Interview mit der Slawistin Marlene Grau: „Die Kunst sitzt mitten im Leben“
25 Jahre lang hat die Slawistin Marlene Grau in der Hamburger Staatsbibliothek gearbeitet. Ein Gespräch über das Leben im Moskau der 1980er-Jahre, die Bespitzelung durch den KGB – und die wohltuende Wirkung des absurden Humors
taz: Frau Grau, warum haben Sie sich in die russische Kultur verliebt?
Marlene Grau: Das lief über die Sprache. Sprachen waren schon in meiner Kindheit sehr präsent; mein Großvater sprach zehn. Ich selbst habe als Gymnasiastin angefangen, meine Tagebücher in griechischer Schrift zu schreiben. Später habe ich Latein und Englisch gelernt, dann mit Russisch angefangen: noch eine Schrift, toll! Fürs Studium habe ich mir eine leichte und eine schwere Sprache ausgesucht – Englisch und Russisch, als Sprachwissenschaftlerin.
Eine eher trockene Materie.
Finde ich nicht. Es interessiert mich maßlos, wie Sprache funktioniert. Russisch zum Beispiel ist barock und nuancenreich, mit einem großen Fundus aus Altrussisch und Altkirchenslawisch sowie Verbindungen zum Altgriechischen und Lateinischen. Und es kennt keine Artikel. Dafür gibt es ein ziemlich komplexes Verbsystem, die „Aspekte“. Solche Unterschiede sind extrem interessant, weil Sprache immer auch einen Blick auf die Welt spiegelt.
Marlene Grau, geboren 1955, Anglistin, Amerikanistin und Slawistin, promovierte über den russischen Satiriker Michail Soschtschenko. Danach absolvierte sie ein Bibliotheks-Referendariat und war seit 1992 Referentin für Öffentlichkeitsarbeit sowie Fachreferentin für Slawistik an der Staats- und Universitätsbibliothek „Carl von Ossietzky“ in Hamburg. Am kommenden Donnerstag, 30. 11., geht sie in den Ruhestand.
Und sie kann Politikum sein: wie bei Michail Soschtschenko, über den Sie promoviert haben.
Ja. Dieser sowjetische Satiriker der 1920er-Jahre hatte – wie alle, die von der herrschenden Meinung abwichen – Schwierigkeiten zu überleben. Ich habe über die Zensur geschrieben, der seine Texte unterlagen. Habilitieren wollte ich dann über die Sowjet-Sprache der 1930er-Jahre, als der große Terror einsetzte. Es hat mich dann aber so deprimiert, wie die Sprache die Menschen ins Passiv versetzte und entmenschlichte, dass ich abbrach. Ich habe das nicht ausgehalten.
Ein Beispiel?
Damals beherrschte eine trockene Kanzleisprache das öffentliche Leben. Vor allem in den Zeitungen waren die Sätze im Passiv formuliert: „Vom Obersten Sowjet wird angeordnet, dass dies und jenes getan wird.“ Das Subjekt, der Mensch als handelndes Wesen verschwindet.
Wie bei Daniil Charms, dem die aktuelle Ausstellung in Ihrer Bibliothek gilt.
Ja, in seinen Geschichten löst sich der Mensch in Nichts auf; Charms hat in den 1920er-Jahren die spätere Entwicklung vorweggenommen. Seine Werke wurden – bis auf die Kinderliteratur – nicht gedruckt. Er wurde verbannt, kam später ins Gefängnis und starb 1942 während der Hungerblockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht in einer Gefängnispsychiatrie.
Was schätzen Sie an Charms?
Er war sehr interessiert an Sprache, Klang, Rhythmus und hatte einen absurden Humor, wenn er über den Alltag schrieb. Das liegt mir, denn ich komme ja auch ein bisschen vom Clown.
Sie kommen „vom Clown“?
Ja. Als mein Leben eine Zeit lang etwas schwerer war, habe ich eine Clowns-Ausbildung absolviert. Mein Sohn wurde 1994 mit gesundheitlichen Problemen geboren. Dann trennte ich mich von meinem Mann, arbeitete parallel weiter, und alles war relativ schwierig. Heute ist mein Sohn gesund, aber damals hatte ich nicht so viel zu lachen Dann nahm mich jemand zu einem Clowns-Workshop mit. Das tat mir so gut, dass ich drei Jahre lang die Hamburger Clownsschule besuchte. Ich erinnere mich, dass ich in den ersten drei Monaten bei jedem Treffen durchgelacht habe. Weil ich plötzlich das Absurde erkannte, statt zu denken: Oje, jetzt bekommst du noch einen auf den Deckel!
Wo ist Ihr innerer Clown heute?
Wenn Sitzungen langweilig sind, schalte ich um und gucke, wie die Leute sich verhalten: wie ihre Beine stehen, wie ihre Arme liegen … Dieses Beobachten finde ich auch bei Charms. Der guckt sich an: Jemand geht des Wegs, stolpert, fällt um, vielleicht ist er auch tot … Er wirft einen Blick darauf, ist sehr schnell, sehr kurz. Bei ihm sitzt die Kunst mitten im Leben.
Wann sind Sie ins reale russische Leben eingetaucht?
In den frühen 1980er-Jahren, als ich dort ein Studienjahr verbrachte. Es war eine sehr intensive Zeit. Ich hatte dort Freunde, die meinetwegen verfolgt wurden …
Wie kam das?
Ich war damals links, irgendwie kommunistisch – aber ich war nicht in der Partei. Bevor ich – mit sechs weiteren Stipendiaten – nach Moskau fuhr, hatte uns der Deutsche Akademische Austauschdienst gewarnt: „Es gibt dort den KGB, der euch eventuell verfolgt.“ Wir dachten: „Uns doch nicht! Wir sind doch auch links!“ Und dann passierte es doch. Ich teilte mir ein Doppelzimmer mit einer Russin und erzählte ganz naiv: „Stell dir vor, ich habe Russen kennengelernt, und die besuche ich jetzt.“ Sie hat das weitergegeben.
Und wer wurde verfolgt?
Sascha, der in Atomphysik promovierte. Er hatte unterschreiben müssen, dass er keinen Kontakt zu Westlern pflegen würde. Dann lernte er mich kennen und nahm mich mit nach Hause zu Frau und Tochter. Eines Tages merkten wir, dass vor ihrem Haus Fußstapfen waren und der Hund gebellt hatte …
War das alles?
Nein. Eines Nachts fuhren Sascha und ich mit dem Zug auf die Datscha, als die Polizei den Wagen durchsuchte und unsere Pässe verlangte. Sie bemerkten, dass ich als Westlerin den vorgeschriebenen 50-Kilometer-Radius überschritten hatte, schwiegen aber. Kurz darauf wurde Sascha zum KGB gerufen – und aufgefordert, mich entweder nicht mehr zu treffen oder auszuspionieren. Nachdem er beides abgelehnt hatte, wurde er von der Universität geworfen, kurz vor Ende seiner Promotion.
Wovon lebte er danach?
Wer so etwas in der Sowjetunion in seiner Akte stehen hatte, bekam nie wieder einen qualifizierten Job. Er hat sich durchgeschlagen, hat Türen abgedichtet, Privatunterricht gegeben, später an einer Schule Mathematik unterrichtet.
Hatten Sie Schuldgefühle?
Ich kam mir vor wie eine Aussätzige und hatte das Gefühl: Ich bin eine wandelnde Gefahr für die Menschen hier.
Waren Sie nach alldem bei der Rückkehr aus Moskau immer noch links?
Nicht in dem Sinne, das ich noch das System gut fand. Aber grundsätzlich finde ich die Welt mit ihrem Wohlstandsgefälle immer noch ungerecht. Ein kommunistisches Regime, das das Individuum verleugnet und alles der Masse opfert, ist aber keine Lösung. Auch das Geheuchel fand ich abstoßend. Da stand an abblätternden Fassaden: „Die Sowjetmacht hat das Land in ein blühendes Paradies verwandelt“ – und die Leute standen an für Brot!
Waren Sie später auch als Bibliothekarin politisch aktiv?
Nicht im engeren Sinne. Die Ausstellung „Homosexuellenverfolgung in Hamburg“ 2007 hat allerdings einiges bewegt. Die Schau wurde mir von einer Gruppe angeboten, die es erfolglos in anderen Hamburger Museen versucht hatte. Ich fand das Thema wichtig und zeigte sie. Und alle schwulen Menschen und alle Abgeordneten in Hamburg kamen! Es war unsere erfolgreichste Ausstellung. Später wurde sie im Rathaus gezeigt. Das war nur möglich, weil wir als „seriöse“ Institution der Schau unser Siegel gegeben hatten. Darauf bin ich stolz.
Apropos Öffnen: Wie verändern die Neuen Medien den Bibliotheksalltag?
Für die wissenschaftliche Arbeit ist die Verfügbarkeit von Information in elektronischer Form sensationell. Über unsere Kataloge kann man zum Beispiel auf Millionen von Zeitschriftenaufsätzen zugreifen. Einen Teil davon kann nur die universitäre Öffentlichkeit einsehen, weil die Lizenzen nur campusweit gelten. In dem Fall kann aber die Stadtbevölkerung die Texte an unseren Computern vor Ort lesen.
Warum ist die Universität so privilegiert?
Wir sind die Universitätsbibliothek – fast zwei Drittel unserer Leser sind Studierende und Lehrende, für die wir die wissenschaftliche Literatur anschaffen. Aber unsere Mittel sind begrenzt. Derzeit fließt über die Hälfte unseres Erwerbungsetats in elektronische Medien. Das ist so gewollt. Aber die großen Wissenschaftsverlage knebeln uns und werden immer teurer. Die Preissteigerungen bei elektronischen Medien sind wesentlich höher als bei Printmedien.
Und nebenbei stirbt das Buch.
Nein. In Deutschland werden jedes Jahr mehr Bücher gedruckt als im Vorjahr. Der Buchmarkt ist allerdings kurzatmiger geworden; die Bücher landen schneller bei Billig-Anbietern.
Und was bedeutet Ihnen persönlich das Buch?
Für mich ist das ein haptischer Genuss. Es macht einen Unterschied, ob ich im E-Book den puren Text lese oder ob ich mir einen Text im Wortsinn aneignen, ihn be-greifen will. Ich glaube, dass auch das Lernen viel über die Sinne funktioniert – und über die körperliche Gestalt eines Buchs.
Arbeiten Sie selbst mit Papier?
Ja, und als Ruheständlerin werde ich ab 1. Dezember endlich Zeit haben, künstlerisch zu arbeiten. Ich mochte Papierarbeiten schon immer; ich bastle Origami, baue Modelle, male, beschrifte, schneide. Wenn ich zum Beispiel diesen Zettel zu einem Viereck schneide, kann ich einen schönen Lotos daraus falten und als Tischkarte auf Ihren Teller legen. Wenn dieses flache, bescheidene Stück Papier plötzlich dreidimenisonal wird, finde ich das sehr beglückend!
Sonst noch Pläne für die Rente?
Ich werde wie eine Verrückte Griechisch lernen. Griechisch enthält ja unser ganzes westliches Denken und ist die tollste Sprache von allen!
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