Italien und EU-Flüchtlingspolitik: Erinnerung an Lampedusa
Die Balkanroute ist dicht. Italien fürchtet, wieder stärker zum Transitland zu werden. Vor Lampedusa starben vor einem Jahr 1.000 Menschen.
Zahlen wie gehabt. Zahlen, die zur Nachrichtenroutine geworden sind, knapp gemeldet irgendwo auf den hinteren Seiten der Zeitungen. Zahlen schließlich, von denen es im italienischen Fernsehen – anders als noch vor wenigen Monaten – keine Bilder mehr gibt: Kein Sender schickt noch Reporter nach Lampedusa oder nach Trapani auf Sizilien, um die Flüchtlinge zu filmen, während sie von Bord gehen.
Die Bilder dagegen kommen in diesen Tagen aus dem hohen Norden Italiens, vom Brenner, gut 1.800 Kilometer von Lampedusa entfernt, und sie zeigen schweres Baugerät, aufgefahren von den Österreichern, um wieder Barrieren an der seit 1998 offenen Grenze zu errichten. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Empörung schaut Italiens Öffentlichkeit auf die Bauarbeiten, während Staatspräsident Sergio Mattarella am Mittwoch bei einem gemeinsamen Auftritt mit Bundespräsident Joachim Gauck wetterte, „Mauern und Barrieren“ seien der falsche Weg, „um uns zu schützen“.
Mehrere Jahre lang hatte Italien im Fokus der Fluchtbewegungen Richtung Europa gestanden, und nun fürchtet es, nach der Abrieglung der Balkanroute nicht nur erneut diese Rolle zugewiesen zu bekommen, sondern auch erneut „alleingelassen“ zu werden, wie schon vor dem April 2015. Damals zwangen die beiden Schiffskatastrophen vom 14. und 18. April mit mehr als 1.000 Toten die EU zum Umdenken, so dass sich endlich eine Europäisierung nicht nur der Rettungs-, sondern auch der Aufnahmepolitik für Flüchtlinge abzuzeichnen schien.
Lampedusa
Schon zuvor hatte eine Doppelkatastrophe eine Wende in der Flüchtlingspolitik nach sich gezogen – allerdings nur der Italiens, nicht Europas. Am 3. Oktober 2013 ertranken direkt vor Lampedusa 368 Menschen vor allem aus Eritrea bei Kentern ihres Schiffs, und nur acht Tage später starben vor Malta Hunderte Syrer. Die Regierung in Rom reagierte mit der Seenotrettungsmission „Mare Nostrum“; vom November 2013 an kamen zahlreiche Schiffe, Flugzeuge, Hubschrauber der Küstenwache und der Marine zum Einsatz, leisteten Beistand auch unmittelbar vor der libyschen Küste.
Gar nicht zufrieden mit diesem humanitären Einsatz war vorneweg Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière. Er geißelte „Mare Nostrum“ als indirekte Unterstützung für Schleuser. Die Mission war, so de Maizière, „als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“. In der Tat schnellte die Zahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge 2014 auf 170.000 hoch, etwa 80.000 von ihnen Syrer und Eritreer. Deutschland jedenfalls wollte von der in Rom eingeklagten „Europäisierung der Flüchtlingspolitik“ nichts wissen, im Gegenteil: Es drängte darauf, dass „Mare Nostrum“ wieder eingestellt würde.
Und die Bundesregierung, unterstützt durch die EU-Kommission, hatte Erfolg. Am 31. Oktober 2014 war Schluss mit dem Rettungseinsatz, stattdessen gab es jetzt die europäische Frontex-Mission „Triton“, gedacht zum Schutz der EU-Außengrenzen, nicht zur Rettung. Deshalb patrouillierten ihre Schiffe nur noch innerhalb der 30-Meilen-Zone vor Sizilien und Süditalien.
An den Flüchtlingszahlen änderte dies nicht viel; auch 2015 kamen 154.000 Menschen vor allem von Libyen aus nach Italien. Während die Zahl der Syrer auf 7.500 zurückging, stellten die Eritreer mit knapp 40.000 allein ein Viertel davon. Italien hatte in den Jahren 2014/2015 derweil die Aufnahmepolitik de facto zu einer europäischen Angelegenheit gemacht. Nur ein Drittel der im Jahr 2014 Eingetroffenen stellten in Italien einen Antrag auf Asyl oder humanitären Schutz. Gut 100.000 – vorneweg Syrer und Eritreer, die sich fast geschlossen einer Identifizierung durch die italienischen Behörden verweigerten – zogen nach Norden weiter, über die Alpen, vor allem über den Brenner.
Grenzschließung zum G-7-Gipfel
Was die Schließung dieser Route bedeutet, ließ sich schon im Juni 2015 besichtigen, als Deutschland anlässlich des G-7-Gipfels für einige Wochen Schengen aussetzte und Grenzkontrollen vornahm. Binnen weniger Tage strandeten mehrere tausend Flüchtlinge an den Bahnhöfen von Rom und Mailand, gehindert an der Weiterreise.
So alleingelassen Italien sich von Europa fühlte, so allein ließ es allerdings auch oft genug die Flüchtlinge im eigenen Land. Gerade einmal gut 100.000 Aufnahmeplätze stehen zur Verfügung, die meisten von ihnen in improvisierten Einrichtungen, die ihren Betreibern gute Geschäfte, den Untergebrachten oft genug miserable hygienische Standards bescheren.
„Mehr Geld als mit Drogen“ lasse sich an den Flüchtlingen verdienen, erzählte etwa der Boss eines zerschlagenen kriminellen Kartells, das in Rom ein großes Rad mit Flüchtlingsheimen drehte. Doch es geht noch schlechter; Ärzte ohne Grenzen spricht von etwa 10.000 Flüchtlingen, die trotz eines legalen Aufenthaltsstatus ganz auf der Straße oder in Abbruchhäusern leben.
Ihre Zahl könnte in den nächsten Monaten weiter steigen. Schon sind alle zur Verfügung stehenden Unterkünfte fast vollständig belegt, doch in den ersten Monaten dieses Jahres trafen deutlich mehr Menschen ein als im Vergleichszeitraum 2015. Knapp 20.000 Flüchtlinge zählte die International Organisation for Migration bis 31. März, fast das doppelte gegenüber dem Vorjahr.
Mögliche Ausweichroute
Mit der Schließung der Balkanroute hat diese Zunahme wenigstens bisher nichts zu tun, meint der Migrationsexperte Ugo Melchionda, Chef des Forschungsinstituts Idos: „Die in Italien Eintreffenden kommen aus anderen Ländern, vor allem aus Schwarzafrika. Syrer zu Beispiel sind kaum noch vertreten.“ Nigeria, Gambia, Senegal, Mali, Guinea sind 2016 die Hauptherkunftsländer. Dennoch ist da die Angst, Italien könne zur Ausweichroute werden, zum Beispiel von Griechenland nach Albanien und dann über die Adria.
So sehen das auch die Österreicher, glaubt Melchionda, „Griechenland ist gefallen, jetzt ist Italien dran.“ Präventiv gedacht sei die Aufrüstung der Brennergrenze, nicht so sehr auf die gegenwärtigen Flüchtlingsströme kalkuliert als auf die Zukunft. Die Aufrechterhaltung des Schengenraums, zugleich die Abkehr vom Dublin-Regime – wonach jedes EU-Land für „seine“ zuerst bei ihm eingetroffenen Flüchtlinge zuständig bleibt – hat Italien immer gefordert. Und es hatte sich Hoffnung gemacht, an der Seite Deutschlands eben dieses Ziel jetzt endlich zu erreichen.
Das Projekt: Die Europäische Grenzpolitik will Flüchtlinge von Europa fern halten. Aber für fliehende Menschen gibt es oft keinen Weg zurück. Es entstehen neue Routen, andere Wege. In einer interaktiven Onlinegrafik auf taz.de/fluchtrouten zeigen wir, wie politische Entscheidungen die Fluchtrouten in den vergangenen beiden Jahren beeinflusst haben.
Doch während die in der EU schon vereinbarte Flüchtlingsumverteilung von 160.000 Menschen aus Griechenland und Italien in andere Staaten einfach nicht in Gang kommen will, macht Italien bei der im Gegenzug geforderten Registrierung der Flüchtlinge seine „Hausaufgaben“. Mittlerweile „100 Prozent der Ankommenden“ würden mit Fingerabdrücken und Fotos erfasst, behauptet Innenminister Angelino Alfano.
Es könnte sein, dass Italien nur eines davon hat: dass es nun wirklich auf „seinen“ Flüchtlingen sitzen bleibt, stärker als je zuvor. Ob die Grenzkontrollen im Mai oder im Juni beginnen, lässt Österreich noch offen. Ein tiefer Einschnitt wäre es auf jeden Fall, meint Melchionda: „Italien glaubte, es werde am Ende auch zu einem ‚kleinen Schengen‘ gehören, zum Schengen Kerneuropas. Am Ende könnte es sich, genauso wie Griechenland, draußen finden, herabgestuft zur Peripherie.“ Gegen diese Perspektive laufen Roms Politiker Sturm – mit einer Ausnahme. Matteo Salvini, Chef der fremdenfeindlichen Lega Nord, gratulierte den Österreichern. Die hätten, so Salvini, wenigstens Politiker, „die die Interessen ihrer Bürger verteidigen“.
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