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Jahresbericht von NGOTäglich gewaltsame Pushbacks

Die NGO Mare Liberum beobachtet seit Jahren, dass Geflüchtete in der Ägais gewaltsam zurückgedrängt werden. 2021 waren es 5.000.

Protest mit Rettungsfloß: Demonstration gegen Pushbacks und Gewalt an den Grenzen in Athen am 6.2 Foto: Alexandros Vlachos/epa

Berlin taz | Lange blieb das Phänomen im Dunkeln, seit einiger Zeit geschieht es immer offener: das direkte, illegale Zurückschieben Schutzsuchender an den Grenzen. Zum Beispiel am 13. Oktober 2020, am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros. Ein Flüchtling berichtet von diesem Tag: „Sie haben alle 70 Leute in den Transporter gepackt. Wir konnten eine Stunde lang nicht atmen. Mit diesem Auto fuhren sie zum Fluss. Wir stiegen aus dem Auto, während sie auf uns einschlugen. Wir waren ohne Kleidung, in unserer Unterwäsche, ohne Schuhe.“

Griechische Grenzpolizisten hätten den Menschen gesagt, sie sollten sich in einer Reihe hinsetzen, den Kopf senken, sie nicht ansehen. „Ein Polizist sagte mir, ich solle aufstehen und hielt eine Waffe an mein Auge. Er schrie: „Wenn du noch einmal nach Griechenland kommst, werde ich dich töten!'“

Die Aussage stammt aus dem am Donnerstag veröffentlichten Jahresbericht Pushbacks der NGO Mare Liberum. Die deutsche Initiative ist seit 2018 mit einem Beobachtungsschiff in der Ägäis und hat sehr früh begonnen, vor allem Griechenlands Pushbacks zu dokumentieren. Laut ihrem Bericht sind in der EU im vergangenen Jahr täglich gewaltsame Pushbacks verübt worden. Misshandlungen und sexuelle Übergriffe gegen Mi­gran­t:in­nen und Flüchtlinge sind demnach die Regel.

Dabei werden Mi­gran­t:in­nen und Flüchtlinge, die etwa die griechische Polizei aufgreift, nicht wie vorgeschrieben zunächst in Aufnahmeeinrichtungen gebracht, sondern direkt an die grüne Grenze oder aufs Meer zurückgefahren und meist mit Gewalt dazu genötigt, zurückzugehen oder zu fahren.

Schilderungen von Zeu­g:in­nen offenbarten, dass dabei Gewalt und Demütigungen als „strategisches Mittel“ dienten, um Menschen vom EU-Gebiet fernzuhalten, so Mare Liberum. Die Opfer seien Menschen, die aus der Türkei überzusetzen versuchten.

Einfach ins Wasser geworfen

Pushbacks gehörten mittlerweile zum „Modus operandi“ der Behörden, heißt es im Bericht von Mare Liberum. Insgesamt wurden 2021 demnach fast 5.000 Menschen in Rettungsinseln in türkischen Gewässern zurückgelassen. Ein Aufenthalt in den nicht steuerbaren, häufig überfüllten und den Meeresbewegungen ausgelieferten Gummiflößen werde von Überlebenden als traumatisch beschrieben, heißt es in dem Bericht.

Seit Anfang 2021 sei zudem verstärkt beobachtet worden, wie Menschen von griechischen Behörden in der Nähe der türkischen Küste einfach ins Wasser geworfen worden seien.

Allein in der Ägäis – jenem Meeresgebiet im Mittelmeer, in dem Flüchtende die vergleichsweise kürzesten Wege bei eher ruhiger See zurücklegen müssen – starben nach Zählung von Mare Liberum 109 Menschen oder werden nach Unglücken vermisst. Seit 2018 seien es mindestens 462 Tote gewesen.

Schlechte Datenlage

Mare Liberum räumt ein, dass das Sammeln von Informationen über Rechtsbrüche in dem Gebiet schwierig und die Datenlage schlecht sei. Als Quellen nennt die Organisation neben Zeugenaussagen vor allem andere zivilgesellschaftliche Organisationen. Mare Liberum besitzt ein eigenes Schiff zur Beobachtung der Lage. Die Organisation konnte es aber wegen Restriktionen der Behörden im vergangenen Jahr praktisch nicht einsetzen.

Die in dem Bericht zusammengetragenen Aussagen decken sich mit Tausenden Schilderungen, die NGOs in den vergangenen Jahren in der Region zusammengetragen haben. Pro Asyl hatte auf das Problem schon 2013 aufmerksam gemacht. 2019 hatte der Spiegel berichtet, dass Griechenland an der Landgrenze zur Türkei in den vorherigen zwölf Monaten fast 60.000 Menschen illegal zurückgeschoben habe. Quelle waren dabei Dokumente des türkischen Innenministeriums.

Griechenland hatte Pushbacks lange abgestritten

Mit den Pushbacks verstößt Griechenland gegen seine Pflicht, Ankommenden die Möglichkeit für einen Asylantrag zu geben. Dies wiegt umso schwerer, als es sich bei den Zurückgeschobenen auch um Menschen aus Konfliktregionen wie Afghanistan, Pakistan, Somalia und Syrien handelt. Und die Türkei wiederum schiebt die Menschen in ihre Herkunftsländer ab.

Griechenland hatte diese Praktiken lange abgestritten – denn sie verstoßen eindeutig gegen das EU-Recht. Doch weil zuletzt auch Staaten wie Polen und Kroatien immer offener Pushbacks praktizieren, gingen die Staaten in die Offensive: Im Oktober 2021 verlangten zwölf EU-Mitgliedsstaaten in einem Schreiben an die Kommission – darunter Griechenland, Kroatien und Polen – die Reform des Schengener Grenzkodex, um Pushbacks zu legalisieren.

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2 Kommentare

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  • Weiße aus der Ukraine haben mehr Rechte als z.B. Schwarze aus dem Jemen.

    Warum werden Flüchtlinge je nach Herkunft, Geschlecht, Heimat und Rasse von uns so unterschiedlich behandelt?



    Ich bekomme das einfach nicht mit §3 GG und der Europäischen Menschenrechtscharta in Einklang.

    Seltsam erscheint mir auch, dass bislang noch keine Sanktionen gegenüber der Türkei verhängt worden sind: Opposition im Knast, Demokratie am Arsch, Unterstützung für Steinzeit-Isamisten wie IS und HTS, Nordsyrien annektiert und ethnisch gesäubert, letzte Woche für eine "Antiterroroperation" in den Nordirak einmarschiert - was braucht's da noch?

  • Der Schluss des Artikels ist nicht mehr aktuell. Mittlerweile gibt es 2 Entscheidungen, einmal zu Spanien und einmal zu Slowenien, dass Pushbacks keineswegs immer illegal sind - sondern dann legal, wenn es die Möglichkeit gibt, im Land einen Asylantrag zu stellen oder direkt an der Grenze.

    Oft wollen die Migranten das aber nicht, weil sie dann ihr Verfahren in diesem Land führen müssten, das aber nicht das eigentliche Zielland ist. Daher stellen sie den Antrag nicht, sondern hoffen, weiterreisen zu können.

    Sie sind damit aber illegal eingewandert und ohne Asylverfahren, was die Zurückweisung "sperren" würde, darf man sie zurück schicken und das auch zwangsweise durchsetzen. Natürlich nicht auf die Weise, wie es anfangs geschildert wird.