte nicht tatenlos zusehen, sondern den Horror dokumentieren. Mit der Entscheidung habe ich das Leben meiner ganzen Familie verändert. Und meins. Ich bin dort als Journalistin hin und bin heute Menschenrechtsaktivistin. Immer wieder kehre ich an den Ort des Grauens zurück.
taz: Frau Taha, auch Ihr Leben hat sich durch den Völkermord gravierend verändert. Als 19-Jährige wurden Sie von IS-Kämpfern verschleppt. Dabei hätten Sie eigentlich noch gerettet werden können.
29, wurde als 19-jährige von IS-Kämpfern aus ihrem Dorf Kojo verschleppt. Sie konnte fliehen und kam 2015 nach Deutschland. Heute arbeitet sie als Pflegeassistentin. Als Aktivistin setzt sich Taha für die Aufklärung des Völkermordes und die Rechte der Überlebenden ein. Auf der Hand trägt sie ein Tattoo mit dem Namen ihres ermordeten jüngsten Bruders.
Taha: Ja. Als wir gehört haben, dass erste jesidische Dörfer angegriffen werden, wollten wir in die kurdischen Gebiete fliehen. Doch der Weg war bereits von IS-Leuten versperrt. In die andere Richtung konnten wir nicht. Unsere muslimischen Nachbarn in den arabischen Dörfern haben dem IS geholfen. Sie haben uns verraten.
Zwölf Tage lang waren wir in unserem Dorf eingeschlossen. Internationale Hilfe hat uns in dieser Zeit auch nicht erreicht. Das verstehe ich nicht. Wir waren nur etwas mehr als 1.000 Menschen. Zwei Flugzeuge hätten uns evakuieren können.
Tekkal: Die Jesiden wurden damals alleingelassen. Der Völkermord ist ein Beispiel dafür, was mit Religionsgruppen passiert, wenn wir die Gefahr des Islamismus, des religiösen Extremismus unterschätzen und die Weltgemeinschaft wegguckt. Das muss uns eine Lehre sein.
taz: Insgesamt tötete und verschleppte der IS damals mehr als 10.000 Jesid*innen, viele werden noch vermisst. Vertrieben wurden Hunderttausende. Sie, Frau Taha, haben 19 Familienmitglieder verloren.
Taha: Meine Eltern, sieben Brüder, einige Cousinen und Cousins, meine Schwägerin, meine Schwiegermutter, Neffen und eine Nichte: 15 von ihnen wurden direkt erschossen. Von den anderen habe ich seither nichts mehr gehört.
taz: Sie selbst wurden entführt, über Mossul nach Rafah in Syrien gebracht und versklavt. Wie haben Sie es geschafft, zu entkommen?
Taha: Wir waren mehrere Wochen unterwegs. Ständig wurden wir geschlagen, gedemütigt und ausgelacht, wenn wir gesagt haben, dass wir nach Hause möchten. Viele Frauen wurden vergewaltigt. Nach einiger Zeit waren meine Schwester und ich bei einem Mann, der eigentlich aus Australien kam. Er brauchte uns als Haushaltshilfen, weil seine Frau krank war. Einmal, als er nicht da war, hat die Frau uns erlaubt, mit einem unserer Brüder zu telefonieren, der auch überlebt hat.
taz: Der hat Ihnen dann bei der Flucht geholfen?
Taha: Er hat einen Freund geschickt. Anfang November, ich weiß es noch ganz genau, um 18 Uhr. Es war schon dunkel. Wir sind in schwarzer Kleidung rausgegangen, haben gesagt, dass wir den Müll wegbringen. Dann wurden wir abgeholt und in ein Camp für Vertriebene nach Kurdistan gebracht. Dort haben wir endlich unseren Bruder getroffen. Das war sehr schön und traurig zugleich, weil so viele Angehörige nicht da waren.
taz: In diesem Camp haben Sie ein Jahr gelebt, bevor Sie über ein Hilfsprogramm des Landes Baden-Württemberg nach Deutschland kamen. Wie kam es dazu?
Taha: Ich wollte erst gar nicht, sondern bei meinen verbliebenen Familienmitgliedern bleiben. Irgendwann habe ich es im Camp jedoch nicht mehr ausgehalten und mich für das Programm gemeldet. Auch in Deutschland war es anfangs schwer. Ich habe viel geweint. Besser wurde es erst, als wir mit der Schule beginnen konnten. Und durch die psychosoziale Unterstützung, die wir bekommen haben. Dafür bin ich sehr dankbar.
taz: Seit einigen Jahren sprechen Sie öffentlich über Ihre Geschichte, obwohl der Islamismus auch hier in Deutschland eine Gefahr ist. Haben Sie keine Angst?
Taha: Am Anfang hatte ich Angst. Auch um meine Angehörigen im Irak. Nach ein paar Jahren habe ich mir gedacht: Okay, komm, wenn du jetzt nicht kämpfst, eine die 19 Familienmitglieder verloren hat, wer sonst? Beweg dich endlich!
Tekkal: Wenn man die individuelle Angst überwindet, kann daraus eine unglaubliche kollektive Kraft und Stärke entstehen. Als ich mich 2014 auf den Weg in den Irak gemacht habe, war das eine prägende Erfahrung. Mir wurden Bilder von toten Frauen geschickt und dazu geschrieben: „Du bist die nächste!“ Wie wichtig es ist, sich davon nicht einschüchtern zu lassen, sehen wir heute. Keiner kann mehr behaupten, den Genozid habe es nicht gegeben.
taz: Stimmt. Sie haben unter anderem den Deutschen Bundestag dazu bewegt, den Völkermord an Ihrer Religionsgemeinschaft im Januar 2023 formal als solchen anzuerkennen.
Taha: Wir Überlebenden waren als Gäste in den Bundestag geladen, als das verkündet wurde. Wir haben uns damals sehr gefreut. Leider ist seither viel zu wenig passiert. Noch immer ist unsere Heimat weitgehend zerstört und der Irak ist für die Jesiden nicht sicher. Die meisten von ihnen leben dort seit Jahren in Camps unter unmenschlichen Bedingungen. Trotzdem schiebt Deutschland wieder Jesiden in den Irak ab.
taz: Dabei haben die Abgeordneten damals einstimmig beschlossen, sich „mit Nachdruck“ für den Schutz jesidischen Lebens einzusetzen.
Taha: Ich verstehe es wirklich nicht. Zumal auch einige, die in den letzten Monaten Abschiebebescheide erhalten haben, während des Genozids Familienmitglieder verloren haben. Mein Bruder zum Beispiel oder der Mann meiner Schwester.
Im Irak sind Jesid*innen so bedroht wie lange nicht. Das 2021 von der irakischen Regierung beschlossene Yazidi Survivors Law, das Jesid*innen Wiederaufbau und Reparationen versprach, steht auf der Kippe. Das Mandat für die UN-Organisation Unitad, die die Gräueltaten des IS dokumentierte und in den jesidischen Gebieten nach Massengräbern suchte, soll nicht verlängert werden. Camps für Binnenvertriebene, in denen noch immer etwa 157.000 Menschen leben, sollen schließen. Zurück in ihre Heimat in der Region Sindschar können diese Menschen nicht. Dort ist es nicht sicher, zudem ist die Mehrheit der öffentlichen Infrastruktur und der Privathäuser zerstört.
In Deutschland lebt mit mehr als 250.000 Menschen die weltweit größte jesidische Diaspora. Viele irakische Jesid*innen müssen aber Abschiebungen fürchten. Zwar hat der Deutsche Bundestag den Völkermord anerkannt und Maßnahmen beschlossen, um jesidisches Leben zu schützen. Einen humanitären Schutzstatus für irakische Jesid*innen, wie ihn seit Jahren Menschenrechtsorganisationen fordern, hat das Parlament jedoch nicht verfügt. Einige Bundesländer haben mit temporären Abschiebestopps reagiert. Eine bundesweit einheitliche Regelung scheitert bislang an den CDU/CSU-geführten Ländern und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).
Tekkal: Man muss es so hart sagen: Die Jesiden werden wieder im Stich gelassen. Nach allem, was passiert ist und nachdem mutige Frauen wie Hakeema Taha ihre Geschichten öffentlich gemacht haben, ist das unfassbar.
taz: Für das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge gilt der Irak als sicheres Herkunftsland. In einem Bericht heißt es, die Jesid*innen würden dort zwar unter weitreichender Diskriminierung leiden, jedoch nicht unter systematischer Verfolgung. Der IS sei militärisch besiegt.
Tekkal: Hakeema hat es vorhin auf den Punkt gebracht. Wer war denn der IS? Unter den Tätern waren teilweise auch eigene Nachbarn. Die große Gefahr für die Jesiden ist ideologisch. Die Idee des IS versetzt die ganze Welt in Angst und Schrecken. Und der antijesidische Rassismus nimmt wieder zu. Die Gräueltaten an den Jesiden werden wieder relativiert und legitimiert. Wir müssen uns wieder beschimpfen lassen. Wie ist der Völkermord damals gelungen? Durch solche Feindbilder.
taz: Welche?
Taha: Die sind immer gleich. Es war ja nicht der erste Versuch, uns auszulöschen. Warum? Wegen der Religion. Weil wir keine Muslime sind, verteufeln die Islamisten uns, meinen, wir seien keine Menschen. Das Problem betrifft viele religiöse Minderheiten. Das heißt nicht, dass der Islam generell schlecht ist. Viele Muslime hießen damals nicht gut, was der IS uns angetan hat.
taz: Die Bundesregierung setzt sich diplomatisch dafür ein, die Rechte der Jesid*innen im Irak zu stärken. Frau Taha, Sie waren erst kürzlich für Filmaufnahmen dort. Wie haben Sie es erlebt?
Taha: Wir haben faktisch keine Rechte im Irak. Gerade den vielen Menschen, die in den Camps leben, geht es sehr schlecht. Im Sommer ist es heiß und das Wasser knapp. Eine meiner Cousinen dort hat mir gesagt, sie bekämen nur einmal in der Woche welches. Damit müssten sie extrem haushalten, sonst reiche es nicht. Und den Menschen fehlt eine Zukunftsperspektive. Sie können weder weggehen, noch gibt es ausreichend Arbeit.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Um den irakischen Jesid*innen die Rückkehr aus den Camps in ihre Heimat zu ermöglichen, versucht die Bundesregierung, die Region mit Hilfsmitteln zu stabilisieren. Gleichzeitig bombardiert der Nato-Partner Türkei ständig die angrenzenden kurdischen Gebiete. Und das, obwohl die Hilfe für die Jesid*innen damals maßgeblich von Kurd*innen ausging.
Tekkal: Davon geht auch für die Jesiden im Irak die größte Gefahr aus. Wie kann es sein, dass Nato-Bündnispartner völkerrechtswidrige Angriffe fliegen? Und über Afrin wird gar nicht mehr gesprochen. Seit Jahren löscht die Türkei dort mit Zwangsumsiedlungen kurdisches und jesidisches Leben aus.
Erdoğan ist für das Erstarken des Islamismus und des religiösen Extremismus mitverantwortlich. Seine Nähe zur Muslimbruderschaft und der Hamas sowie seine Rolle in der Zweiteilung der Gesellschaften in liberal und islamistisch darf nicht unter den Teppich gekehrt werden.
taz: Was müsste die Bundesregierung außenpolitisch verändern?
Tekkal: Anstatt ihnen in den Rücken zu fallen, müsste sie die Rolle der Kurden nach vorne stellen. Wir brauchen eine Trendwende in der gesamten Nahostpolitik. Wir müssen den Minderheiten im Nahen Osten aber auch uns als Europa klarmachen, dass wir Verbündete sind.
taz: Und innenpolitisch?
Taha: Ganz klar: Die Abschiebungen müssen gestoppt werden. Wir wollen uns hier ein neues Leben aufbauen. Dafür brauchen wir eine langfristige, sichere Perspektive.
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