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Interview zu türkischer Außenpolitik„Eine goldene Chance für Erdoğan“

Welche Strategie verfolgt die Türkei im Nahen Osten? Die Politologin Arzu Yılmaz über goldene Chancen, Expansionspolitik und die Rolle der Deutschen.

Arzu Yılmaz in der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik Foto: Amélie Losier
Interview von Andreas Lorenz

taz.gazete: Frau Yılmaz, die Türkei ist Nato-Mitglied, hat aber dennoch mit der oppositionellen Freien Syrischen Armee das kurdische Afrin angegriffen und besetzt. Können Sie uns erklären, was da passiert ist, und was Präsident Erdoğans Absichten sind?

Arzu Yılmaz: Bis vor Kurzem bestimmte die Nato-Allianz mehr oder weniger das Handeln der Türkei im Nahen Osten. Die Vision des früheren Premiers und Außenministers Ahmet Davutoğlu war es jedoch, türkische Interessen und nicht die der westlichen Allianz ins Zentrum der türkischen Außenpolitik zu rücken. So begann die Türkei eine expansive Politik auf dem Gebiet des ­früheren Osmanischen Reichs. Unter diesen Umständen scheint die Kurdenfrage als Rechtfertigung zu dienen, sowohl im Irak, als auch in Syrien. Mit internationaler Duldung kontrolliert die türkische Armee nach eigenen Angaben im Nordwesten Syriens ein 7.000 Quadratkilometer großes Gebiet.

Will Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich das Osmanische Reich wieder aufleben lassen?

Das ist reine Rhetorik. Für die Türkei ist es nützlich, einen sogenannten failed state auf der anderen Seite der Grenze zu haben. So eine Staatsruine eröffnet politisch und ökonomisch ganz wundervolle Möglichkeiten. Der Irak ist ein Beispiel, wo türkische Unternehmen kräftig am Wiederaufbau des Landes mitmischen.

In Syrien aber scheint Präsident Assad mit Hilfe Russlands wieder die Oberhand zu gewinnen…

Es ist ausgeschlossen, dass Syrien wieder in den Vorkriegszustand zurückkehrt. Die Türkei hat derweil Millionen syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Das ist für Erdoğan eine goldene Chance, Einfluss auf den Lauf der Dinge in Syrien zu nehmen. Im Moment ist die Türkei außerdem die einzige Regionalmacht, die noch syrische oppositionelle Kräfte beherbergt. Letztendlich stärkt das die Position der Türkei in den Beziehungen mit Russland, Deutschland und selbst den USA. Die wollen sich schlicht nicht die Hände schmutzig machen…

… und Erdoğan ist dazu bereit?

Er drängt sich danach, diesen sehr schmutzigen Job zu erledigen, mit all seinen politischen und ökonomischen Kosten. Das macht seine Position sehr stark. Ihm wird ja auch überall der rote Teppich ausgerollt, weil er eben der Einzige ist, der keine Hemmungen hat, öffentlich dschihadistische Gruppen zu unterstützen, ideell und ganz handfest.

Im Interview: 

Warum ist es so schwer, eine Lösung für die Kurden zu finden, zum Beispiel eine Form der Autonomie?

Weil international keine Änderung im Nahen Osten gewünscht wird. Eine Autonomie würde zwangsläufig den Status quo aufheben. Wenn wir nach Ägypten schauen, sehen wir, dass al-Sisis Putsch international akzeptiert wird. Genauso ist man bereit, auch Assad wieder auf der internationalen Bühne willkommen zu heißen.

Russland ist eine neue Kraft in der Region. Macht das einen Unterschied?

Das russische Eingreifen in Syrien hat tatsächlich die Haltung der internationalen Gemeinschaft gestärkt, die die territoriale Integrität der Staaten des Nahen Ostens unberührt lassen will. Russland spielt eine Hauptrolle bei der Verteidigung dieser Integrität.

Welche Rolle spielt der Westen mit Blick auf die Türkei?

Der amerikanische Einfluss geht zurück und Europa hat es nicht eilig, einzugreifen oder das Machtvakuum im Nahen Osten zu füllen. Offensichtlich geht deshalb die Türkei davon aus, dass sie auf absehbare Zeit mehr Raum hat, auf dem syrischen Kriegsschauplatz zu operieren. Ich denke, dass es deshalb keine Abkehr von der Expansionspolitik gibt. Die Türkei handelt recht pragmatisch, indem sie gleichzeitig mit den Amerikanern im Irak und den Russen in Syrien kooperiert.

Die deutsche Regierung hat während des Angriffs auf Afrin nicht viel mehr getan, als zur Zurückhaltung aufzurufen. Kommt das von der Angst vor weiteren Flüchtlingen?

Was man nicht vergessen darf, ist, dass für die Deutschen die eigenen Sicherheitsbedenken Priorität haben. In diesem Kontext prägt die Flüchtlingskrise die deutsch-türkischen Beziehungen. Darüber hinaus versuchen die Deutschen in der Abwesenheit der Amerikaner eine neue Sicherheitsarchitektur zu installieren. Der frühere Außenminister Sigmar Gabriel erklärte, dass man, unabhängig davon, ob es den Deutschen gefalle, in Zukunft wohl eine stärkere Rolle im Nahen Osten spielen würde. Besonders der letzte Erdoğan-Besuch in Deutschland zeigte, dass die deutsch-türkischen Beziehungen auch mit der deutschen Position im Nahen Osten zusammenhängen. Da gibt es sich überschneidende Interessen.

Was würden Sie Angela Merkel im Umgang mit Erdoğan empfehlen, wenn sie Sie fragen würde: ‚Was soll ich tun?‘

Wenn denn eine Empfehlung nötig wäre, würde ich mir wünschen, dass die deutsche Regierung eine Stimme der freien Welt wäre. Trump ist ja ein schlechter Witz. Unter den gegebenen Umständen wäre es gut, wenn Deutschland die Stimme für die Rechte aller Menschen erhebt, auch die der Kurden.

Mitarbeit: Nermin Pınar Erdoğan

Aus dem Englischen von Daniél Kretschmar

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