Jahreswechsel als Zeitenwende: Die Zeit zwischen den Jahren

Grauzone, Niemandsland, Fantasie und Erinnerung: Über die Bedeutung der Zwischenzeit, die dem Warten gehört und den wilden Jagden.

Viele Menschen von oben

Zwischenzeiten sind Pausen, Zeiten des Wartens Foto: Alexander Spatari/getty

Binäre Distinktionen sind tückisch. Aus ihrer Logik ergibt sich ein Paradox: Je strenger die Opposition formiert wird, desto leichter zwingt sie zur Teilhabe am Ausgeschlossenen. Im Zeichen des radikal Guten werden böse Taten begangen; gerade die besten Freunde können zu schlimmsten Feinden mutieren. Die gegensätzlichsten politischen Positionen können eine Art von Allianz bilden: So wird gegenwärtig ein Bündnis zwischen rechten und linken Populisten nicht nur in der italienischen Regierung, sondern auch auf Pariser Straßen praktiziert.

Oder denken wir an die ungezählten Mauern, die seit mehr als zehntausend Jahren errichtet wurden: Sie wurden gern als Doppelmauern geplant und aufgebaut, um nicht einmal die Grenzen mit etwaigen Eindringlingen teilen zu müssen. Aber die Trennung der Funktionen des Inklusiven und Exklusiven führt regelmäßig zur Entstehung eines Dazwischen, das im Falle der Doppelmauern als Niemandsland bezeichnet wird, in Ethik und Politik dagegen als Grauzone oder alternativloser Sachzwang.

Was Räume und Territorien betrifft, gilt auch für die Zeit. Wir kennen Zwischen­zeiten wie die Zwischenkriegszeit zwischen 1918 und 1939, aber auch Zeiten zwischen verschiedenen Regierungen wie das Interregnum nach der Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch Papst Innozenz IV. (1245) und der Wahl Rudolfs I. (1273); heute erleben wir solche politischen Zwischenzeiten während schwieri­ger Phasen der Ko­ali­tions­bildung nach einer Wahl.

Zwischenzeiten, „Niemands­zeiten“, sind auch Pausen und Zeiten des Wartens. Wir warten nicht gern, doch wer wartet, kann sein Warten mit eigenen Inhalten füllen, womöglich gar mit einer Art von Zuneigung zur verstreichenden Zeit. Die Prozesse kultureller An­reicherung des Wartens, die zunehmend bewussten Wahrnehmungen von Zwischenzeiten, Verzögerungen, Unterbrechungen und Pausen begünstigen die Übung elementarer Kompetenzen: etwa die Fähigkeit, Vergangenes zu analy­sieren und zu reflektieren, aber auch die Fähigkeit, das Bevorstehende, Heran­nahende vorwegzunehmen und zu planen.

Der Pflock des Augenblicks

Perspektivwechsel und Beratungen bremsen den Tatendrang, schieben sich zwischen Situationen und Entscheidun­gen, zwischen Ereignisse und Reaktionen. Während viele Umstände routiniert – ohne Zwang zur Reflexion – bewältigt werden können, offenbart sich das mögli­che Glück oder Unglück einer konkreten Lage erst in den polymorphen Verzögerungen der Schritte von einer Herausforderung zur Handlung. Die aktuelle Frage lautet dann schlicht: Was tun?

Diese Frage kostet Zeit und bringt doch zugleich Zeit hervor. Während die Tiere – nach Nietzsches viel zitiertem Wort – an den „Pflock des Augenblicks“ gebunden sind, können Menschen warten, anders gesagt: Sie können entwerfen, experimentieren, ausprobieren, Risiken abschätzen oder Trends berechnen. Menschen sind Experten des Aufschubs, was uns – etwa bei Klimakonferenzen – auch zur Verzweiflung treiben kann.

Dabei ist die Zeitrechnung viel älter als die Schrift

In „Masse und Macht“ betont Elias Canetti die Bedeutung der Chronologie und der Zeitrechnung für das Selbstverständnis von Kulturen; er konstatiert: „Nach Ord­nungen der Zeit lassen sich Zivilisationen noch am ehesten umgrenzen. Ihre Bewährung besteht in der Dauer ihrer geregelten Überlieferung. Sie zerfallen, wenn niemand diese weiterführt. Ihre Zivilisation ist zu Ende, wenn es ihr mit ihrer Zeitrechnung nicht mehr ernst ist.“ Doch ist es eben gar nicht so leicht, die Zeitrechnung ernst zu nehmen! Unterbrechungen und Zwischenzeiten – von der Geschichtswissenschaft oft als dark ages, dunkle Zeitalter, apostro­phiert – fallen gleichsam aus dem Rhythmus geordneter Annalen heraus. Sol­che „dunklen Zeitalter“ entspringen einem Fehler oder dem schlichten Mangel an schriftlichen Aufzeichnungen.

Von Himmelskörpern und Sonnengöttern

Dabei ist die Zeitrechnung viel älter als die Er­findung der Schrift. Vor Jahrtausenden wurde Zeit als himmlische Zeit beobach­tet und gemessen: als Zyklus der Bewegungen von Himmelskörpern, als Rhyth­mus der kosmischen Natur; erst viel später wurde sie in chronologische Regi­ster eingetragen. Zeit kann mit Hilfe himmlischer oder irdischer Maschinen be­rechnet werden. Als Himmelsmaschine diente beispielsweise in der griechischen Antike der „Schatten­stab“, der Gnomon, – ein Vorläufer der Sonnenuhr – oder das Planetarium im „Goldenen Haus“ des römischen Kaisers Nero.

Irdische Maschinen zur Zeitberechnung beruhen dagegen auf den mathematischen Kalkulationen einer Kalenderrechnung, auf den dynastischen Listen von Herrschergeschlechtern oder auf den mechanischen Konstruktionen einer Uhr. Irdi­sche Zeitmaschinen funktionieren unabhängig von den Zyklen der Gestirne; und sie dominieren das zeitgenössische Bewusstsein. Wer blickt heute noch zum Himmel, um die Tageszeit zu bestimmen? Und wer beobachtet noch den Aufgang der Sternbilder, um die Jahreszeiten oder den Zeitpunkt der Tagund­nachtgleichen möglichst exakt zu schätzen?

Doch gerade die aktuelle „Zwischenzeit“, die das alte vom neuen Jahr trennt, und die wir gewöhnlich mit dem Ausdruck „zwischen den Jahren“ bezeichnen, führt zu den Himmelskörpern zurück. Erinnern wir uns an die Vorgeschichte. Nach Kaiser Aurelians Eroberung der Stadt Palmyra – im Jahr 272 – ordnete der Imperator an, künftig den 25. Dezember, Tag der Wintersonnenwende im alten Rom, als Geburtstag des unbesiegbaren Sonnengottes Sol Invictus zu feiern.

Sonne schlägt Mond

Mit dieser Entscheidung verlieh Aurelian dem wichtigsten Festtag des Mithraskults, der sich gerade unter den Legionen hoher Popularität erfreute, eine staatspoli­tische Basis, die jedoch kaum länger als vierzig Jahre tragfähig blieb, genau gesagt: bis zum Mailänder Edikt von 313 und zur sogenannten konstantini­schen Wende. Im Jahr 325 berief Kaiser Konstantin das Konzil von Nicäa ein, das – neben vielen drängenden Fragen – auch das christliche Kirchenjahr fest­legte.

Dabei erhielt die Sonne den Vorzug vor dem Mond: Weihnachten wurde auf den 25. Dezember gelegt, und nur die Berechnung des Ostertermins sollte auch den Mondstand einbeziehen, gemäß der bekannten und erst von Carl Friedrich Gauß in eine Formel transformierten Regel, Ostern solle am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach dem Frühjahrsäquinoktium gefeiert werden.

Bis zum 4. Jahrhundert hatten die christlichen Gemeinden gar kein Ge­burtsfest Christi gefeiert, und schon gar nicht am Tag der Wintersonnenwende; Origenes hatte sogar ausdrücklich den Brauch der Heiden verspottet, den dies natalis ihrer Gottheiten zu begehen. Allenfalls wurde eine Art von „Tauffest“ Christi – am 6. Januar – zelebriert, gleichsam nach der impliziten Maxime, Was­ser sei dicker als Blut.

Bedrohliche Gegenwelt

Blut (Geburt) oder Wasser (Taufe), Sonne oder Mond: Nicht umsonst entspricht die Frist vom 25. Dezember bis zum 6. Januar ziemlich exakt der Differenz zwi­schen Mond- und Sonnenjahr. Binäre Distinktionen sind tückisch. Und folglich bildete die Zeit zwischen Weihnachten und Epiphanie eine besonders markante „Zwischenzeit“: die Zeit der Raunächte, in der die Wilde Jagd durch Dörfer und Wälder zu toben pflegte.

In dieser Zeit wurde eine bedrohliche Gegenwelt errichtet, eine „verkehrte Welt“, in der – wie in den altrömischen Saturnalien – ein verlorenes Reich allgemeiner Freiheit errichtet wurde: eine Welt, in der die Herren ihre Sklaven bedienen mussten, in der die Toten die Lebenden heim­suchten und in der die Kinder über die Alten herrschen durften. Anarchische Zwischenzeiten: Die Saturnalien folgten den älteren Neujahrsfesten der alt­orientalischen Hochkulturen; auch deren Jahresfeste ermöglichten kollektive Erfahrungen von Chaos und utopischem Ursprung, von Erneuerung und Befrei­ung, von Weltuntergang und Neuschöpfung.

Sie repräsentierten den Jahres­wechsel als Zeitenwende schlechthin, wie eine rituelle Erinnerung an das „gol­dene Zeitalter“ Ovids, das von Saturn regiert wurde. Damals, so erzählen die Mythen, lebten die Menschen in Sicherheit und Überfluss, friedlich, doch ohne Herren, Recht und Gesetz. Sollen wir eine solche Welt nicht manchmal – zwi­schen den Zeiten, zwischen den Jahren – erträumen?

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