JVA-Chef über Ersatzfreiheitsstrafen: „Der Staat muss richtiges Maß finden“

Immer mehr sitzen Ersatzfreiheitsstrafen ab. JVA-Chef Uwe Meyer-Odewald sagt: Sie gehören hier nicht her. Das Strafbedürfnis sei oft irrational.

260 Menschen sitzen allein in der JVA Plötzensee, weil sie eine Geldstrafe nicht gezahlt haben Foto: Florian Boillot

wochentaz: Herr Meyer-Odewald, in Ihrem Gefängnis gibt es 650 Haftplätze. Rund 260 Menschen sitzen ein, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben. Nun soll die Dauer dieser Ersatzfreiheitsstrafen halbiert werden. Reicht das?

Uwe Meyer-Odewald: Nein, das ist nur der kleinste gemeinsame Nenner, ein erster Schritt. Es gibt schon seit längerer Zeit eine kriminalpolitische Debatte zum Umgang mit Ersatzfreiheitsstrafen. Und die hat nun endlich eine öffentliche Dimension bekommen.

ist Jurist und leitet die Justizvollzugsanstalt Plötzensee in Berlin seit 2016.

Was genau steht hier zur Diskussion, wenn es nicht nur um die Verkürzung von Haftstrafen geht?

Das ganze Strafgesetzbuch müsste durchleuchtet werden nach Bagatellstraftaten, die vielleicht vor 100 Jahren noch strafwürdig waren, aber heute nicht mehr. Es ist unter Juristinnen und Juristen im Grunde unumstritten, dass ins Strafgesetz nur Handlungen gehören, die gegen elementare Werte der Gemeinschaftsordnung verstoßen.

So wie schwere Gewaltdelikte?

Genau. Vor rund 90 Jahren, als das Erschleichen von Leistungen, also das Fahren ohne Ticket, ins Strafgesetzbuch kam, mag das auch für dieses Delikt so gesehen worden sein. Aber heute würde doch keiner mehr sagen, dass das Ohne-Fahrschein-Fahren in der U-Bahn gegen elementare Werte der Gemeinschaftsordnung verstößt. Dafür ins Gefängnis zu gehen, ist absurd. Diese Handlungen müssen entkriminalisiert werden.

Geht es da vor allem um Kosten?

Man muss auch über die Kosten sprechen, natürlich. Wir haben Leute hier einsitzen wegen 160 Euro Geldstrafe, die nicht bezahlt wurde – 20 Hafttage à 8 Euro. Allein ein Platz in der Haftanstalt kostet rund 200 Euro – pro Tag. Es verbietet sich im Justizvollzug immer dann, über Kosten zu sprechen, wenn es um die Sicherheit geht. Aber die Menschen, die wegen nicht bezahlter Geldstrafen einsitzen, sind nicht hier, weil sie gefährlich sind.

Sonst hätten sie eine andere Strafe bekommen?

Sonst hätten sie eine Freiheitsstrafe und keine Geldstrafe bekommen. Die Freiheitsstrafe ist der schwerste Eingriff in die Grundrechte. Wenn ich für einen nicht bezahlten Tagessatz Geldstrafe einen Tag ins Gefängnis muss, dann steht das in keinem Verhältnis. Zumindest an diesem Umrechnungskurs will der Justizminister also jetzt schrauben. Aber wenn Sie mich fragen, ist auch ein Tag Haft für zwei Tagessätze Geldstrafe noch viel zu viel.

Kri­ti­ke­r:in­nen sagen, eine kürzere Haft wirkt nicht mehr abschreckend.

Und Experten wissen, dass die Dauer der Haftstrafe nicht entscheidend ist für das Ziel der Abschreckung. Schon gar nicht bei den Straftaten, über die wir hier reden. Wichtig ist, dass eine strafbare Handlung überhaupt geahndet wird. Im Fall bestimmter Bagatelldelikte sind Haftstrafen aber meiner Ansicht nach oft gar nicht angemessen.

Schon interessant: Ein Gefängnisleiter, der sagt, ein Teil der Gefangenen gehört hier nicht her. Sorgt das unter Kol­le­g:in­nen für Diskussionen?

Es gibt natürlich viele Diskussionen, und es gibt auch Gefängnisleitungen, die sagen, wir arbeiten mit dem, was wir kriegen. Zu den Leuten gehöre ich nicht. Es ist meine Aufgabe, auch auf kriminalpolitische Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte hinzuweisen, wenn sie Auswirkungen auf den Justizvollzug haben. Auf unseren Stationen sind Ersatzfreiheitsstrafer, die sich in einer desolaten finanziellen, gesundheitlichen und sozialen Situation befinden. Knapp ein Drittel von ihnen ist entweder obdachlos oder lebt in betreuten Einrichtungen. Die öffnen ihre Post nicht mehr, mit der auch die Ladung zum Strafantritt kommt. Alle, die denken, diese Leute gehören ins Gefängnis, sollten eigentlich mal zu uns kommen. Das geht natürlich nicht.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es gibt Wege, die Haft zu vermeiden: das Prinzip „Arbeit statt Strafe“ zum Beispiel.

Die Verbüßung von Geldstrafen trifft fast immer Menschen, die wirtschaftlich schlecht gestellt sind. Alle, die die Geldstrafen irgendwie noch begleichen können, werden natürlich versuchen, eine Haft zu umgehen: Durch Ratenzahlungen oder durch Abarbeiten. Die Menschen, die dann letztlich eine Ersatzfreiheitsstrafe im Justizvollzug verbüßen, sind quasi der Rest, der auch das nicht schafft.

Das klingt nach wenigen …

Leider nicht. Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafer steigt seit Jahren an. Während der Pandemie gab es eine Ruhepause, weil die Ersatzfreiheitsstrafen zum Teil ausgesetzt wurden. Dafür kommen die Menschen jetzt mit angehäuften Hafttagen und sitzen dann zum Teil ein halbes oder ganzes Jahr wegen Fahrens ohne Ticket ein.

Gefängnisse haben ja auch den Zweck der Resozialisierung. Macht die Haft dann nicht doch Sinn?

Dafür ist die Haftdauer bei den Ersatzfreiheitsstrafern wiederum zu kurz, manchmal nur ein paar Tage. Unsere eigentliche Aufgabe ist es, mit Straftätern zu arbeiten, die gefährlich sind, die großen Schaden angerichtet haben und ohne Resozialisierung weiter anrichten würden. Stattdessen müssen wir unsere finanziellen und personellen Ressourcen für die Betreuung der Ersatzfreiheitsstrafer aufwenden. Und das ist sehr, sehr aufwändig.

„Soziale Probleme lassen sich nicht mit Mitteln des Straf­rechts lösen“

Inwiefern?

Viele dieser Menschen weisen soziale Persönlichkeitsstrukturen auf, die durch jahrzehntelangen Drogenmissbrauch geprägt sind. Da kommen schwerst alkoholgeschädigte, teils demente Menschen mit diversen Begleiterkrankungen. Wir sperren Leute ein, die seit Jahren nicht unter einem Dach geschlafen haben. Die Probleme dieser Menschen gehen nicht davon weg, dass wir Unmengen von Geld in den Haftanstalten für deren Betreuung und vor allem auch unnötige Sicherung ausgeben. Soziale Probleme lassen sich eben nicht mit Mitteln des Strafrechts lösen.

Sondern?

Das sind keine Fälle fürs Gefängnis, sondern zum Beispiel für aufsuchende Sozialarbeit, für bessere Strukturen in den zuständigen Ämtern. Soziale Defizite können außerhalb einer Justizvollzugsanstalt billiger gelöst werden. Der Justizvollzug kann jedenfalls nicht der Reparaturbetrieb für sozialstaatliche Versäumnisse sein.

Völlig straffrei kann zum Beispiel das Fahren ohne Ticket aber auch nicht bleiben, oder?

Zumindest nicht sanktionsfrei. Aber es gibt ja bereits das erhöhte Beförderungsentgelt. Und davon abgesehen: Warum richten die Verkehrsbetriebe nicht strengere Sicherungssysteme ein, so wie in anderen Ländern? Geht nicht, zu teuer, heißt es dann. Stattdessen stecken wir lieber Millionen in die Bestrafung von Schwarzfahrern.

Als Alternative wird auch die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit diskutiert.

Das ist auch nicht die Lösung für alle Probleme. Ordnungswidrigkeit bedeutet, dass es bei Nichtbezahlung auch zu einer Erzwingungshaft kommen kann. Gegenüber der Ersatzfreiheitsstrafe hätte die dann sogar den Nachteil, dass die Geldbuße damit nicht getilgt ist. Insofern wäre die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit immer noch ein fragwürdiges Mittel.

Es gibt auch das schwedische Modell.

Ein interessanter Ansatz. Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafer ist dort ex-trem gering. Weil nämlich nur die ins Gefängnis müssen, die eine Geldstrafe nicht bezahlen wollen. Bei uns wäre das eine Handvoll Reichsbürger, die lieber ins Gefängnis gehen als Geld an den Staat zu zahlen. Alle anderen, die bei uns einsitzen, sind ja zahlungsunfähig.

Das müsste dann aber jemand prüfen, bevor sie zum Haftantritt abgeholt werden.

Das müsste schon im Verurteilungsverfahren festgestellt werden, und da sind wir bei einem weiteren großen Kritikpunkt: Fast alle Verurteilungen zu einer Geldstrafe erfolgen im schriftlichen Verfahren, dem sogenannten Strafbefehlsverfahren. Das heißt, es kommen Menschen in Haft, die nie einen Richter oder eine Richterin gesehen haben. Ich weiß, dass das viel mehr Geld kosten würde, aber Haft ohne Inaugenscheinnahme der Verurteilten darf in einem Rechtsstaat nicht passieren. Auch die Schuldfähigkeit müsste im Prozess geprüft werden, weil ja nur verurteilt werden darf, wer verantwortlich ist für sein Tun. Wir haben hier mutmaßlich zu einem nicht geringen Teil Insassen, die schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind.

Schuldfähig bedeutet Einsicht ins eigene Unrecht. Jeder weiß doch, dass es nicht rechtens ist, sich ohne Ticket in die U-Bahn zu setzen.

Das ist sicherlich so. Aber ich habe erst heute einen Ersatzfreiheitsstrafer gesehen, der von der Polizei hier mehr oder weniger reingetragen wurde. Das ist die Klientel, die nicht bezahlen kann. Menschen, die letzlich die Kontrolle über ihr Leben verloren haben.

Bei sogenannter Leistungserschleichung ist das Missverhältnis zwischen Fehlverhalten und Gefängnisstrafe besonders groß. Wie viele der Ersatzfreiheitsstrafer bei Ihnen sitzen deswegen ein?

Ungefähr ein Drittel. Die anderen kommen wegen kleinerer Diebstähle, Betrugs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Aus Gefängnisperspektive sind Klientel, Motivation und Problemlagen aber oft ähnlich. Der Staat muss das richtige Maß, die richtige Sanktion finden und das Geld der Steuerzahler sinnvoll einsetzen.

Im Winter kommen viele freiwillig zum Haftantritt, heißt es. Immer noch besser, als auf der Straße zu leben.

Ja, so ist es leider, so zynisch es sich anhören mag.

Und trotzdem gibt es Kontroversen in der Politik und in der Gesellschaft. Eine Einigung zur Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie Fahren ohne Ticket ist noch nicht in Sicht.

Die Strafbedürfnisse in einer Gesellschaft sind oftmals leider irrational. Für absolute Bagatelldelikte wie das sogenannte Schwarzfahren ist eine Justizvollzugsanstalt jedenfalls der falsche Ort. Man muss es so deutlich sagen: Es handelt sich um eine Vergeudung finanzieller und personeller Ressourcen.

Wenn Bagatelldelikte entkriminalisiert würden, stünde quasi ein ganzes Haus Ihres Gefängnisses leer.

Ich bin jetzt seit 30 Jahren im Geschäft und habe immer wieder Wellenbewegungen erlebt, teilweise mit erdrückender Überbelegung, aber auch mit Unterbelegung. Auf jeden Fall könnten wir uns dann wieder um die eigentlichen Kernaufgaben des Justizvollzugs kümmern.

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