Jazzfest Berlin gestreamt: Ist Berlin doch eine Wolke?
Weil vielen das Feeling von Livekonzerten fehlt, hatte das Jazzfest Berlin als Streamingevent ein großes Publikum. Der Rückblick.
Mit den Festivals dieser Coronapandemie-Tage ist es eine Crux: Obwohl das Amalgam der digitalen Übertragung via Stream auch nicht ansatzweise in der Lage ist, das berüchtigte „Feeling“ von Livekonzerten im Wohnzimmer zu vermitteln, so unausweichlich ist seine Akzeptanz, wenn man nicht gänzlich auf musikalische Bühnenkunst verzichten möchte.
Körperlichkeit, die sich in Schweiß, Blut und Tränen ausdrücken kann; Wangen, die zu bersten drohen; Muskelpartien voller Anspannung; Erschöpfung; Augenaufschläge, die bedeuten sollen, dass der Musikerkollege nun übernehmen muss, sind in ihrer mattscheibenhaften, zweidimensionalen Darstellung auf Bildschirmen und Screens leider kaum vermittelbar.
Trotzdem gibt es dafür ein Publikum: Schon am Sonntagmittag hatte es bei der Übertragung des rein virtuell stattfindenden Jazzfests Berlin 31.000 Klicks auf der Festivalseite des Medienpartners arte.Concerts gegeben, der das Live- und On-demand-Programm ausstrahlte. Das sind vergleichsweise erfreuliche Zahlen, die dem Digitalspuk eine gewisse Berechtigung geben. Das bleibt eine positive Erkenntnis des Jazzfests Berlin, das in seiner fast 60 Jahre währenden Geschichte erstmalig ohne Publikum live auskommen musste.
Erschwerte Laborbedigungen
Die erschwerten Laborbedingungen, unter denen eines der prominentesten deutschen Jazzfestivals stattfinden musste, offenbarten eine ganze Reihe an Beobachtungen zum Festivalkonzept selbst, zur Kulturlandschaft 2020 und zur hiesigen Jazzszene. Man musste nur genau hinsehen und -hören. Festzustellen ist etwa, dass ein Ortswechsel keineswegs automatisch mehr Durchlässigkeit produziert.
Das seit 2001 angestammte Haus der Berliner Festspiele stand dieses Jahr für das Jazzfest renovierungsbedingt nicht zur Verfügung. Deswegen zog es in den Wedding; eher Arbeiterviertel als Kulturstandort. Hier, in einem ehemaligen Krematorium, das heute „silent green Kulturquartier“ heißt, sollte nun die große Öffnung hin zur angestammten Bevölkerung getätigt werden.
Nur entstand dabei lediglich eine Blase innerhalb des Stadtteils – ersichtlich am Line-up, das keinerlei Angebote an (post-)migrantische Kids und Jugendliche bereithielt. Oder soll im Zuge der Quartiersentwicklung Klientelpolitik für zukünftige Gentrifizierer gemacht werden? Avantgarde-Jazz wird ja nicht deswegen ansprechender und populärer, bloß weil er mitten im Wedding stattfindet.
Die hermetische Seite der deutschen Jazzszene
Womit wir bei der nächsten Erkenntnis sind: Die deutsche Jazzszene zeigte sich in den Streams von ihrer hermetischen Seite. Das ist keine Frage der Qualität; es gab grandiose Auftritte zu bestaunen, genannt seien etwa die hochkomplexen Kompositionen des Kölner Philipp Zoubek Trios und Silke Eberhards Dezett Potsa Lotsa X.
Das Set des in Berlin ansässigen schwedischen Saxofonisten Otis Sandsjö, dessen Alben „Y-Otis“ und „Y-Otis 2“ für Furore sorgten, konnte nicht wie erhofft stattfinden. Stattdessen dekonstruierten Dan Nicholls, der auch am Album mitgearbeitet hat, und der Drummer Ludwig Wandinger das Material von „Y-Otis 2“. Nur, Spannung kam dabei nicht wirklich auf.
Geschmacklich dann doch eher problematisch war die Hommage an den US-Soulsänger Bill Withers durch die Sängerin Natalia Mateo. Sie erfüllte alle Klischees von überkandideltem Jazzgesang und zerstörte die Withers-Originale mit selbstgedichteten deutschen Textvarianten. Schrecklich, diese Inszenierung von Profis ohne jeden Selbstzweifel! Wer dazugehört, dem wird jedes Experiment verziehen – gleichzeitig werden Einflüsse von außen kaum wahrgenommen. Ist Berlin also doch eine Wolke?
Gelungener Brückenschlag
Schon eher gelang der transatlantische Brückenschlag nach New York – in den Club Roulette in Brooklyn, einen Jazzclub mit Kultstatus. Dort spielte die Saxofonistin Lakecia Benjamin ein wirklich phänomenales Set, das aus Kompositionen des Ehepaars Alice und John Coltrane bestand. Als On-demand-Videos gab es zudem die Interventionen der US-Künstlerinnen Camae Ayewa alias Moor Mother und Matana Roberts.
Roberts’ „Stay True“ ist selbst als sechsminütiges Video schlicht und ergreifend große Kunst. Auf Basis des Quilts bastelte sie ein Patchwork aus Stimmen, Saxofontönen und einem vibrierenden Video mit der klaren Botschaft „Protect Black Women“. Dazu gesellt sich in den begleitenden Texten eine Aufzählung von 19 Namen. Es sind die Namen schwarzer Frauen, die in den letzten Jahren durch Polizeigewalt umkamen.
Im Zuge der Veröffentlichung ihres Albums „Live“, das Ausschnitte vom letztjährigen Auftritt beim Festival vereint, wurde folgendes öffentlich: Kurz vor dem Abflug nach Berlin erfuhr die Band, dass ihr Bandkollege Viktor Le Gives in Chicago auf der Straße ohnmächtig geworden und in einem Krankenhaus aufgewacht war. Als sie in Berlin ankamen, wandte sich der Manager der Band an das Produktionsteam des Jazzfest Berlin, um sie über die Situation zu informieren. Die erste Reaktion: Falls ihr keinen Ersatz findet, müssen wir das Honorar kürzen.
Die Festivalleitung, die damals nicht involviert war, war nun um Schadensbegrenzung bemüht; es ging dieser Tage eine Mail an Künstlerin und Management mit einer Entschuldigung raus.
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