Irland nach der Parlamentswahl: Selbstblockade in Dublin
Sinn Féin wird bei der Parlamentswahl überraschend stärkste Kraft. Aber die bürgerlichen Parteien verweigern sich einer Koalition
Irlands Wählerinnen und Wähler haben sich entschieden. Doch Klarheit haben sie bei den Parlamentswahlen am Samstag nicht geschaffen. Die jüngeren Wähler*innen haben jedoch deutlich gemacht, was sie nicht wollen: eine Fortsetzung der alten Politik, bei der sich die beiden konservativen Parteien Fianna Fáil und Fine Gael an der Macht abwechselten und sich einen Teufel um die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft scherten.
Profitiert hat davon Sinn Féin. Die Partei gewann mit 24,5 Prozent die meisten Erststimmen, weil sie im Wahlkampf Obdachlosigkeit, hohe Mieten und das katastrophale Gesundheitssystem in den Vordergrund rückte. Sinn Féin errang damit 37 von 160 Sitzen, ein Mandat weniger als Fianna Fáil, weil der Parlamentssprecher dieser Partei angehört und automatisch wiedergewählt wurde. Fine Gael kommt auf 35 Sitze.
Sinn Féin hat sich in den vergangenen Jahren alle Mühe gegeben, das Image abzuschütteln, nur der politische Flügel der inzwischen aufgelösten Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu sein. Die Parteivorsitzende Mary Lou McDonald ist erst ein Jahr nach Unterzeichnung des Belfaster Abkommens vom Karfreitag 1998, das Nordirland Frieden brachte, in die Partei eingetreten. Bis dahin war sie Mitglied bei Fianna Fáil. Sie steht gewiss nicht im Verdacht, wie ihr Vorgänger Gerry Adams IRA-Mitglied gewesen zu sein.
Die etablierten Parteien sind dennoch misstrauisch gegenüber Sinn Féin. Sicher, Fine Gael und Fianna Fáil sind Abspaltungen der IRA, aber das ist rund hundert Jahre her. Damals ging es um den Friedensvertrag mit der englischen Regierung, durch den Irland zwar de facto unabhängig wurde, aber auch Nordirland einbüßte. Aus den Befürwortern des Vertrags wurde Fine Gael, aus den Gegnern entwickelte sich Fianna Fáil. Das ist aber auch der Hauptunterschied, in ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik unterscheiden sich beide Parteien kaum.
Karriereziel Taoiseach
Deshalb haben sie bisher eine Große Koalition abgelehnt, da sonst alle merken würden, dass eine der Parteien im Grunde überflüssig ist. In den vergangenen vier Jahren hat Fianna Fáil eine Fine-Gael-Minderheitsregierung gestützt. Das ist auch Fianna Fáil am Samstag zum Verhängnis geworden, denn die Wähler machten sie für die unsoziale Politik mitverantwortlich. Eine Tauschgeschäft – eine Fianna-Fáil-Minderheitsregierung unter Duldung von Fine Gael – wäre für beide Parteien daher wenig ratsam.
Fianna-Fáil-Chef Micheál Martin hatte bis zum Wahltag stets verkündet, dass eine Koalition mit Sinn Féin nicht in Frage komme. Kaum war das Ergebnis bekannt, änderte er seine Meinung, denn er will unbedingt Taoiseach werden, wie der Titel des Premierministers lautet. Alle seine Vorgänger an der Spitze von Fianna Fáil waren im Laufe ihrer Karriere Taoiseach.
Für Sinn Féin wäre das ein großes Risiko. Die Unterstützung für die Partei ist nicht stabil. Viele haben sie gewählt, um den großen Parteien eins auszuwischen. Niemand rechnete damit, dass Sinn Féin plötzlich stärkste Partei würde – vor allem sie selbst nicht. So verschenkte sie mindestens ein halbes Dutzend Sitze, weil sie nicht genügend Kandidaten aufgestellt hatte. Sollte Sinn Féin sich in einer Koalition mit Fianna Fáil über den Tisch ziehen lassen, wären viele ihrer Wähler beim nächsten Mal wieder weg.
Das neue Parlament kommt am 20. Februar erstmals zusammen. Sinn-Fein-Chefin McDonald erhob am Montag Anspruch auf den Posten der Regierungschefin. Sie führe bereits Gespräche mit kleineren linken Parteien, um auszuloten, ob eine Regierung ohne die beiden großen Mitte-rechts-Parteien möglich sei. Die Zahl der Sitze reicht aber dafür nicht aus. Mit Grünen und Sozialdemokraten käme Sinn Féin auf 66 Sitze. Vielleicht kämen noch ein paar Parteilose hinzu, aber die für eine Mehrheit nötigen 80 Abgeordneten wären auch dann nicht in Sichtweite. Es wird eine ganze Weile dauern, bis Irland eine Regierung hat.
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