Jackie Thomaes Roman „Brüder“: Kommt mal klar, Jungs
Zwei afroamerikaninische Jungs mit DDR-Sozialisation, zwei unterschiedliche Lebensläufe, viel Verpeiltheit. Davon handelt Jackie Thomaes „Brüder“.
Mick wird gemocht. Zum Beispiel von alten Männern am Berliner Stadtrand, die er Anfang der neunziger Jahre aufsucht, um ihre alten Schallplatten zu kaufen. Er hat Zeit. Eile beim Geschäft ist seine Sache nicht, er lässt die Händler erzählen und taucht mit ihnen ein in die Jahrzehnte, als sie und ihre Musik jung waren.
Sein Charme, seine Attraktivität, seine Lässigkeit, das ist die Karte, die er spielt. Es sind diese Eigenschaften, die Delia, seine Freundin, großzügig darüber hinwegsehen lassen, dass er etwas zu oft in den Betten anderer Frauen liegt. Bis er vergisst, monatelange vergisst, ihr, die gern ein Kind hätte, zu sagen, dass er sich den Samenstrang hat durchtrennen lassen.
Psychoaktives Lesen nannte eine Freundin das mal, wenn man die Helden eines Romans gerne schütteln möchte. „Mensch Junge, krieg die Kurve, drück dich nicht länger vor dem Gespräch“, denkt man bei der Lektüre und ahnt dabei schon, das geht vorläufig nicht gut aus.
„Brüder“ auf der Shortlist
Jackie Thomae: „Brüder“. Hanser Berlin, Berlin 2019, 430 Seiten, 23 Euro
Mick ist der eine der beiden titelgebenden „Brüder“ in Jackie Thomaes neuem Roman. Sinnkrisen hält er sich lange vom Leib, es gibt ja noch eine Party, einen Club – oder das Joggengehen. Er treibt so dahin, und man treibt gerne mit und das ging wohl auch der Jury für den Deutschen Buchpreis so, die „Brüder“ auf ihre Shortlist gesetzt hat. So folgt man ihm durch die Jahre 1985 bis 1994 in Westberlin, was sich wie eine Hommage an den Hedonismus der Neunziger liest.
Gabriel ist der andere Bruder, sie kennen sich nicht. Ihre Mütter, Monika und Gabriele, waren junge Frauen in der DDR, selbstbewusst und furchtlos, einen Sohn alleine großzuziehen. Ihrer beider Vater, Idris, war ein Student der Medizin, gekommen aus einem der jungen Nationalstaaten Afrikas.
Ende der 60er Jahre, zu Anfang seiner Zeit in Leipzig, dachte er selbst nicht, einmal den Erwartungen der DDR zu entsprechen und als gut ausgebildeter Mediziner in sein Land zurückzugehen, vielleicht sogar mit kommunistischer Überzeugung im Gepäck. Bis ihm zu seiner eigenen Überraschung dies wichtiger schien als eine junge Mutter und eine geschwängerte Freundin in Berlin beziehungsweise Leipzig.
Von Idris und seinen Verdrängungsleistungen erfährt man im kurzen Mittelteil des Romans, bevor die Handlung von Berlin nach London schwenkt, wo Gabriel ein erfolgreicher Architekt ist. Fast ein Autist, begeistert von Sachthemen, aber schwach in der Kommunikation. Er merkt zum Beispiel nicht, mit welchen Bemerkungen er sein Prestige als sozial engagierter Architekt aufs Spiel setzt.
Zum Problem wird das mangelnde Einfühlungsvermögen aber erst, als er zunehmend unfähig wird, sein Gefühlsleben auszubalancieren. In wechselnden Kapiteln blicken Gabriel und seine Frau Fleur auf sein Leben zurück, um zu verstehen, wie er zu dem wurde, was er ist. Ein Ausraster von Gabriel – er attackiert eine junge Frau, die ihren Hund auf sein Fahrrad scheißen ließ – ist der äußere Anlass; der innere aber sein Realitätsverlust, den er nur in der Arbeit kompensieren kann.
Vielleicht ist dies das Überraschendste an Jackie Thomaes Roman: Sie hadert nicht mit den Männern, nicht mit der Unzuverlässigkeit von Mick, nicht mit der emotionalen Blindheit von Gabriel, sie liebt sie als Erzählerin mit all ihren Schwächen im männlichen Selbstverständnis, mit ihren Mängeln an Vorstellungskraft sich in die hineinzuversetzen, die sie lieben. Die Autorin sucht auch keine Schuld oder Verantwortung in gesellschaftlichen oder politischen Verhältnissen. Die Charaktere sind schon für sich selbst verantwortlich.
Eine Verdrängungsleistung
Das überrascht auch deshalb, weil es eben auch ein Roman über zwei Jungen ist, die, bevor es Begriffe wie Schwarze Deutsche gab, in der DDR als Söhne eines abwesenden, afrikanischen Vaters groß wurden. Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland ist nicht das Thema des Romans, die Erinnerungen von Mick und Gabriel an ihre Kindheit in der DDR sind mehr von Bindungen an Mütter, Großväter, Tanten geprägt.
Zwar erleben Idris – als Student in Leipzig – und Mick – in den Nachwendejahren in Pankow – rassistische Übergriffe, ziehen es aber vor, die nicht zur grundierenden Erfahrung ihres Lebens zu machen. Das ist zwar einerseits eine Leistung von Verdrängung, die ihnen aber andererseits auch ihre Offenheit und Zugewandtheit erhält. Ob diese Konstruktion der Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit womöglich auch eine Verklärung ist, um Anpassung zu erleichtern – darüber denken sie nach, aber nur gelegentlich.
Die Autorin Thomae ist, wie ihre Protagonisten Mick und Gabriel, Anfang der siebziger Jahre in der DDR geboren und wuchs in Halle auf. Diese Sozialisation spiegelt sich womöglich auch in den selbstbewussten Frauen wieder, die wie Micks Mutter Monika oder seine Freundin Delia im Roman zwar Nebenfiguren sind, aber bei aller Unterschiedlichkeit doch sehr unabhängig von ihrer Umgebung in ihren Urteilen und Wünschen. Nicht zuletzt deshalb folgt man den Geschichten in diesem Roman gerne.
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