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Ineffizienter SozialstaatGeteilte Zuständigkeiten

Gastkommentar von Jürgen Schupp und Rolf G. Heinze

Sozialleistungen erreichen die Bür­ge­r*in­nen zu wenig, auch wegen bürokratischer Eigenlogik der Behörden. Eine Sozialstaats-App könnte helfen.

Ein zugänglicher Sozialstaat scheitert oft an einem Kompetenz-Dschungel Foto: Bernd Weißbrod/dpa

M an muss kein kalter Neoliberaler sein, um festzustellen: Der deutsche Sozialstaat ist ineffizient. Und nicht nur das: Er ist auch zu kompliziert und muss dringend einfacher, unbürokratischer und transparenter werden. Diese Auffassung wurde zuletzt auch vom Nationalen Normenkontrollrat (unabhängiges Gremium der Bundesregierung, das die Bürokratiekosten bewertet, d. Red.) geteilt.

Komplexitätsfallen des Sozialstaats führen dazu, dass er zu einem Sanierungsfall geworden ist und trotz relativ hoher finanzieller Aufwendungen von Bür­ge­r*in­nen immer öfter nicht mehr verstanden wird. Während Bür­ge­r*in­nen auf einen funktionsfähigen Sozialstaat in ihren unterschiedlichen Lebenslagen angewiesen sind, handeln die sozialstaatlichen Institutionen primär gemäß ihren Zuständigkeiten.

Ob bei kommunaler Jugendhilfe, Schulbehörde, Gesundheitsamt, Jobcenter oder Wohngeldstelle: Jede Institution handelt in der Logik ihrer Zuständigkeit sowie gesetzlichen Restriktionen, während multiple Problemlagen von Bür­ge­r*in­nen eigentlich die Überwindung von Zuständigkeitsgrenzen verlangen: Verwaltungen denken in den Grenzen von Zuständigkeiten, die aber nicht identisch mit den Abgrenzungen von Problemen sind.

Aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive wird argumentiert, dass das System überhaupt nur noch funktioniert, weil viele Bür­ge­r*in­nen es wegen Überforderung gar nicht nutzen. Dies muss auch vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit dringend ernst genommen werden. Parallel zu den in sozialwissenschaftlichen Studien diagnostizierten Erschöpfungszuständen in der Bevölkerung geht das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Politik zurück – und dies trifft zunehmend auch die Verwaltungen.

Rolf G. Heinze

war von 1988 bis 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Jetzt ist er an selbiger Uni Seniorprofessor für Soziologie.

Jürgen Schupp

ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Dies wird in den Kommunen durchaus registriert: Es bewegt sich inzwischen etwas mit Blick auf die Überwindung geteilter Zuständigkeiten durch ressortübergreifende Zusammenarbeit. Inzwischen hat sich nach der reinen Orientierung an schlanken Organisationen das Interesse in Richtung wirkungsvoller Prozesse verschoben.

Hier ist aber auch die Bundesebene gefragt: Das Scheitern des großen Projekts Kindergrundsicherung etwa ist nicht allein an der Kostenfrage festzumachen, sondern vor allem daran, dass die tangierten Hilfesysteme in der politischen Verantwortung von drei unterschiedlichen Ministerien liegen sowie von drei verschiedenen Behörden nebeneinander verwaltet werden (Arbeitsagenturen/Jobcenter, Wohngeldstellen, Familienkassen).

Das System funktioniert nur noch, weil viele Bür­ge­r*in­nen es wegen Überforderung gar nicht nutzen

Die einzelnen Behörden hätten also entweder Kompetenzen abgeben oder zusammenarbeiten müssen, was quer zum starren Zuständigkeitsdenken der Behörden liegt. Vor diesem Hintergrund plädieren wir parallel zu einer institutionellen Verwaltungsreform für eine Transparenz-Offensive des Sozialleistungssystems sowie für mehr Zugänglichkeit sozialpolitischer Leistungen.

Mehr Transparenz

Solange eine Vereinheitlichung und Entbürokratisierung aufgrund der institutionellen wie politischen Blockaden nicht aufgelöst werden kann, sollte eine Bundesregierung mit Nachdruck daran arbeiten, sozialstaatliche Leistungen für die Bür­ge­r*in­nen transparenter zu machen. Hier sollte als Sofortmaßnahme eine nutzerfreundliche „Sozialstaats-App“ auf den Weg gebracht werden.

In Zeiten von KI ist auch die digitale Integration der über 160 Einzelleistungen keine Raketenwissenschaft mehr – selbst dann nicht, wenn man die sozialstaatlichen Leistungen auch mit steuerlichen Freibeträgen plus Steuer- und Abgabenbelastung verknüpfen würde, um auf diese Weise realistische Netto-Einkommenshöhen zu ermitteln. Der Anspruch wäre, dass die Bür­ge­r:in­nen nicht mehr persönliche Daten angeben müssten, als sie es bei amtlichen Erhebungen wie dem Mikrozensus bereits tun müssen.

Der Thinktank „Agora Digitale Transformation“ hat hierfür in Zusammenarbeit mit dem Caritasverband unter dem Titel „Den digitalen Sozialstaat nutzerorientiert gestalten“ in vier Handlungsfeldern einen machbaren Fahrplan entwickelt: Dieser zielt darauf ab, Initiativen vonseiten der Wohlfahrtsverbände und zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Entwicklung digitaler Antragsassistenten zusammenzuführen. Auch der grüne Vizekanzler Robert Habeck formulierte in einem Impulspapier das Ziel: „Eine einzige digitale Plattform in Form einer Deutschland-App, auf der alle Sozialleistungen direkt beantragt werden können, sollte das Ziel sein“.

Anspruchsberechtigung prüfen

In der Tat – dieses Ziel dürfte aber trotz der von Bund, Ländern und Kommunen grundsätzlichen bekräftigten Kooperationsbereitschaft vor allem wegen der institutionellen Komplexität des Sozialsystems auch in der nächsten Legislaturperiode noch nicht erreicht werden. Als unmittelbare Maßnahme wäre deshalb viel gewonnen, wenn die nächste Bundesregierung zunächst ein ressortübergreifendes Pilot-Projekt starten würde, das auf das engere Feld der Sozialpolitik beschränkt ist. Darin sollte als erster Schritt jedoch nicht die digitale Beantragungsfunktion stehen, sondern man könnte mit einer transparenten „Anspruchsberechtigungsfunktion“ – zunächst ohne Rechtsverbindlichkeit – starten, die mit einer örtlichen Adress-Datenbank verlinkt wäre.

Eine staatliche Ausschreibung könnte neben den IT-technischen auch die datenschutzrechtlich relevanten Aspekte beeinflussen und zudem sicherstellen, dass eine klare Nutzer*innen-Orientierung im Vordergrund steht.

Sozial engagierte Stiftungen und Wohlfahrtsverbände könnten zudem einen jährlichen Preis für die bürgerfreundlichste Sozialpolitik-App ausschreiben, die beim jährlichen Digitalgipfel der Bundesregierung öffentlichkeitswirksam verliehen und ausgezeichnet wird. Hierdurch könnte als Nebeneffekt das Vertrauen in einen bürokratieärmeren und transparenten Sozialstaat wieder gestärkt werden.

Jürgen Schupp ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Rolf G. Heinze war von 1988 bis 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Jetzt ist er an selbiger Uni Seniorprofessor für Soziologie.

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7 Kommentare

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  • Man darf den Menschen ja ihre grundgesetzlich verbrieften Rechte und Ansprüche nicht verweigern.

    Aber man es ihnen schwer machen. So schwer als möglich.

    Das eint Abodienste, Kontokündigungen, Bahn- und Flugverspätungsersatzansprüche und eben Sozialleistungen.

    Ach ja: Steuererstattungen habe ich vergessen ...

  • Gibt es denn in anderen Ländern keine funktionierenden Systeme die als Vorbild dienen können? In den baltischen Staaten soll ja einiges schon ziemlich selbständig funktionieren, z.b. das man einfach Kindergeld bekommt, wenn ein Kind geboren ist, weil die Geburt registriert ist.

    • @Axel Schäfer:

      Die deutsche Überheblichkeit 'verbietet' es uns, von anderen zu kopieren. Dies haben wir so gut wie noch nie gemacht.

  • Ebenso verantwortlich ist zum Teil unsere föderale Struktur,



    So ist es zB. einem Jobcenter in NDS nicht möglich, auf die Daten eines Jobcenters in HH zurückzugreifen, dh, wenn ein Unterstützungsempfänger von HH nach NDS umzieht, muß er



    sämtliche Anträge neu stellen, bei einer 7 köpfigen Familie heißt das



    ca. 20 Anträge, die natürlich im neuen Jobcenter geprüft und



    bewilligt werden müssen, obwohl sie im alten Jobcenter seit 8 Jahren vorliegen - auch eine unnötige Tortour für den Umziehenden.

  • Echt jetzt, das ist das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit? Statt Vereinfachung noch eine App dazu die die Neulandgeneration handhaben muss. Im vorbildlich durchdigitalisierten Deutschland ist das ein Exzellenzprodukt aus dem Elfenbeinturm. Ein vereinheitlichtes Grundeinkommen weiterzudenken wäre deutlich progressiver.

  • Zwei wesentliche Probleme sind Datenschutz und Datenaktualität. Eine App müsste also Datenfreigabefunktionen der Nutzer ausgestattet werden. Wie schwer das ist zeigt sich bereits an der elektronischen Gesundheitskarte.

    Eine Sozial-App wäre also ein Datenmonster deren Einführung in Deutschland mindestens ein Jahrzehnt benötigt.

    Und da beispielsweise Steuerbescheide teiwwise erst Jahr(e) später vorliegen ist der Aussagegehalt der gespeicherten Daten im Zweifel eher gering.

    Die sog. Kindergrundsicherung war auch ein "einfacher" Vorschlag, der trotz aller vorgebrachten Bedenken am Ende genau aus diesen Gründen gescheitert ist. Bliebt zu hoffen, dass keine Partei diesen Vorschlag mit der App ernst nimmt.

  • Der intellektuellen Elite (oder etwas bescheidener ausgedrückt, den AkademikerInnen) in diesem Land fällt auch nichts besseres mehr ein, als in der Digitalisierung die Lösung aller Probleme zu sehen, mit den KI-basierten Lösungen als Sahnehäubchen obendrauf.







    Was diesen Geistesgrößen scheinbar ganz und gar nicht mehr in den Sinn kommt, ist, dass neue und erweiterte technische Möglichkeiten nicht nur Nutzen bringen können, sondern auch Risiken bergen können. Die Vision einer perfekten, zentral gesteuerten Gesellschaft, kann, so lehren auch die Erfahrungen aus der jüngsten Geschichte, gegen die Menschen im allgemeinen oder die Menschengruppen, die dann als überflüssig, unerwünscht, störend, schädlich, verzichtbar, abzuschiebend oder auszumerzen gelten. Schon heute wird die 'smarte' Manipulation von Meinungen, Ängsten, Gelüsten, Konsum-und Wahlentscheidungen als anerkannter Beruf und profitables Gewerbe ausgeübt, ist alltägliche Praxis von PolitikerInnen, Unternehmen, Verbänden, Meiden und InfluenzerInnen.