Jazzfestival Moers und Corona: Feilen an den Sprachen des Jazz
Teils live, teils im Stream: Das Jazzfestival Moers lotetete über Pfingsten die Vielfalt des freien Jazz und der improvisierten Musik aus.
„Diese schräg aussehenden Typen taten am Ende auch nichts anderes als sie selbst. Sie tranken Bier und aßen Pommes. Manchmal machten sie allerdings auch höllischen Lärm.“ Mit diesen Worten beschreibt der Free-Jazz-Pionier Peter Brötzmann den anfänglichen Argwohn der Bürger im niederrheinischen Moers, als dort 1972 das erste New Jazz Festival stattfand und Horden von jungen Leuten in das beschauliche Städtchen einfielen.
Der aus Wuppertal stammende Tenor-Berserker Brötzmann hatte zusammen mit dem Moerser Konzertveranstalter Burkhard Hennen die Idee, mit dem Festival dem in Deutschland gerade neu entstehenden Free Jazz eine größere Bühne zu geben. Der freie Jazz war es immerhin, der junge europäische Musiker dazu zwang, ihre erste eigene Jazzsprache zu entwickeln und sich aus dem Klammergriff ihrer amerikanischen Vorbilder zu lösen.
Seit fast einem halben Jahrhundert gilt das Moers Festival nun schon immer zu Pfingsten als Treffpunkt der musikalischen Avantgarde, der unerwarteten Experimente und Kooperationen. Es hat politische Untiefen durchschwommen, harsche Sparmaßnahmen überstanden, wurde angefeindet und hat sich trotzdem immer wieder neu erfunden. 2020 fand Moers komplett digital statt, auch bei der aktuellen 50. Ausgabe hatte man mit den Folgen der Coronapandemie zu kämpfen. Deshalb und aus dem Selbstverständnis heraus, ein politisches Festival sein zu wollen, hieß das Motto 2021 „Der Kampf um die Zukunft“. Unter dem Titel „We insist!“ wurde debattiert über die Frage, wie politisch Kunst und Festivals im Besonderen heute sein müssen. Fragen, die das Moers Festival seit den Anfangstagen umtreiben.
Die Konzerte liefen bei Arte im Livestream. Aber immerhin vier Abendshows mit je zwei Acts konnten mit begrenztem Publikum live draußen am sogenannten Rodelberg stattfinden, einer Wiese mit Anhöhe und der Beschaffenheit eines Amphitheaters. Hybrides Denken zwischen analogen und digitalen Angeboten dürfte auch angesichts des Klimawandels die Ausgangslage sein für künftige Festivalplanungen, auch jenseits der Pandemie, nicht nur in Moers und nicht nur in der Musik.
Titanen der Jazzgeschichte
Am Rodelberg spielten am ersten Festivaltag mit der französischen Kontrabassistin Joëlle Léandre und dem New Yorker Schlagzeuger Gerald Cleaver gleich zwei Titanen des freien Jazz. Am späteren Abend – glücklicherweise immer noch regenfrei – kam zum ersten Publikumskonzert mit dem Saxofonisten und Trompeter Joe McPhee, Jahrgang 1939, ein weiterer Altmeister hinzu. Seit zwei Jahren kooperiert der Amerikaner mit dem deutlich jüngeren Londoner Improv-Jazz-Trio Decoy. Hammondorgel, Bass und das variable offene Spiel von Drummer Hamid Drake ergänzen sich wie selbstverständlich mit McPhees Saxofonarbeit, die viel aus altem Blues schöpft. Eine Musik zwischen Entspannung, Energie und einer leidenschaftlich gesungenen Beschwörung zum Tod von John Coltrane 1967.
Die Planung eines Festivals erfordert in pandemischen Zeiten ständiges Anpassen an neue Bedingungen. „In den letzten sechs bis acht Wochen vor dem Start wurden zwei Drittel des Programms wieder umgeworfen“, erklärte der künstlerische Leiter Tim Isfort. Improvisation als zentrales Element des Jazz ist unter diesen Umständen auch auf der organisatorischen Ebene gefragt. Dass dies aber nicht automatisch nur Rückschläge wie Konzertabsagen sein müssen, zeigte die kurzfristige Buchung von Pianostar Brad Mehldau. Der Amerikaner spielte in der mit grünen Ballons ausgeschmückten Festivalhalle, zwischen Weltraum- und Hippieästhetik, ein sehr fokussiertes Solokonzert, unter anderem mit seinen Bearbeitungen von Popsongs wie etwa von Radiohead.
Als weiterer großer Name im Programm gab Gitarrist John Scofield am Samstag ein entspanntes Soloset mit eingängig interpretierten Jazzklassikern von Miles Davis und John Coltrane sowie der anrührenden Folkballade „Danny Boy“. Mit gut 500 Menschen war der Rodelberg an diesem Abend ausverkauft und Scofield dürfte der einzige Musiker während der vier Festivaltage gewesen sein, der eine Zugabe spielen durfte.
Hungrig auf echte Livemusik
Ansonsten galten auch wegen der Livestreams strikte Ablaufpläne und natürlich die Schnelltests für alle KünstlerIinnen, JournalistIinnen, BesucherIinnen und sonstigen Gäste. Am Rodelberg achteten Festivalordner und Ordnungsamt auf die Einhaltung der AHA-Gebote. Das nimmt man klaglos hin, hungrig auf echte Livemusik. Nur auf die nach den Konzerten abgefeuerten Beifallssalven per Knopfdruck über die Hausanlage hätte man gern verzichtet.
Corona war es dann auch, das dem geplanten Fokus auf Musik aus Äthiopien den Garaus gemacht hat. Das soll im nächsten Jahr nachgeholt werden. Die Öffnung für die Musik aus Afrika und Asien ist bereits seit vielen Jahren Teil des Moers Festivals. Immerhin drei Bands aus Kongo, Uganda und Äthiopien konnten kommen: Der Tänzer Melaku Belay und seine Band Fendika aus Addis Abeba bedienen sich der alten Azmari-Tradition Äthiopiens. Die elektrisch verstärkte Laute Krar und die einsaitige Masenko, eine Art rudimentärer Geige, bauen immensen Druck und Energie auf. Schön anzusehen auch, wie sich die vier Musiker in traditioneller Kleidung in bester Rockposer-Manier gegenseitig anfeuern.
Ein echtes Highlight war auch der energetische Auftritt der ugandisch-englischen Formation Nihiloxica am Rodelberg. Die uralten Rhythmen des vorkolonialen Königreichs Buganda treffen hier auf die harsch schleifenden, maschinellen Sounds dunklerer Technospielarten. Die vier Perkussionisten inklusive Sänger aus Uganda sowie ein Schlagzeuger und Keyboarder aus London zeigten, wie viel Kraft, Seele und zwingend tanzbare Energien eine Begegnung zwischen vermeintlich so konträren Kultur- und Zeiträumen erzeugen kann.
Das Abschlusskonzert bestritt mit dem Gitarristen Fred Frith in der Drei-Gitarren-Formation Back to Basics dann ein Urgestein des Festivals. Eine Musik zwischen Freiheit und loser Komposition und einer Portion höllischem Lärm, ganz im Geiste der fast 50-jährigen Festivalgeschichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs