Israel-Palästina-Konflikt: Neue Generation der Wut
Die neue Eskalation zeigt: Nur wenn die Sicherheit Israels mit den Rechten der Palästinenser verbunden wird, kann es eine Lösung des Konflikts geben.
In den letzten Tagen hat die internationale Gemeinschaft gelernt: Es geht nicht um die Beziehungen, die Israel mit einigen Golfstaaten unterhält. Der Kern des Problems ist der Konflikt mit den Palästinensern. Und deren Unmut und Frust über den Status quo drückt sich in dem aus, was wir nun erleben. Die jüngsten Unruhen haben eine neue Qualität. Bisher ging es immer um den vom Rest der Welt abgeschnitten Gazastreifen oder um die Rechte der Palästinenser in Ostjerusalem oder im Westjordanland, die unter israelischer Besatzung leben. Nun treten alle Palästinenser, auch jene, die innerhalb Israels leben, gemeinsam zu Protesten an – mit einer noch nie dagewesenen Vehemenz.
Welche Brisanz in den Aufstands-Newcomern steckt, den sogenannten 48er-Arabern, also jenen Palästinensern, die im israelischen Staatsgebiet leben und ein Fünftel der Staatsbürger Israels ausmachen, wurde deutlich durch die Lynchmorde und gegenseitigen Jagdszenen. Die Grenzen zwischen den von Israel besetzten Gebieten und dem israelischen Staatsgebiet verschwimmen dieser Tage. Der Konflikt mit den Palästinensern ist diese Woche zu allen Israelis nach Hause gekommen. Mit dem Eintreten der 48er-Palästinenser in den Konflikt, verändert sich auch die palästinensische Perspektive: Hier geht es nicht um eine Zweistaatenlösung oder um Territorium, sondern um gleiche Rechte als Bürger in einem israelischen Staat.
Neu ist auch, dass die Proteste in Ostjerusalem nicht mehr mit der Hamas oder Fatah verbunden sind. Die Jugendlichen, die in Ostjerusalem auf die Straße gehen, stellen eine neue Generation dar, die nicht nur von der täglich gelebten Diskriminierung genug hat. Sie ist auch desillusioniert gegenüber der eigenen politischen Führung – egal, ob sie Fatah oder Hamas heißt.
Verheerende Bilder für das kollektive arabische Gedächtnis
Nein, die Hamas-Raketen werden hier nicht ausgeblendet. Als die israelische Polizei die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem stürmte und verheerende Bilder lieferte, die sich in das kollektive arabische Gedächtnis eingebrannt haben, witterte die Hamas ihre Chance, auf die neue Protestbewegung aufzuspringen. Über tausend Raketen wurden Richtung Israel abgeschossen, terrorisierten die Bevölkerung und kosteten unschuldige zivile Opfer.
Das hat einen doppelten Effekt: Die Raketen bieten Israels Premier Netanjahu die Gelegenheit, den Konflikt dorthin zu ziehen, wo er den längeren Hebel hat: auf die militärische Ebene. Und schon hat sich die internationale Aufmerksamkeit abgewandt von den drohenden Zwangsräumungen im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah.
Aber auch der Hamas-Logik ist die internationale Gemeinschaft gefolgt. Als die Palästinenser in Ostjerusalem von Siedlern terrorisiert wurden und einigen die Räumung drohte, hatte sie unbeteiligt zugesehen. Sie schreckte erst auf, als die ersten Raketen flogen. Das ist das Traurigste: Die Palästinenser werden international erst wahrgenommen, wenn sie die Schwelle der Gewalt überschreiten.
Der Raketenbeschuss und die israelischen Bombardements werden wohl in ein paar Tagen nach amerikanischer und ägyptischer Vermittlung beendet werden. Was bleibt, ist die viel größere Herausforderung der Proteste innerhalb Israels. Hier gibt es keinerlei Vermittlung. Das ist der roheste Nerv des Nahostkonflikts.
Verschiebung des palästinensischen Diskurses
Aber noch etwas hat sich verändert: Wir erleben eine Verschiebung des palästinensischen Diskurses und eine neue Generation von Palästinensern, die sich eloquent Raum in der internationalen Wahrnehmung des Konflikts verschafft. Es ist ein Diskurs weg von Territorium und der Zweistaatenlösung hin zu gleichen Rechten zwischen Israelis und Palästinensern. Auch hier verschwimmen die alten Linien der Palästinenser, die im Westjordanland unter Besatzung leben, in Ostjerusalem gegen Zwangsräumung kämpfen, in Gaza isoliert sind oder in innerhalb Israels als Bürger zweiter Klasse leben. Der gemeinsame Appell lässt sich zusammenfassen mit einem „Auch wir haben Rechte“. Sie vergleichen sich mit der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA und machen daraus Palestinian Lives Matter. Statt des Wortes „Besatzung“ macht unter den Palästinensern wie unter Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch immer mehr das Wort „Apartheid“ die Runde. Auch das ist neu.
Alt ist dagegen die internationale Reaktion auf die Ereignisse der letzten Tage. Wir vernehmen erneut die von Inhalten befreite Rhetorik, bei der es nicht wirklich darum geht, den Konflikt zu lösen. Ein erster Schritt wäre ohnehin die Suche nach einem Konsens über die Realität, ohne den es keine echte Lösung geben wird. Sich einseitig auf eine Seite zu schlagen und reflexartig Lippenbekenntnisse zur Zweistaatenlösung von sich zu geben, wird diesen Konflikt nicht lösen. Nur wenn die Sicherheit Israels verbunden wird mit der israelischen Besatzung des Westjordanlands, der katastrophalen Lage in Gaza, der Diskriminierung innerhalb Israels und der schleichenden Vertreibung aus Ostjerusalem, beginnen wir über eine Lösung zu sprechen.
Wir können unseren Kopf weiter in den Sand stecken, was in den letzten Jahren auch gut gegangen ist. Aber in Wirklichkeit war die Situation nie nachhaltig. Und dabei ist völlig egal, ob man sich als proisraelisch oder propalästinensisch definiert.
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