Interview mit Vogelexperten: "Berlin ist ein Ersatzfelsen"
Die gemeine Straßentaube hat einen schlechten Ruf - dabei ist sie ein gutmütiger und familiärer Kiezhocker, der aufmerksam unsere Nahrungsreste entsorgt.
taz: Herr Witt, Berlin quillt regelrecht über vor Taubenkot. Unter manchen Brücken traut man sich kaum hindurch, weil man Angst hat, dass einem auf den Kopf gekackt wird. Zudem gelten die Vögel als Virenüberträger. Sind Tauben wirklich die „Ratten der Lüfte“?
Klaus Witt: Ich sehe sie eher als Ameisen der Lüfte: Überall dort, wo viele Menschen zusammenkommen, sorgen Tauben dafür, dass Nahrungsreste biologisch entsorgt werden – sie fressen sie. Dass die Tauben ihren Kot dann auf Gebäuden oder Denkmälern hinterlassen, gefällt den Leuten nicht mehr so gut.
Wie viele Tauben gibt es Ihres Wissens in Berlin?
74, ist studierter Physiker. Er leitet die Fachgruppe Ornithologie beim Berlin Naturschutzbund (Nabu) und ist Mitglied der Berliner Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft. Er interessiert sich seit der Schulzeit für Vögel.
Einer partiellen Zählung und anschließenden Hochrechnungen der Berliner Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft zur Folge gibt es aktuell rund 10.000 Tauben in Berlin. In einigen Gebieten ist das ein Rückgang von bis zu 40 Prozent seit 2005. Das fällt den meisten aber gar nicht auf, weil Tauben in Schwärmen auftreten. Wenn man aber an den Trafalgar Square in London denkt, wo Tausende von Tauben sitzen, oder an den Markusplatz in Venedig, auf dem Taubenfüttern eine Art Sport ist, dann sind das in Berlin eigentlich gar nicht so viele.
Woran liegt es, dass es hier immer weniger Tauben gibt?
Die Tauben haben Schwierigkeiten, Nischen zu finden, um ungestört ihre Brut aufzuziehen. Wegen der Abwehrmaßnahmen der Menschen an Gebäuden wie etwa Drähten oder Spikes brühten sie jetzt eher in kleineren Kolonien, etwa am S-Bahnhof Schöneberg. Der Tierschutzbeauftragte des Landes hat außerdem ein Projekt ins Leben gerufen: Es werden Taubenhäuser eingerichtet, in denen sie brüten. Dann werden die Eier gegen Gipseier ausgetauscht, um die Reproduktion zu verringern. Die Taubenmutter bleibt auf den Gipseiern sitzen und brütet, bis sie erschöpft ist. Schließlich merkt sie, dass gar nichts passiert.
Klingt irgendwie grausam.
Ja, aber Tauben haben auch tierische Feinde. Es gibt zurzeit 60 Habichtbrutpaare in Berlin, davon allein drei im Tiergarten. Straßentauben stehen ganz oben auf ihrer Speisekarte. Der Habicht ist viel schneller als die Taube, schlägt sie im Flug und rupft ihr dann die Federn aus, bevor er sie an seine Jungen verfüttert.
Warum leben Tauben überhaupt in der Stadt, wenn die Bedingungen so denkbar schlecht für sie sind?
Stadttauben stammen von der wildlebenden Felsentaube ab, die in kleinen Höhlen und Nischen in Felswänden gebrütet hat. Wir müssen die Stadt als einen Ersatzfelsen betrachten. Während des Mittelalters wuchs die Population der Stadttauben in Taubenschlägen, sie wurden etwa als Brieftauben genutzt. Die dort gehaltenen Tauben haben sich dann irgendwann selbstständig gemacht und sich etwa in Kirchentürmen niedergelassen.
Sind Tauben denn sesshaft oder ziehen sie ständig um?
Es sieht so aus, als ob sie ziemlich konstant ihre Plätze besetzen. Das erkennt man daran, dass sie über Jahre hinweg immer wieder an denselben Orten zu finden sind. Außerdem sieht man selten, dass Tauben auch mal aus der Stadt herausfliegen. Ab und zu sitzen mal drei oder vier Tauben in einem Maisfeld. Sobald man aber in der Stadt ist, sitzen sie zu Hunderten zusammen. Tauben bleiben gezielt in der Stadt und in bestimmten Kiezen.
Sollte man Tauben füttern?
Tauben sollten sich ihre Nahrungsquelle selbst erschließen. Natürlich nehmen sie die Einladung an, wenn ihnen Futter angeboten wird. Aber von Natur aus sind sie prädestiniert, Futter zu finden. Sie nutzen zudem die Reste, die wir hinterlassen, sodass ihr Überleben nicht von der Einrichtung von Futterplätzen abhängt.
Manchmal verhungern Tauben aber auch?
Ja, in der Nähe des Doms habe ich schon tote Tauben gesehen, die verhungert waren. Aber das ist schlicht und ergreifend das Gesetz der Natur. Menschen neigen diesbezüglich manchmal dazu, emotional zu reagieren. Jedes Lebewesen wird einmal sterben. Über Infektionen und Taubenkrankheiten wissen wir leider recht wenig. Interessant ist, dass man sehr selten tote Tauben auf der Straße sieht. Das Beseitigungssystem der Natur funktioniert da ganz hervorragend: Wenn ein Vogel stirbt, wird er entweder vom Fuchs oder der Krähe geholt oder von kleinen Insekten und Maden beseitigt. Auch hier in der Stadt finden Tierkadaver ihren Platz im natürlichen Kreislauf.
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