Insiderbericht aus dem Bamf: Ansichten eines Anhörers
Unser Autor war sechs Monate beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Er schätzte die Glaubwürdigkeit von Asylbewerbern ein.
Ich zählte zu den etwa 130 Geisteswissenschaftlern (unter insgesamt etwa 2.000 neuen Anhörern), die im Sommer 2016 beim Bamf begannen, befristet auf sechs Monate. Wir bekamen – ohne Ansehen der vorherigen Qualifikation – alle die gleiche Schulung, die uns in drei Wochen auf die Arbeit als Anhörer vorbereiten sollte: rechtliche Grundlagen, digitale Aktenführung, Anhörungstechniken, Verhalten in kniffligen Situationen.
Wir sollten die Antragsteller nur anhören, ohne dann über ihren Schutzstatus zu entscheiden. Das ist etwa so, als wenn ich zum Arzt ginge und der erste Doktor untersuchte mich und schriebe einen Bericht, der zweite Doktor verschriebe mir aufgrund des Berichts des ersten Doktors eine Therapie. Man kann diese Arbeitsteilung machen, muss dabei aber bedenken, welche Menge an Information und welches Maß an Intuition auf diesem Weg verlorengehen.
Ein Gesundheitssystem, das auf dieser Art von Rationalisierung beruhte, würde die Menge an behandelten Patienten auf Kosten ihrer Gesundheit erhöhen. Auf den Fluren erzählte man sich, dass die Idee zu dieser Aufteilung von den Unternehmensberatern gekommen wäre, die beim Amt an einem Tag so viel verdienten wie wir in einem Monat. Sie haben bestimmt länger als einen Tag darüber nachgedacht.
Sind sie glaubwürdig?
Einer der wichtigsten Punkte während der Anhörung der Antragsteller ist die Beurteilung von deren Glaubwürdigkeit. Denn das allermeiste von dem, was sie erzählen, können sie nicht durch Dokumente oder andere Beweismittel belegen. Wir mussten uns auf das verlassen, was sie sagen.
Zu allen Punkten muss ich mir als Anhörer eine Meinung bilden: Kommt sie tatsächlich aus Barawe in Somalia (und nicht etwa aus Äthiopien)? Ist er tatsächlich persönlich von den Taliban verfolgt worden (und kennt er die Geschichte, von der er erzählt, nicht etwa „nur“ vom Hörensagen)?
Ich schenkte ihr – oder ihm – erst einmal einen ganz persönlichen, unbürokratischen Glauben, denn 90 Prozent der Antragsteller, die ich angehört habe, hatten keine Papiere dabei, die zumindest ein paar Eckpfeiler ihrer Geschichten hätten belegen können. Fünfzig Prozent haben noch nie im Leben Papiere besessen, wie sie glaubhaft berichteten. Es ist nicht die Unschuldsvermutung, es ist die Wahrhaftigkeitsvermutung, mit der wir den Antragstellern begegnet sind: erst einmal glauben, was erzählt wird. Bei einigen von ihnen fällt dann trotzdem auf, dass sie nicht die Wahrheit sagen.
Sie holen sich Tipps
Natürlich bereiten sich viele auf die Anhörung vor, holen sich Tipps von alten Hasen, Anwälten und nationalen Communities. Natürlich tauschen sie sich untereinander aus – wie auch nicht, es geht um eine Lebensentscheidung bei ihnen. Es fällt bei gewissen Moden auf. Wenn etwa plötzlich von Menschen, die alle vor Monaten noch angaben, aus dem Senegal zu sein, und auch dortige Geburtsorte angegeben hatten, nun gewissenhaft Geburtsurkunden aus Gambia nachgereicht werden – vermutlich weil sie erfahren haben, dass Gambia (im Gegensatz zum Senegal) bei uns nicht als sicheres Herkunftsland gilt.
Trotz einiger organisatorischer Defizite, die der großen Anzahl an Antragstellern und an neuen Mitarbeitern geschuldet waren, schafften wir neuen und alten Anhörer ordentlich etwas weg. So weit ich das sagen kann, waren die allermeisten Anhörer engagiert bei der Sache.
Dennoch war den Oberen die Anzahl der durchgeführten Anhörungen durchgehend zu gering. Auf allen Ebenen wurde gezählt, gemessen und in Quoten umgerechnet, tägliche, wöchentliche, monatliche Anhörungen pro Nase, pro Team, pro Außenstelle und bundesweit. Es reichte nie.
Hätte das Amt allerdings die Möglichkeiten des Dublin-Abkommens, das deutsche Asylsystem zu entlasten, tatsächlich ausgeschöpft, wären wir effizienter gewesen. Hätte man jeden Asylantrag sofort darauf geprüft, ob Deutschland überhaupt für ihn zuständig ist, hätte man eine Menge Arbeit gespart.
Wenn ich dem Antragsteller in einem deutschen Büro gegenübersitze, ist klar, dass nach unseren Regeln gespielt wird: Ich lege die grobe Schablone des deutschen Asylrechts über die persönliche Geschichte des Antragstellers. Die meisten haben eine Tortur hinter sich. Besonders die Afrikaner sind oft von Schleppern erpresst und ausgeplündert, in libyschen Sklavenlagern gefangen und auf hochseeuntüchtige Seelenverkäufer getrieben worden.
Für die Antragsteller bin ich die Bundesrepublik, ich stehe für das Gesetz. Genau genommen vertrete ich das Gesetz vor dem Land, in das die Menschen wollen, weil es so gute Gesetze hat. Das sagen sie auch und meinen es offensichtlich ernst: Wir möchten nach Deutschland, weil hier die Menschen und die Menschenrechte respektiert werden.
Natürlich ist manchmal auch Opportunismus dabei, wenn die Antragsteller vor mir das Land loben, dessen (mitentscheidender) Vertreter ich bin. Viele wollten dieses Lob als Abschlusswort in das Protokoll aufgenommen sehen. Ebenso gern verweisen sie auf ihre bisherigen Integrationsbemühungen, um einen Pluspunkt zu bekommen.
Werden sie verfolgt?
Beides ist vergebliche Liebesmüh. Die meisten Antragsteller wissen nicht, dass es beim Bamf nicht auf ihre Integrationsbemühungen ankommt, dass es egal ist, ob sie schon drei Deutschkurse mitgemacht haben, sondern dass es nur um die Frage geht, ob sie im Heimatland verfolgt werden.
Die Anerkennung – beziehungsweise der Aufenthalt, wie viele von ihnen sagen – ist das Ziel der Antragsteller, aus welchen Gründen sie auch immer kommen. Verschwindend wenige von ihnen (etwa 0,5 Prozent) bekommen politisches Asyl. Denn dafür müssten sie auf direktem Weg aus dem Land, in dem sie drangsaliert werden, nach Deutschland kommen. Das aber stellt sich als sehr schwierig dar: Sie müssten mit dem Flugzeug kommen (und durch die Grenzkontrolle in ihrem Heimatland) oder mit dem Boot über die Nordsee. Der Weg über ein sicheres Drittland schließt politisches Asyl aus.
Es bleiben allerdings noch andere Arten des Schutzes, die einem Antragsteller gewährt werden können: zunächst der Schutz vor Verfolgung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention; dann der subsidiäre Schutz für Menschen aus Gebieten, in denen Bürgerkrieg herrscht. Zusätzlich prüfen wir, ob die Antragsteller in ihrem Heimatland ihr Existenzminimum erreichen könnten. Oder ob sie schwer krank sind. Erst wenn alle Schutzgründe verneint werden, haben die Antragsteller keinen rechtlichen Anspruch auf den Aufenthalt.
Unser Asylrecht ist ein hervorragendes Recht. Und es wird – so mein Eindruck – im Asylverfahren gewissenhaft und wohlwollend angewendet von Leuten, die es ernst meinen mit der Rechtsstaatlichkeit.
Zugleich ist es ein schlechtes Recht, weil es häufig nicht auf die Situation passt, in der es angewendet wird. Der Antragsteller und ich sitzen uns gegenüber und sehen uns in die Augen. Wir ahnen, dass wir gleich aneinander vorbeireden werden, weil es eigentlich nicht darum geht, dass der Antragsteller Asyl oder Schutz vor Verfolgung, sondern ein besseres Leben sucht.
Er – oder sie – möchte die Chance, die ihm unser Asylrecht bietet, ergreifen, auch wenn es nicht wirklich passt. Aber es gibt nichts Besseres in Deutschland. Es ist, als ob er sich auf eine Stelle als Hausmeister beworben hätte, aber beim Vorstellungsgespräch befragt würde, als wäre er Zeuge eines Verbrechens gewesen. Sie – oder er – weiß, dass ich hören möchte, wie sie verfolgt worden ist, und ich weiß, dass sie gleich eine Verfolgungsgeschichte erzählen wird, die ich dann auf ihre Plausibilität abklopfen werde.
Wir reden aneinander vorbei, weil es kein differenziertes Zuwanderungsgesetz gibt. Denn auch die Menschen aus Nigeria oder dem Irak, die nicht nach Deutschland kommen, weil sie verfolgt wurden, sondern um in einem Rechtsstaat zu leben, müssen sich faktisch dem Asylverfahren stellen. Solange dem Bundesamt für Migration nicht gesetzlich vorgeschrieben wird, eine zweite Tür zu öffnen, die dem Namen des Amtes gerecht wird, wird das Asylgesetz von zwei Seiten verbogen.
Mein Zeit beim Bundesamt endete übrigens nach sechs Monaten, als es dem Personalrat gefiel, sich der Anlage 2 zur Verwaltungsvorschrift der Bundeslaufbahnverordnung zu erinnern. Diese stellt fest, dass Beamtinnen und Beamte mit einem geisteswissenschaftlichen Studienabschluss nicht in der Lage sind, eine Laufbahn des nichttechnischen Verwaltungsdienstes – wie es Anhören/Entscheiden offensichtlich ist – einzuschlagen.
Wir Geisteswissenschaftler wurden also als unqualifiziert aussortiert. Da unsere direkten Vorgesetzten aber der Meinung gewesen waren, wir würden den Job gut machen und uns bereits für eine Verlängerung des Arbeitsvertrages auf zwei Jahre vorgeschlagen hatten, begriffen wir die Auffassung des Personalrats als willkürlich und klagten dagegen. Das Arbeitsgericht entschied, dass das Bundesamt als Arbeitgeber machen kann, was es will, und bestätigte unser Ausscheiden. Ich bin trotzdem froh, in einem Rechtsstaat zu leben.
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