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Jahresbilanz 2024 der BeratungsstellenIm Schnitt werden jeden Tag 12 Menschen Opfer rechter Gewalt

Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt haben 2024 rund 3.500 rechte Angriffe erfasst – ein Anstieg um 20 Prozent und ein Höchststand.

Beim mutmaßlich rassistisch motivierten Brandanschlag im März 2024 in Solingen starb eine türkisch-bulgarische Familie mit zwei Kindern Foto: Christoph Reichwein/dpa

Berlin taz | Ein mutmaßlich rassistisch motivierter Brandanschlag auf eine vierköpfige bulgarisch-türkische Familie in Solingen. Ein unter anderem antisemitisch motivierter Messerangriff mit drei Toten auf dem Stadtfest in Solingen. Ein auch aus rassistischen Motiven erstochener Mann in Gummersbach und ein mit einem Messer getöteter Kameruner in Berlin-Wedding: 9 Todesopfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zählten die Opferberatungsstellen im Jahr 2024. Es sind die schlimmsten Fälle einer „Bilanz des Schreckens“, wie die Beratungsstellen ihre Jahresstatistik zu rechter Gewalt 2024 bezeichneten.

Die Beratungsstellen erfassten einen neuen Höchststand bei rechten Angriffen: Sie verzeichneten insgesamt 3.453 Angriffe allein im Jahr 2024 – das sind knapp 10 pro Tag. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg um 20 Prozent. Insgesamt gebe es 4.681 Betroffene, im Schnitt würden täglich 12 Menschen angegriffen – so viele wie nie zuvor seit Erstellung dieser Statistik, in der nur 12 Bundesländer erfasst sind. Betroffen seien in wachsendem Ausmaß auch Kinder und Jugendliche – 697 von insgesamt 4.681 Betroffenen sind demnach minderjährig. Auch das ein neuer Höchststand.

Die Beratungsstellen veröffentlichen ihre Zahlen am selben Tag, an dem der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ebenfalls die offiziellen Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität des Bundeskriminalamts vorstellt – auch um auf die Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden hinzuweisen. Tatsächlich zeichnet sich analog zum Umfragenhoch der AfD und Debatten um Abschiebungen auch für das Jahr 2025 bereits eine Fortsetzung der grassierenden rechten Gewalt ab.

Das häufigste Tatmotiv heißt laut den Opferberatungsstellen in rund 52 Prozent der Fälle (1.794 Taten) Rassismus. 15 Prozent und damit 542 Attacken richteten sich gegen politische Gegner*innen, 354 Angriffe und damit 10 Prozent seien antisemitisch motiviert gewesen, fast genauso häufig habe es LGBTIQ*-feindliche Taten (344) gegeben. Aber auch andere menschenfeindliche Motive (221), Nicht-rechts-Sein (119), Sozialdarwinismus (49) und Ableismus (19) hätten bei Angriffen eine Rolle gespielt. Besonders deutlich angestiegen seien Attacken auf politische Geg­ne­r*in­nen – um mehr als zwei Drittel im Vergleich zu 2023. Auch queerfeindliche Angriffe seien um 40 Prozent gestiegen.

Beratungsstellen fordern „Nationalen Aktionsplan“

Unter den Taten fänden sich eine Vielzahl schwerer Straftatbestände: Neben den 4 erwähnten Tötungsdelikten zählten die Beratungsstellen 29 versuchte Tötungen, 681 gefährliche Körperverletzungen, 1.143 einfache Körperverletzungen, 14 Körperverletzungen im Amt sowie 45 Brandstiftungen. Zudem habe es 1.212 Bedrohungen und Nötigungen gegeben, 172-mal sei es zu massiven Sachbeschädigungen gekommen sowie 74-mal zu sonstigen Gewalttaten wie Raub, Landfriedensbruch und Freiheitsberaubung.

Ein Schwerpunkt der Gewalttaten (ohne Bedrohungen, Nötigungen und massive Sachbeschädigungen) lag in Berlin und Hamburg, wo rund 10 Taten auf 100.000 Ein­woh­ne­r*in­nen kamen. Zudem lag die Zahl im Osten in Ländern wie Sachsen-Anhalt (8,3), Mecklenburg-Vorpommern (6,59) und Brandenburg (5,99) im Schnitt deutlich höher als im Westen. Durch die Beratungsstellen nicht erfasst wurden bisher Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland.

„Die Bundesregierung muss auf den Flächenbrand rechter Gewalt mit politischen Konsequenzen und einem ressortübergreifenden Nationalen Aktionsplan reagieren“, forderte Judith Porath aus dem Vorstand des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) angesichts des Höchststands bei der Vorstellung der Zahlen in der Bundespressekonferenz.

Die Brutalität und Menschenverachtung, mit denen viele dieser Angriffe erfolgten, haben laut Porath gravierende Auswirkungen für Betroffene: jahrelange Ermittlungsverfahren, anhaltende Bedrohungen nach rassistischen Angriffen von Nachbar*innen, erzwungene Arbeits-, Ausbildungsplatz-, Schul- und Wohnortwechsel bis hin zur Aufgabe von politischen Mandaten – verbunden sei damit häufig der Verlust von Sicherheit, Arbeitsplätzen, Heimat und sozialen Netzwerken, so Porath.

Blinde Flecken in der Statistik

Auch die Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız forderte, dass der Rechtsstaat die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nicht im Stich lassen dürfe. Dazu gehöre 25 Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek, dem ersten Opfer des rechtsterroristischen NSU, „dass Polizei und Justiz alle Hinweise auf Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive in den Ermittlungsverfahren und den Wunsch vieler Betroffener nach vollständiger Aufklärung ernst nehmen müssen“, so Başay-Yıldız.

Auch 2024 gab es neben der Untererfassung in der offiziellen Statistik tatsächlich wieder einige blinde Flecken: Zuletzt wurde von den Sicherheitsbehörden beim Brandanschlag in Solingen mit 4 Toten ein rassistisches Tatmotiv vorschnell ausgeschlossen – im Laufe des Gerichtsprozesses stellte sich gar heraus, dass ein Polizeibeamter offenbar einen Vermerk gelöscht hatte, der die Tat als „rechts“ einordnete. Zahlreiche Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung des Täters ignorierte die Polizei bei den Ermittlungen offenbar.

Der Staat „muss dafür Sorge tragen, dass rassistische und antisemitische Straftaten als solche erkannt und effektiv geahndet werden“, sagte Prof. Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Rassismus und Antisemitismus griffen das „Fundament unserer Verfassung“ an. Rudolf forderte, Verfahrensdauern zu verkürzen, Zugang zu Recht und Informationen zu erleichtern, zudem zivilgesellschaftliche Beratungsstrukturen zu schützen und finanziell abzusichern.

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7 Kommentare

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  • In diesem Zusammenhang empfehle ich auch das neue Buch von Andreas Speit "Autoritäre Rebellion" als Lektüre. 170 Seiten, die ich interessiert innerhalb einer Nacht gelesen habe.

    Speit veranschaulicht darin sehr verständlich, wie sich rechtsradikales Gedankengut zunehmend in der Mitte der Gesellschaft verortet. Besonders gelungen fand ich das Kapitel über die Reichsbürger. Erschienen im Links Verlag, Berlin.

  • Rassistische und antisemitische Taten in einen Topf zu werfen ist wissenschaftlich falsch. Hier geht es um grundverschiedene Dinge. Warum macht Frau Prof. Dr. Beate Rudolf so etwas mit?

    Statista: "Im Jahr 2024 wurden in Deutschland laut vorläufigen Angaben rund 5.180 antisemitische Delikte polizeilich erfasst".

    Das sind 14,2 antisemitische Delikte pro Tag.

    Bei etwa nur 180.000 Juden in Deutschland kommen also 472 Einwohner auf einen jüdischen Einwohner.

    Ein Jude erleidet in Deutschland also rund 600 mal mehr Angriffe im Jahr als andere Einwohner.

    Wer sind die Angreifer?

    „Es sind Islamisten, säkulare Muslime und Linksextreme, die uns das Leben zur Hölle machen“, so Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“. Und "Chefredakteur des Jahres 2023".

    www.welt.de/politi...ABC-V39.1.C_plus35

    de.statista.com/st...te-in-deutschland/

    • @shantivanille:

      "Rassistische und antisemitische Taten in einen Topf zu werfen ist wissenschaftlich falsch"

      Da ist die Wissenschaft schon weiter als sie, z.B. im Bereich sozialpsychologisch orientierter Erhebungen zu Diskriminierungserfahrungen jüdischer Menschen und muslimischer Migranten z.B. in Bildungseinrichtungen.

      Studien zu institutionellen Rassismus sind im UK schon länger Praxis und da es dabei inhaltlich um Diskriminierung geht, wurde neben Fremdenfeindlichkeit auch Antisemitismus mit untersucht.

      Auf ähnliche Weise wurde bereits 2013 die Studie der „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte” vorgenommen. Auch hier wurden die Forschungsfragen aus dem Bereich Rassismus zum Thema Diskriminierung teilweise auf den Antisemitismus übertragen.

      Und da wir schon bei der Wissenschaft sind. Ihre Auslegung der von ihnen aufgeführten Statistik dürfte eher als Zielsetzung haben, eine ganz bestimmte Botschaft zu senden, anstatt sich objektiv damit auseinander zu setzen. Das ist leider alles wenig überzeugend.

    • @shantivanille:

      „Es sind Islamisten, säkulare Muslime und Linksextreme, die uns das Leben zur Hölle machen“



      Rechtsextreme gar nicht?



      Laut Statistik kommen die Meisten Angriffe mit 1165 aus dem rechten Spektrum. Von links waren es 43.

    • @shantivanille:

      Wenn sie die Statistik die sie hier von Statista angeben mal genau lesen, dann steht dort, dass im Jahr 2024 6240 antisemitische Straftaten polizeilich erfasst wurden und davon 173 Gewalttaten waren und um letztere geht es hier in diesem Artikel. Und das ein Chefredakteur Antisemitismus von rechts zumindest in dem Zitat komplett unterschlägt, spricht nicht unbedingt für ihn, den gibt es nämlich immer noch.

    • @shantivanille:

      Es ging hier auch um Rassismus, nicht nur um Antisemitismus! Sind Sie hier die Antisemitismusbeauftragze? Ihre immer gleichen Kommentare langweilen mich.

    • @shantivanille:

      Nur Linke und Muslime sind Antisemiten. Tolle Quelle.



      Laut Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, ist Rechtsextremismus häufigste Ursache für Antisemitismus.