piwik no script img

Interview zum Leipziger BuchpreisIm Tempel der Heiterkeit

Essayist, Kunsttheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer: László Földényi erhält den Leipziger Buchpreis und spricht über Ungarn und Melancholie.

László Földényi erhält für „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ den Leipziger Buchpreis Foto: Ralf Leonhard
Ralf Leonhard
Interview von Ralf Leonhard

taz am Wochenende: Sie sollten auf der nun abgesagten Leipziger Buchmesse für ihr jüngstes Werk „Lob der Melancholie“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 öffentlich ausgezeichnet werden. Den Preis gibt es trotz Coronavirus und abgesagter Feier. Herr Földényi, sind Sie selbst ein melancholischer Mensch?

László Földényi: Eher nicht. Mich interessiert die Melancholie nicht aus biografischen Gründen, sondern weil sie vom Menschen nicht zu trennen ist und die Menschheit immer begleitet hat.

Sie haben ältere Schriften wie „Die Anatomie der Melancholie“ des englischen Gelehrten Robert Burton (1577–1640) durchgeackert. Haben Sie in dem Tausend-Seiten-Wälzer eine Antwort darauf gefunden, wo die Grenze zwischen Melancholie und Depression verläuft? Oft werden diese ja gleichgesetzt.

Melancholie darf nicht auf Depression reduziert werden. Das ist auch erst in den letzten 150 Jahren passiert. Melancholie ist ein viel weiterer Begriff. Er war in der europäischen Tradition zunächst mit Kreativität, Genialität und geistiger Größe verbunden. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte man dies medizinisch zu fassen.

Keats spricht von der Vergänglichkeit als Ursache melancholischen Empfindens. Wäre Weltschmerz auch eine Variante?

Weltschmerz gehört oft dazu. Lord Byron war bekannt für seine Spleens, aus denen er gerne Moden machte. Seine Frau sagte dennoch, „du bist melancholisch, wenn du heiter bist, nicht wenn du Weltschmerz hast“. Heiterkeit gehört also dazu. Keats sagt, Melancholie wohnt im Tempel der Heiterkeit.

Keats warnt in seiner Ode an die Melancholie davor, sich das Leben zu nehmen. Die Ungarn waren oder sind Weltmeister im Selbstmord – sind sie eine melancholische Nation?

Der französisch-rumänische Philosoph Emil Cioran hat gemeint, es gebe drei melancholische Nationen: die Portugiesen, die Russen und die Ungarn. Ich würde die Ungarn aber eher eine frustrierte Nation nennen. Diese Frustration kommt aus der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Melancholie ist etwas anders, die kann man nicht mit der Geschichte erklären, das ist eher ein existenzieller Begriff. Ich würde ihn nicht auf Nationen ausdehnen.

Im Interview: László Földényi

László Földényi

Geb. 1952 in Debrecen. Erhält für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ (Mathes & Seitz) den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020.

Frustrationen von 150 Jahren türkischer Besetzung oder der noch längeren Unterdrückung durch die Habsburger Monarchie?

Seit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert haben die Ungarn fast nur Niederlagen erlitten, selten einen richtigen Sieg gefeiert. Sie waren eine besetzte Nation: von Tataren, Türken, Habsburgern, Deutschen, Russen. Ungarn hat nie eine richtige Selbstständigkeit erlebt. Ähnlich wie Polen, das ja zeitweise sogar als Land von der Karte verschwand.

Vor 100 Jahren verlor Ungarn im Friedensvertrag von Trianon zwei Drittel seines Territoriums. Die Gedenkfeiern im Juni dürften jetzt eine hurrapatriotische Veranstaltung werden.

Trianon ist kompliziert. Wir schrumpften plötzlich zu einem kleinen Land, so wie Österreich. Fast fünf Millionen ethnische Ungarn leben heute in anderen Staaten, das sind halb so viele wie innerhalb der Grenzen. Es gibt kaum eine Familie, die nicht direkt vom Verlust betroffen war. Meine musste zum Beispiel aus der heutigen Ukraine flüchten. Die Teile, die Ungarn verloren hat, waren die bürgerlich entwickelten: die Slowakei und Siebenbürgen. Im heutigen Ungarn blieb, von Budapest abgesehen, davon wenig. Wir wurden ein Agrarland. Da bliebt ein Verlust und ein Schmerz. Andererseits, als das Regime von Miklós Horthy im Zweiten Weltkrieg ehemalige ungarische Gebiete der Tschechoslowakei rückeroberte …

und Hitler dafür grünes Licht gab …

… waren viele Ungarn, Sándor Márai inbegriffen, der von dort stammte, misstrauisch. Sie hatten eine bürgerliche Verfassung, während Ungarn seine halbfeudale, antisemitische Politik exportieren wollte. Das war schon sehr pervers. Der offizielle Diskurs ist heute: Wir sind ausschließlich Opfer, und die Engländer, Franzosen und die USA sind dafür verantwortlich. Dass wir auch Täter gewesen sind, das will man im offiziellen Ungarn nicht wahrnehmen. An der Teilung waren wir nicht unschuldig.

Mitglieder einer nationalistischen Gruppe marschieren zum 100. Jahrestag der Wahl von Miklos Horthy Foto: Reuters

Die Rumänen in Siebenbürgen sagen, die Ungarn seien nach 1867 schlimmer als die Habsburger gewesen.

Das war die habsburgische Politik des divide et impera. Das Agrarland Ungarn war Speisekammer für die ganze Monarchie. „Dafür könnt ihr eure eigenen Minderheiten unterdrücken.“ Andererseits haben natürlich auch die ungarischen Minderheiten ungeheuer viel gelitten.

Damit sind wir längst beim nationalkonservativen Premier Viktor Orbán, der seit bald zehn Jahren regiert.

Weil er den Minderwertigkeitskomplex nährt.

Dr. Johnson hat gesagt: „Patriotism is the last refuge of a scound­rel“?

Die Ungarn sind misstrauisch gegen alles, was fremd ist

Encyclopædia Britannica von 1911

Die letzte Zuflucht des Schurken ist der Patriotismus: Du hast sonst nichts, aber du bist Ungar. Weltweit kann man beobachten, wie der Populismus immer stärker wird. Orbán ist dabei nur ein Glied in der Kette. Er versteht sehr gut, dass die Ungarn Vater- und Führerfiguren brauchen. Ungarn hat nie eine demokratische Verfassung gehabt, war immer ein feudalistisches oder halbfeudales Land, das von oben regiert wurde. Kaiser Franz Joseph hat 1849 die ungarische Freiheitsbewegung niedergeworfen und deren bekannteste Generäle hingerichtet. Und schon drei Jahrzehnte später war er eine angebetete Figur in Ungarn. Dasselbe trifft auf Reichsverweser Horthy oder den kommunistischen Parteichef János Kádár zu. Er hat nach 1956 Hunderte hingerichtet und ist dennoch für die Ungarn bis heute der beliebteste Politiker des 20. Jahrhunderts. Ungarn brauchte immer solche Figuren: „Ich werde für euch alles tun, ihr müsst euch um nichts kümmern, aber dafür müsst ihr mir gehorchen.“ Orbán wiederholt das nur. Nach der Wende gab es eine Leerstelle und er war der Schnellste, der in die neue Rolle schlüpfte. So wurde aus dem einstigen Soros-Stipendiaten ein Soros-Verleumder. Keine Überzeugung, nur ein opportunistischer Pfauentanz, wie er einmal seine eigene Politik treffend bezeichnete.

All die Korruptionsskandale, die versickerten EU-Förderungen, warum schaden sie Orbáns Beliebtheit nicht.

Viele sagen: Es ist immer noch besser als früher bei den Kommunisten. Korruption wird hingenommen. Die Wirtschaft funktioniert, die Menschen können frei reisen und den Forint frei umtauschen. Unter halbfeudalen Verhältnissen wird Freiheit meist auf so etwas reduziert.

Und die Anti-Ausländer-Politik?

Ich habe in der Ausgabe der Encyclopœdia Britannica von 1911 unter „Hungary“ gelesen: „Die Ungarn sind misstrauisch gegen alles, was fremd ist.“ Das hat Gültigkeit bis zum heutigen Tag. Die Leute schauen schon misstrauisch, wenn einer Deutsch, Englisch oder Französisch spricht. Ungarn als eine Insel in Europa, damit kann man gut Politik betreiben. Dabei sind inzwischen eine halbe Million Menschen aus Ungarn weggegangen. Vorwiegend junge Leute mit Zukunftsplänen. Sie fehlen nun der ungarischen Wirtschaft. Sehr viele urbane Leute, die Abitur gemacht haben, aber auch sehr viele Handwerker arbeiten lieber im Ausland. Sie sind sehr unzufrieden mit der Entwicklung in Ungarn.

Antisemitismus ist ein Thema im Land. Von Orbán sagt man, er habe sich persönlich nie antisemitisch geäußert. Stimmt das?

Offiziell gibt es eine Politik der Nulltoleranz in Sachen Antisemitismus. Aber nehmen wir die Kampagne gegen George Soros, den wohlhabenden US-Bankier ungarisch-jüdischer Abstammung. Ein Propaganda-Plakat zeigt, wie er die Oppositionspolitiker in Ungarn wie Marionetten bewegt. In Ungarn verstehen das alle: Der Jude aus New York will unser Leben steuern. Auf die Plakate wurden häufig per Hand Davidsterne aufgemalt. Das erinnert an die dreißiger Jahre. Die Regierung bestreitet natürlich, mit der Anti-Soros-Kampagne zu tun zu haben.

Dazu kommt die „patriotische“ Kulturpolitik.

Nach den neuen Lehrplänen sind jetzt auch zwei Schriftsteller aus den vierziger Jahren – Albert Wass, ein bekannter Antisemit, und József Nyírő, ein Pfeilkreuzler – Pflichtlektüre. Sie haben drittklassigen Heimatkitsch verfasst. Nobelpreisträger Imre Kertész hingegen wurde gestrichen.

Das Land macht einen tief gespaltenen Eindruck.

Es gibt keinen Dialog der Regierung mit der Opposition. Beschlüsse werden ohne Rücksprache mit den Betroffenen gefasst. Aber ohne demokratisches Verhalten gibt es auch keinen normalen kulturellen Dialog, nur Misstrauen.

Wie lebt man als kritischer Intellektueller in Ungarn?

Die Möglichkeiten, öffentlich aufzutreten, werden weniger. Kritische Zeitungen verschwinden langsam, werden entweder eingestellt oder in Parteiblätter verwandelt. Ins staatliche Fernsehen oder in den Rundfunk wird man nicht eingeladen. Es gibt Listen von Intellektuellen, die man nicht zu Wort kommen lässt. Ich war vor 2010 regelmäßig eingeladen, im Rundfunk zu verschiedenen Themen zu sprechen, meist über Kunst und Literatur. Ich bin ja kein Politiker. Danach aber nie wieder.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Orbán und Kertész sind beide desillusionierte Liberale, die begriffen haben, dass die Mehrheit keine Freiheit will. Orbáns Ziel ist eine illiberale »christliche Demokratie«. Entsprechend bemerkt Kertész 2002 im Tagebuch: »Die Masse braucht eine Werteordnung, sonst schafft sie sich ihre eigenen Werte, und dann wehe dieser Welt.« Dass seine Bücher nicht mehr in der Schule gelesen werden sollen, ist insofern zu verschmerzen, als sie längst nicht jedermann versteht. Sie sind nämlich in einer »atonalen« Sprache verfasst. Im Nachwende-Ungarn hatte Kertész nicht nur Probleme mit den neuen Antisemiten, sondern auch mit dem institutionalisierten Liberalismus. 1990 trat er wegen antisemitischer Vorfälle aus dem Schriftstellerverband aus, und 1997 aufgrund weltanschaulicher Differenzen aus der Redaktion der liberalen Zeitschrift HOLMI. Seine späten Texte stoßen mittlerweile sogar im Westen auf Ablehnung. Auf einer Diskussion im Wissenschaftskolleg zu Berlin vom 30.10.2019 (Video auf der Website des Kollegs) wurde moniert, dass seine Tagebücher »skandalöse Einträge« zum Islam und zur Demokratie enthalten. Földényi, der daran teilnahm, bezeichnete ferner Kertész’ Roman Liquidation als »kitschiges Buch«. In dem Buch wirbt Kertész für die Auflösung der totalitären Mentalität durch eine subkulturelle Liebe. Wer das nicht sexy findet, muss schon sehr melancholisch sein. Dass Kertész die Gunst der Intellektuellen verloren hat, wurde auch deutlich, als am 9.11.2019 sein 90. Geburtstag mit dem 30. Jahrestag der Maueröffnung und dem Gedenken an die Pogromnacht von 1938 zusammenfiel. Es wäre zu erwarten gewesen, dass man an ihn erinnert und würdigt, was er über Europa und den Totalitarismus geschrieben hat. Im hiesigen Feuilleton erschien indessen – nichts. Wenn ich nun aber Klagen darüber lese, dass Kertész aus dem ungarischen Lehrplan verschwinden soll, muss ich immer an ein Lied von Jan Delay denken (das Kertész sicher gefallen hätte): »Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt.«