Israels Angriff auf den Iran: Völkerrechtliche Zeitenwende
Bei Israels Angriff auf den Iran agiert der Westen mit Doppelmoral. Damit trägt er mehr zu Erosion des Völkerrechts bei als der offene Regelbruch mancher Autokraten.

D er israelische Angriff auf iranische militärische und nukleare Einrichtungen markiert eine Wasserscheide – für die Region, aber womöglich auch für die Welt. Denn in der Reaktion der Weltgemeinschaft wird sich zeigen, ob es mittelfristig noch so etwas wie eine internationale Ordnung gibt, die zwischenstaatliches Handeln einhegt. Oder ob wieder das Recht des Stärkeren gilt, das in vergangenen Jahrhunderten zu dauerhaften Kriegen geführt hat.
Richtig, es geht hier nicht in erster Linie um Irans Atomprogramm oder Netanjahus politische Zukunft. Der israelische Premier mag sich ausrechnen, dass die Fortsetzung und Steigerung des von ihm selbst ausgerufenen „Siebenfrontenkriegs“ ihn davor bewahren werden, politisch per Urnengang oder juristisch durch die Gerichte zur Rechenschaft gezogen zu werden. Seine Argumentation, er habe mit dem Angriff eine unmittelbare Gefahr für sein Land abwenden müssen, ist angesichts der laufenden Atomgespräche zwischen Iran und den USA unglaubwürdig.
Und auch wenn die Berichte der Internationalen Atomenergiebehörde auf eine gesteigerte Urananreicherung und mangelnde Kooperation seitens Teherans hindeuteten, so war Iran doch selbst in den Worten Netanjahus vom tatsächlichen Bau einer Bombe – so diese Entscheidung denn getroffen würde – noch Monate entfernt.
Auch der US-Präsident kommt aus dieser Nummer nicht heraus, selbst wenn er erst verlautbaren lässt, Israel habe allein gehandelt, um im nächsten Moment die Angriffe zu loben und dem Land seine Unterstützung zuzusagen. Vor allem aber war Donald Trump derjenige, der mit dem Austritt aus dem Atomabkommen 2018 die aktuelle Situation – in der ein immer weniger kontrolliertes iranisches Atomprogramm als regionale Bedrohung wahrgenommen werden konnte – überhaupt erst herbeigeführt hat. Und der den „besseren Deal“, den er schon in seinem ersten Wahlkampf 2016 versprach, bis heute nicht ausgehandelt hat.
Cornelius Adebahr ist selbstständiger Politikberater und Analyst in Berlin, wo er zu europäischen und globalen Fragestellungen arbeitet und den Bürgerdialog über Außenpolitik fördert. Er ist seit Anfang 2006 am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) tätig und lebte von 2011 bis 2016 in Teheran.
Und die Europäer? Sind einmal mehr Zuschauer in einem Stück, dessen Akteure sie zwar zu kennen glauben, aber dessen Dramaturgie sie nicht verstehen – und in das sie dennoch meinen, eingreifen zu müssen.
Was wissen wir schon
Was wissen wir schon über das Gefühl, in einem Staat wie Israel zu leben, der seit seiner Gründung aus einer historischen Katastrophe heraus von den Nachbarn bekämpft wird, dabei selbst zu verrohen droht und in dem sich gleichzeitig tiefe innere Gräben zwischen liberalen und religiös-nationalistischen Einstellungen auftun? Was wissen wir über die Menschen in einem Land mit mehrtausendjähriger Geschichte, die vor rund 45 Jahren einen autoritären Monarchen zu Fall brachten, nur um seitdem von einer theokratischen Klasse unterdrückt und dem Großteil der westlichen Welt ausgegrenzt zu werden?
Und wie könnten wir verstehen, was in dem Kopf des mächtigsten Mannes der Welt vorgeht, für den sämtliche internationale Konflikte nur „dornige Deals“ sind, die es zu schließen gilt, weil doch jeder – wie er selbst – nur auf seinen ökonomischen Vorteil bedacht sei?
Was wir aber nachvollziehen können, ist die große Verwunderung in weiten Teilen der Welt über die selektive Anwendung von Regeln und das willkürliche Einfordern des Einhaltens derselben durch andere. Das heißt, um es plakativ an den zwei prominentesten Fällen seit 2022 festzumachen: Wir können nicht auf Dauer folgenlos den Völkerrechtsbruch des einen (Russland gegenüber der Ukraine) beklagen und bekämpfen und den des anderen (Israel in Gaza) beschweigen und nicht ahnden.
Ja, die Gesamtlage ist kompliziert und jeder Fall bedarf einer gesonderten Betrachtung, inklusive Vorgeschichte und möglicher Verbrechen auf beiden Seiten. Doch genau dafür ist das Völkerrecht da: allgemein gültige Regeln, die für alle Staaten gelten (sollten), egal ob sie unsere Verbündeten sind oder nicht. Im konkreten Fall heißt das: Wer, wie die Bundesregierung, den anlasslosen – und vermutlich völkerrechtswidrigen – Angriff Israels mit Verweis auf Irans mögliche Verletzungen des Nichtverbreitungsvertrags vorauseilend legitimiert, den Gegenschlag hingegen als „unterschiedslosen iranischen Angriff auf israelisches Staatsgebiet […] auf das Schärfste“ verurteilt, misst eindeutig mit zweierlei Maß.
Wenn die einen gleicher sind
Es ist diese Doppelmoral im Umgang mit dem Völkerrecht, die langfristig mehr zu Erosion der internationalen Ordnung beiträgt als der offene Regelbruch mancher Autokraten. Denn auch innerhalb einer Gesellschaft finden täglich Tausende Gesetzesverletzungen statt; doch solange sie unparteiisch verfolgt und bestraft werden, bleibt das zugrundeliegende Regelwerk anerkannt. Wenn dieses aber offenkundig nur für die einen gilt und für manche nicht, wenn Letztere also „gleicher“ sind als die anderen – dann verlieren die bestehende Ordnung und deren Verfechter ihre Glaubwürdigkeit.

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Noch einmal: Es kann Gründe geben, sich in der aktuellen Situation reflexhaft an die Seite Israels und der USA zu stellen, von unserer eigenen Geschichte bis zur Sorge um den Bruch des transatlantischen Bündnisses. Es ist möglich, zu dem Schluss zu kommen, dass ein Beharren auf das Völkerrecht – Verbot eines Angriffskriegs und bewaffneten Angriffen auf Nuklearanlagen, Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung in Konflikten – praktisch unmöglich ist.
Doch müssen wir uns bewusst sein, dass wir damit eine regellose Welt herbeiführen, in der kleine und mittelgroße Staaten der Willkür der Großmächte wie den USA, China und Russland ausgeliefert sind. Dass Deutschland und Europa als Verfechter des Völkerrechts und der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Ordnung ausfallen. Dass wir uns damit noch abhängiger von den Launen des Mannes im Weißen Haus machen, der uns seinen Willen aufzwingen kann.
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