Integration von Flüchtlingen: Auf dem Weg in ein neues Leben
Eine Hochschule in Mannheim will Geflüchtete zu IT-Managern ausbilden. Die Arbeitsmarktchancen sind gut. Ein Besuch der Aufnahmeprüfung.
George ließ die Zeugnisse in Aleppo auf Englisch übersetzen. Vorsorglich, auch wenn er das deutsche Wort „studierfähig“ vor fünf Monaten noch nicht kannte. Die übersetzten Unterlagen sind die Zulassungsvoraussetzung, um an deutschen Hochschulen studieren zu dürfen. Seite für Seite gehen George und die Assistentin der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim die Unterlagen durch. Er hat studiert, seinen Abschluss gemacht, sich weitergebildet, gearbeitet.
Deutsche Unternehmen brauchen jedoch eher wenige Archäologen. Gesucht werden Menschen, die industrielle Produkte erklären, verkaufen können, die den Service einer Firma vermitteln und die Waren- und Finanzströme im Betrieb kontrollieren. George weiß mit 28 Jahren, dass er auf unabsehbare Zeit in Deutschland bleiben wird. Um später sein eigenes Geld zu verdienen, will er noch mal studieren und an diesem Tag an der privatwirtschaftlichen HdWM einen Eignungstest bestehen, um dann einen der gesponserten Studienplätze für IT-Management zu bekommen.
Die Hochschule bildet junge Leute dazu aus, ihren späteren Kunden komplexe Softwareprogramme erklären zu können. „Es gibt in Deutschland zu wenig akademisch gebildete Verkäufer“, sagt Franz Egle. Er ist Unternehmer und Präsident der privaten HdWM.
Egle, 70 Jahre alt, lehnt sich in den grünen Polstern der Café-Lounge der Hochschule hinter der Bibliothek zurück. Weiterbildung und Berufsqualifizierung waren immer seine Themen, erst für die Hochschule der Bundesanstalt für Arbeit, dann an einer privaten Universität in Heidelberg, später an einem privaten Forschungsinstitut.
Kampf gegen den Fachkräftemangel
Als er 2010 hätte in Rente gehen können, gründete er mit einem Weiterbildungsunternehmen die HdWM. Eigentlich wollten sie nur den „Studiengang Vertrieb“ anbieten. Wegen des drohenden Fachkräftemangels. Denn der durchschnittliche Vertriebsmitarbeiter ist über 50 Jahre alt, und schon lange beklagen die Unternehmen bei den Weiterbildungsanbietern, dass auch Mitarbeiter für den Verkauf ausgebildet werden müssten. Darum kümmerte sich Egle. Mittlerweile sind als Gesellschafter der privaten Hochschule auch der Internationale Bund und der Deutsch-Türkische Bund hinzugekommen.
Egle bringt ein Netzwerk aus Kontakten mit, zu Regierungen verschiedener Bundesländer, Ministerien und zu Unternehmen. Anfang Dezember lud er Politiker und Unternehmer zu einer Tagung zur „Integration in das System Arbeit durch akademische Aus- und Weiterbildung von studierfähigen Flüchtlingen“.
Laut Mittelstandsbarometer von Ernst & Young können 62 Prozent der Betriebe freie Stellen zurzeit nicht besetzen. 49 Prozent müssen deshalb bereits Aufträge ablehnen. Hochgerechnet gingen dem Mittelstand fast 46 Milliarden Euro an Umsatz im Jahr verloren, insgesamt fehlen ihm 326.000 Arbeitskräfte.
85 Prozent von ihnen bekunden ihre Bereitschaft, Flüchtlingen Arbeit zu geben. 55 Prozent der Unternehmen rechnen damit, dass der Flüchtlingszustrom den Fachkräftemangel mildern kann.
Für die Erhebung wurden rund 3.000 Betriebe mit 30 bis 2.000 Mitarbeitern befragt.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) rechnet mit einem Zuzug von 380.000 Geflüchteten als potenzielle Arbeitskräfte.
Kaum zwei Wochen später hatte er die Zustimmung des Wissenschaftsministeriums von Baden-Württemberg zu seinem Plan. 20 Asylsuchende und geflüchtete Menschen mit gesichertem Aufenthaltsstatus will er ab April an der Hochschule zu IT-Managern ausbilden. 700 Euro kostet die Ausbildung pro Monat. Die eine Hälfte zahlt ein IT-Konzern, die andere sollen Unternehmen, Privatleute oder Stiftungen beisteuern.
„Ich bin überzeugt, dass da hoch motivierte Leute dabei sind“, sagt Egle in weichem badischen Dialekt. Zum Eignungstest an diesem Tag hat er sich eine rot-blau gestreifte Krawatte umgebunden. Sonst geht es eher formlos an der HdWM zu. „Franz“ nennen ihn die Dozenten, seine Assistentin und auch die Studierenden, die ihn aber siezen.
Rauchende Schlote und IT
Mannheim liegt mitten im Speckgürtel entlang von Rhein und Main. Die Region boomt, die Schlote der alten Industriebetriebe rauchen, hinzugekommen sind in den vergangenen Jahrzehnten jedoch Hightech-Konzerne wie SAP und IBM. Die Industrie hat die Gegend geprägt, seit Jahrzehnten wandern Migranten hinzu, aus der Türkei, Italien, Nepal. Und manche Kinder dieser Einwanderer studieren nun an der HdWM. Rund 300 Menschen aus 27 Nationen von vier Kontinenten studieren an der HdWM und zahlen 350 Euro im Monat dafür.
„Unser Ziel ist es, die versteckten Talente zu den versteckten Champions zu bringen“, sagt Egle. Er meint die Mittelständler in den Dörfern der Rhein-Main-Region, von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, mitunter Weltmarktführer, die kaum jemand kennt.
Diese Unternehmer bringt er mit den Jugendlichen zusammen, deren Eltern als Gastarbeiter kamen. Deswegen gehört auch das Praxissemester zum Studium an der privaten Hochschule dazu. Im 3. Semester machen die Studenten ein Praktikum in einem Unternehmen aus dem Hochschulnetzwerk, das 5. Semester sind sie die ganze Zeit im Unternehmen, möglichst auf Vorstandsebene und schreiben dann ihre Bachelor-Arbeit über ein Thema des Unternehmens.
„Das Verlobungsmodell“, nennt Egle diese Studienform, denn die Studenten sind nicht schon zu Beginn an einen Betrieb gebunden, sondern entwickeln im Laufe ihres Studiums eine Beziehung zu dem Unternehmen. Einen Job im mittleren Management hätten die Absolventen nach dem Studium an der HdWM sicher, sagt er.
Für die Geflüchteten hat er schon drei Zusagen von Unternehmen, die die Gebühren für das Studium übernehmen. Das alles bereits an dem Morgen, als George, Yasser, Degol und die anderen zum Eignungstest kommen.
17 Männer und drei Frauen, fast alle aus Syrien, dazu ein Minderjähriger aus Gambia und drei Männer aus Eritrea haben durch den nassgrauen Morgen den Weg zur Hochschule gefunden. Ein nüchterner Bau unterhalb einer mehrspurigen Hochstraße. Bis vor Kurzem saß darin die Verwaltung der Maschinenbaufabrik Vögele. Die Fabrikhallen rundherum sind abgerissen, links der HdWM hat sich das Goethe-Institut in einem Neubau eingerichtet, schräg gegenüber baut der HdWM-Gründungsunternehmer ein Studentenwohnheim. Auf dem Gelände will er einen Weiterbildungs-Campus aufbauen.
In zwei Gruppen machen die geflüchteten Studenten den Test. Erst sollen sie innerhalb von 90 Minuten 300 Fragen auf einem Tablett beantworten, dann noch 20 Minuten lang Matheaufgaben auf Papier lösen, einen schwierigen Bruch, Prozentrechnung, eine Tabelle analysieren, die was über Arbeitslosigkeit und das Bruttoinlandsprodukt in fiktiven Ländern aussagt.
„Nehmen Sie die Antwort, die im Augenblick die richtige ist“, sagt Egle über den elektronischen Test, und Yasser aus Aleppo übersetzt auf Arabisch. „Denken Sie nicht darüber nach, welche Antwort ihnen die besten Chancen für ein Studium hier eröffnen könnte“, mahnt Egle, und auch das übersetzt Yasser mit leiser Stimme in dem lang gestreckten Raum mit Kunststofftischen und grauen Konferenzstühlen. Auf einem Sideboard steht Kaffee in Thermoskannen.
Heimat in Schutt und Asche
Yasser kam vor fast drei Jahren nach Deutschland, um Nachrichtentechnik zu studieren. Eine Woche nachdem er angekommen war, wurde seine Heimatstadt in Schutt und Asche gelegt. Er machte seinen Bachelor und beantragte dann vor acht Monaten Asyl, erzählt er mit leiser Stimme, das schmale Gesicht blass und besorgt. Seine Eltern und Verwandten haben es nach Ägypten und in die Türkei geschafft, fügt er hinzu. Mit einem Abschluss in der Tasche und seinen 29 Jahren würde Yasser lieber einen Masterstudiengang an der HdWM belegen, als noch mal von vorn anzufangen.
Trotzdem macht er den Test mit und bewirbt sich für den Studiengang. Dabei hat Yasser eine feste Stelle bei dem Weiterbildungsunternehmer und Geldgeber der HdWM. Dort organisiert er Deutschkurse für Flüchtlinge. „Man braucht Chance, um zu machen“, sagt er mit Nachdruck, trotz leiser Stimme.
„Mein Herz schlägt für Archäologie“, sagt George auf Englisch und lacht. Er lächelt selbst, wenn er beschreibt, wie in seiner Heimat Syrien alles zerstört wurde.
Im September kam er nach Deutschland, „zu Fuß“, wie er auf Deutsch sagt. Von Griechenland über Mazedonien, Ungarn, Österreich. Er lebt nun in Frankfurt am Main, lernt Deutsch und richtet sich darauf ein, sein Leben mit 28 Jahren noch einmal neu zu beginnen. „Ich wünsche mir, dass der Krieg in Syrien endet. Aber das ist in weiter Ferne“, sagt er.
In Syrien habe er auch schon im Verkauf gearbeitet, erzählt George der Prüfungskommission, die Franz Egle am Nachmittag zusammengestellt hat. Dozenten der HdWM, die Vertreterin einer Personalagentur, ein Islamwissenschaftler, ein Professor von der staatlichen Uni.
„Geschichte ist alles“, sagt George und erklärt, warum er gern noch mal studieren möchte und warum er absolut geeignet wäre. „Aber Verkauf ist auch alles“, ergänzt er sicherheitshalber. Vielleicht könne er ja eines Tages beide Ausbildungen miteinander verbinden.
Die Prüfungskommission nimmt ihn. Auch Yasser bekommt einen Studienplatz, ebenso ein Betriebswirt aus Eritrea und ein früherer Mathematiklehrer aus Syrien. Vier von zwanzig haben an diesem Tag Erfolg. Am Ende des Tages hat Franz Egle auch die Unternehmen zusammen, die die Studiengebühren der vier übernehmen. Aber er bleibt bei seinem Ziel, bis April 20 Stipendien zusammenzubekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod