Jahrestag des Genozids an den Jesiden: „Es geht um das Gefühl, wieder ganz zu sein“
Bis heute leben viele Jesiden als Binnengeflüchtete in Irakisch-Kurdistan. Für die Rückkehr fehlt Sicherheit, sagt Katharina Dönhoff vom Verein ‚Hand für Hand‘.
Am 3. August 2014 begann die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) mit ihrem Überfall auf die jesidischen Gemeinden in Sindschar, einer Region im Nordirak. Dort lebten damals viele Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden. Manche von ihnen konnten sich in das Sindschar-Gebirge retten, und schließlich mithilfe kurdischer Truppen weiter flüchten, in Richtung der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Viele andere wurden vom IS gefangen genommen, versklavt, ermordet. Bis heute werden Massengräber, in denen Opfer des Genozids an den Jesiden liegen, ausgehoben. Und bis heute sind nur wenige Jesidinnen und Jesiden in ihre Heimat Sindschar zurückgekehrt.
taz: Viele der Jesidinnen und Jesiden, die 2014 in die Autonome Region Kurdistan im Nordirak flüchteten, kamen in Zeltcamps unter. Und leben dort noch heute, elf Jahre nach dem Völkermord. Wie blicken die Menschen auf die Rückkehr in ihre Heimat?
Katharina Dönhoff: Die meisten Jesidinnen und Jesiden wollen zurück in ihre Heimat nach Shingal (der kurdische Begriff für Sindschar, Anm. d. Red.). Sie sagen: ‚Unsere Geschichte, unser Land – das ist Shingal‘. Es geht um Identität, um das Gefühl, wieder ganz zu sein. Gleichzeitig gibt es eine jüngere Generation, die in Kurdistan verwurzelt ist. Manche studieren, haben Arbeit, Freund:innen. Für sie ist Shingal zwar Heimat – aber keine Zukunft.
Katharina Dönhoff ist studierte Fotografin und engagiert sich seit 2015 für jesidische Geflüchtete. Im Jahr 2019 gründete sie mit ihrem Mann den Verein HAND FÜR HAND e.V., um Perspektiven in den Herkunftsländern zu schaffen – unter anderem durch Bildung.
taz: Welche Faktoren erschweren ihnen die Rückkehr? Und was würde Jesidinnen und Jesiden helfen, nach Sindschar zurückzukehren?
Dönhoff: In Shingal fehlt es an allem: Sicherheit, Infrastruktur, Verwaltung. Das größte Hindernis für eine Rückkehr ist ganz klar die fehlende Sicherheit. Die Jesidinnen und Jesiden haben durch den Völkermord 2014 das Vertrauen verloren – und bislang keinen Grund, es wiederzugewinnen. Es gibt im Irak bis heute kein funktionierendes Justizsystem, das die IS-Täter von damals konsequent verfolgt und zur Rechenschaft zieht. Viele leben weiterhin unbehelligt in den Dörfern, zum Teil direkt in der Nähe der Überlebenden.
Auch staatliche Strukturen fehlen fast vollständig. Es gibt keine funktionierende Verwaltung, kaum Schulen, keine verlässliche medizinische Versorgung. Viele Häuser sind zerstört, teils noch immer vermint. Wer zurückkehrt, steht meist vor dem Nichts.
Dazu kommt: Jesidinnen und Jesiden fehlt der Einfluss, ihre Lebensrealität politisch mitzugestalten. Ihre politischen Interessen finden kaum Gehör.
taz: Nicht alle Jesidinnen und Jesiden in Kurdistan leben in Camps. Ihr Verein ‚Hand für Hand‘ unterstützt das in Kurdistan gelegene Dorf Sina, das von jesidischen Binnenvertriebenen bewohnt wird. Wie funktioniert dieses Modell?
Dönhoff: Nach dem Völkermord 2014 suchten über 300.000 Jesidinnen und Jesiden Schutz in der kurdischen Autonomieregion. Ein Teil zog in rund 25 längst verlassene Dörfer, die oft seit Jahrzehnten leer standen. Was sie dort vorfanden, waren meist Ruinen oder unfertige Rohbauten. Diese Dörfer wurden aus eigener Initiative wiederbesiedelt – nicht staatlich geplant, sondern aus Mangel an Alternativen. Die Bedingungen dort sind weiterhin prekär.
Sina ist eines dieser Dörfer. Als wir 2018 zum ersten Mal dorthin kamen, haben wir uns mit den Familien zusammengesetzt und gefragt: Was braucht ihr? Und so hat sich Schritt für Schritt etwas entwickelt. Wir haben eine dieser Ruinen angemietet, sie gemeinsam mit den Menschen wiederhergestellt und ein Bildungszentrum für Kinder und Erwachsene daraus gemacht. Rund herum ist nach und nach Leben entstanden. Sina ist für uns ein Beispiel, wie Wiederaufbau gelingen kann: nicht von oben verordnet, sondern gemeinsam.
taz: Wie sieht der Alltag der Menschen im Dorf aus?
Dönhoff: Auf den ersten Blick wirkt das Leben in Sina ruhig: Viele Familien leben von kleiner Landwirtschaft oder schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Die Kinder gehen zur Schule. Doch vor allem die Erwachsenen sind stark traumatisiert. Sie hatten nie Zugang zu psychologischer Hilfe, um das 2014 Erlebte aufzuarbeiten. Anders ist es bei den Kindern: Sie haben die Gräueltaten, die ihre Eltern erlebt haben, nicht selbst erfahren. Sie begegnen der Welt mit mehr Offenheit, Neugier und Lebensfreude.
taz: Könnten die Dörfer ein Modell für mehr jesidische Geflüchtete in Kurdistan sein?
Dönhoff: Die Lebenssituation ist grundsätzlich alles andere als sicher: Die meisten Familien sind nach 2014 direkt in Dörfer wie Sina geflohen – sie leben hier übergangsweise, auf Land, das ihnen nicht gehört. Oft wissen sie nicht, wie lange sie bleiben dürfen. Manche müssen umziehen, weil die ursprünglichen Besitzer plötzlich Miete verlangen. Es gibt keine medizinische Versorgung, kein stabiles Internet, keine öffentlichen Verkehrsmittel. Und nach der 9. Klasse endet für viele die Schulbildung. Diese Unsicherheit durchzieht den ganzen Alltag. Was fehlt, sind verlässliche Perspektiven.
taz: ‚Hand für Hand‘ setzt in Sina auch auf Bildung. Warum?
Dönhoff: Viele Kinder und Jugendliche haben durch Flucht und Vertreibung jahrelang keine Schule besuchen können. Einige haben erst sehr spät mit dem Lernen begonnen oder konnten ihre Schulbildung nie abschließen. Ohne Bildung bleiben ihnen viele Wege versperrt.
Gleichzeitig ist Bildung auch ein Schutzmechanismus. In einer Region, in der Unsicherheit, Abhängigkeit und politische Instrumentalisierung an der Tagesordnung sind, gibt Bildung den Menschen Werkzeuge an die Hand. Das macht sie weniger anfällig für Ausbeutung oder Manipulation. Bildung ist ein Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben.
Und: Bildung gibt eine Stimme. Sie schafft Räume, in denen junge Jesidinnen und Jesiden sich ausdrücken, ihre Geschichte teilen und aktiv an ihrer Zukunft mitwirken können. Neben den Bildungsangeboten für Kinder bieten wir zum Beispiel Alphabetisierungskursen für Frauen an – oder Aufklärungskurse über Minen für Rückkehrende nach Shingal.
taz: Gibt es denn Dorfbewohner, die aus Sina nach Shingal zurückgekehrt sind?

Dönhoff: Es gibt einzelne Familien, aber es sind nicht viele. Und jede Rückkehr ist eine sehr persönliche Entscheidung. Manche haben dort noch Verwandte oder besitzen etwas Land, andere halten diesen Zwischenzustand als Geflüchtete einfach nicht mehr aus.
Gleichzeitig bleiben viele lieber in Dörfern wie Sina, weil das Leben dort mehr Stabilität bietet als in den Camps. Sie wohnen zwar in fremden Häusern, aber sie haben ein bisschen mehr Kontrolle über ihren Alltag. In Shingal fehlt dagegen fast alles: Sicherheit, Infrastruktur, medizinische Versorgung.
taz: Auch in Irakisch-Kurdistan mangelt es teils an Infrastruktur.
Dönhoff: Es sind oft die kleinen, ganz praktischen Dinge, die eine Herausforderung sind. Wenn zum Beispiel die Wasserpumpe kaputt ist – dann gibt’s tagelang kein Wasser. Oder wenn der Strom mal wieder tagelang ausfällt. Es gibt außerdem keine öffentliche Struktur, auf die man sich verlassen könnte. Kein Bus, kein Amt, keine schnelle Hilfe. Wenn etwas fehlt oder nicht funktioniert, müssen wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort nach Lösungen suchen, weil es sonst niemand tut. Trotzdem: Die Menschen in Sina machen weiter. Und wir versuchen, das Möglichste möglich zu machen, Schritt für Schritt.
taz: Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen, die in Kurdistan aufgewachsen sind, kennt Schingal nur aus Erzählungen. Wie blicken sie auf ihre Zukunft?
Dönhoff: Bei vielen Jugendlichen hängen Hoffnung und Vorstellung eng zusammen. Manche waren mal in Shingal, andere kennen es nur aus Erzählungen. Für viele ist Shingal ein Ort zwischen Realität und Erinnerung: Manche stellen es sich als einen schönen Ort vor, mit Bergen, mit Obstbäumen. Andere wissen, wie zerstört es ist – und hoffen trotzdem, dass es eines Tages wieder lebenswert sein wird.
taz: Meist konzentriert sich die Berichterstattung zu Jesidinnen und Jesiden im Irak auf Negatives, etwa die mangelnde Aufarbeitung des Genozids. Werden positive Entwicklungen übersehen?
Dönhoff: Es gibt viele Geschichten, die Mut machen. Zum Beispiel eine ältere Frau aus unserem Alphabetisierungskurs: Sie war glücklich, als sie zum ersten Mal ein Rezept vom Arzt lesen konnte. Oder junge Menschen, die sich – trotz allem – für ein Studium in Kurdistan entscheiden. Oder unsere journalistische Ausbildung ‚Helin Voices‘: Hier lernen junge Menschen aus verschiedenen Minderheiten, wie man recherchiert, interviewt und erzählt – mit dem Ziel, später ein gemeinsames Radioprojekt aufzubauen, für Geschichten, die sonst kaum Gehör finden.
taz: Was braucht es, damit Jesidinnen und Jesiden – ob in Kurdistan oder Schingal – hoffnungsvoller in die Zukunft blicken können?
Dönhoff: Vier Dinge: Sicherheit – zu wissen, dass das eigene Kind zur Schule gehen kann, und dass das Dach über dem Kopf bleibt. Keine Angst mehr haben zu müssen vor anderen Gruppen, die den Jesidinnen und Jesiden in der Vergangenheit Gewalt angetan haben. Dann braucht es Anerkennung, dass das erfahrene Leid nicht vergessen wird. Aber auch gesehen wird, wie viel Stärke, Kraft und Einsatz viele zeigen. Und Teilhabe – nicht nur am Rand zu stehen, sondern gehört zu werden, mitgestalten zu können. Und zuletzt Dialog, auch den Austausch unter den verschiedenen Minderheiten im Irak, denn sie kennen sich oft kaum. Wenn Menschen ins Gespräch kommen, entstehen Vertrauen, Verständnis – und manchmal sogar gemeinsame Projekte.
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