Jeder fünfte Schüler psychisch belastet: Wo bleibt der Krisengipfel?
Klimakrise, Krieg, Leistungsdruck – darunter leiden Schüler:innen laut Schulbarometer. Um ihnen zu helfen, müsste Unterricht radikal anders werden.
E s fällt schwer, das zuzugeben, aber in einem Punkt haben AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht recht: Wir brauchen dringend einen Untersuchungsausschuss im Bundestag, der die Pandemiezeit aufarbeitet.
Nicht, um dort krude Impfmärchen zu hören oder uns mit dem altbekannten Diktaturgefasel herumzuschlagen. Sondern um allen wirklichen Covid-Leidtragenden zu zeigen: Wir – Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Medien – sind lernfähig. Wir nehmen eure Erfahrungen ernst, zumindest jetzt. Vor allem an junge Menschen ist dieses Signal überfällig: Stichwort Schulschließungen.
Es ist traurig, dass es für die kritische Rückschau auch vor dem Aus der Ampel keine politischen Mehrheiten gab. Noch schlimmer aber ist, dass die Bedürfnisse und Ängste von Kindern und Jugendlichen offensichtlich bis heute nicht ernst genommen werden. Das jedenfalls bezeugen die mehr als 1.500 Kinder und Jugendlichen, die die Robert Bosch-Stiftung für eine repräsentative Studie zum Schulalltag befragt hat.
Ihre Antworten, die am Mittwoch im „Deutschen Schulbarometer“ veröffentlicht wurden, sprechen Bände: Jede:r fünfte Schüler:in sieht sich aktuell psychisch belastet. Und zwar nicht allein wegen der Weltlage – hier nennen die Befragten am häufigsten Kriege und Klimakrise –; auch Leistungsdruck, belastete Beziehungen zu Lehrkräften und Mitschüler:innen sowie ein schlechtes Lernklima stressen Schüler:innen.
Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen sind häufiger psychisch belastet
Die Folge: Ein Fünftel fühlt sich in der Schule dauerhaft nicht wohl. Gleichzeitig erhält ein Viertel der Kinder und Jugendlichen, die psychosoziale Hilfe in Anspruch nehmen möchten, an ihrer Schule selbst auf Nachfrage keine Hilfe. Auf außerschulische Angebote ist leider auch kein Verlass: Ein therapeutisches Erstgespräch kommt im Schnitt erst nach vier Monaten zustande.
Das Barometer bestätigt damit, was Schülervertreter:innen immer wieder kritisieren: Obwohl psychische Erkrankungen auch nach der Pandemie ein Riesenproblem sind, hat das Thema an Schulen keine Priorität. Das lässt sich auch an anderen Zahlen ablesen: Nach einer bundesweiten Erhebung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) vom August dieses Jahres muss sich ein:e Schulpsycholog:in im Schnitt um 5.218 Schüler:innen kümmern.
Möchte man hier noch etwas Positives finden, dann ließe sich anführen, dass der Bund und einige Länder mittlerweile Modellprojekte zu Mental Health an Schulen gestartet haben. Rein statistisch gesehen bleibt es aber ein Glücksfall, ob ein:e Schüler:in psychologisch betreut werden kann.
Oder – eher wahrscheinlich – eine Frage der sozialen Herkunft. Zumindest sind Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen fast doppelt so häufig psychisch belastet. Auch das ein Ergebnis des Schulbarometers. Mehr Personal an Schulen hieße also auch: die Chancenungleichheit im Land etwas abzufedern.
Unterricht muss radikal anders werden
Es wäre schön, wenn der Noch-Kanzler auch dazu mal einen Krisengipfel einberufen würde. Immerhin betrifft die jugendliche Psyche auch die nationalen Wirtschaftsinteressen: Psychische Erkrankungen, betonen Forscher:innen, sind der Hauptgrund dafür, dass Menschen arbeitsunfähig werden. Die gute Nachricht für die Länder: Sie müssen nicht auf Olaf Scholz (oder Friedrich Merz) warten, um aktiv zu werden.
Es gibt Möglichkeiten, schnell Druck vom Kessel zu nehmen. Aber dafür müssten Ministerien und Schulen den Unterricht radikal anders gestalten: weg vom Leistungsprinzip mit Noten, klaren Hierarchien und Frontalunterricht. Hin zum eigenständigen Lernen, bei dem Lehrkräfte tatsächliche Lernbegleiter:innen sind.
Pilotprojekte wie die Bonner Siebengebirgsschule zeigen: Ist der Unterricht komplett anders gestaltet, setzt das Kapazitäten für individuelles Feedback frei. Dieses wiederum kann den Ausschlag dafür geben, ob sich Schüler:innen wertgeschätzt fühlen oder nicht. Auch das ist ein Ergebnis der Umfrage der Bosch-Stiftung.
Übrigens können sich Ministerien und so manche Schule auch in Sachen Partizipation bei solchen Pilotprojekten eine Scheibe abschneiden. Es lohnt sich, junge Menschen mitreden und mitentscheiden zu lassen. Mehr Mitbestimmung an den Schulen würde dazu beitragen, dass sich junge Menschen im Land endlich ernster genommen fühlen. Gerade in diesen Zeiten wäre damit viel gewonnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen