Indigene in Kanada: Hunderte anonyme Gräber
Erneut wurden in Kanada Überreste hunderter indigener Kinder in der Nähe eines ehemaligen Internats gefunden. Regierung verspricht volle Aufklärung.
Zuvor waren auf dem Gelände eines ehemaligen katholischen Internats in der zentralkanadischen Provinz Saskatchewan 751 unmarkierte Gräber entdeckt worden. Wie der Häuptling des indigenen Stammes Cowessess, Cadmus Delorme, am Donnerstag (Ortszeit) mitteilte, sind auf dem Schulgelände nahe der Stadt Regina indigene Kinder, womöglich aber auch Erwachsene begraben worden.
Der Häuptling betonte, noch nie seien in Kanada an einem Ort so viele anonyme Gräber gefunden worden. Dabei gehe es nicht um ein Massengrab, sondern um individuelle Grabstätten auf einem Friedhof, deren Kreuze und Grabsteine von der Kirche in den sechziger Jahren entfernt worden seien. In den nächsten Monaten und Jahren wolle man versuchen, die Identität der Opfer herauszufinden.
Es starben bis zu 6.000 Kinder
Es ist bereits die zweite Entdeckung dieser Art in Kanada innerhalb weniger Wochen. Ende Mai waren in einer ähnlichen Einrichtung der Kirche in der Stadt Kamloops die sterblichen Überreste von 215 indigenen Kindern geortet worden. Der Fund hatte in Kanada und weltweit Entsetzen hervorgerufen, und Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen hatten umfassende Aufklärung gefordert.
Bei den sogenannten „Residential Schools“ handelte es sich um staatlich finanzierte und zumeist von den Kirchen betriebene Internate, in denen indigenen Kindern ihre Kultur und Sprache genommen werden sollte, mit dem Ziel, sie in der „weißen Gesellschaft“ zu assimilieren. Insgesamt 150.000 indigene Kinder mussten die 138 Schulen besuchen, die letzte wurde in den 1990er Jahren geschlossen.
Laut Schätzungen einer in Kanada eingerichteten Wahrheits- und Versöhnungskommission starben in den Internaten insgesamt bis zu 6.000 Kinder, die meisten von ihnen an Unterernährung oder Krankheiten wie Tuberkulose. Manche starben auch an den Folgen der Gewalt, Entfremdung oder Einsamkeit und wurden zum Teil anonym in Gräbern auf den Schulgeländen verscharrt.
In ihrem Abschlussbericht im Jahre 2015 sprach die Kommission von einem „kulturellen Genozid“ an den Ureinwohnern Kanadas. Die Regierung in Ottawa hat sich zu ihrer Verantwortung bekannt, sich offiziell für die Verbrechen der Vergangenheit entschuldigt und Entschädigungen gezahlt. Für die Suche und Identifizierung der Opfer hat die Regierung bislang knapp 30 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt.
Indigene fordern Entschuldigung des Papstes
Wie der zuständige Minister für indigene Dienstleistungen, Marc Miller, am Donnerstag in Ottawa sagte, soll diese Summe nun aufgestockt werden. Man werde alles tun, um die Stämme bei der Aufarbeitung zu unterstützen, sagte Miller. Der Oberhäuptling aller kanadischen Ureinwohner, Perry Bellegarde, nannte die neuerlichen Grabfunde in Saskatchewan tragisch, aber nicht überraschend.
Tatsächlich sind den Behörden und Verwaltungen der Ureinwohner die Standorte vieler anonymer Grabfelder seit Jahrzehnten bekannt. Allerdings kam es in Kanada lange nicht zu einer systematischen Identifizierung der Opfer oder Aufklärung der Begleitumstände, weil es an historischen Aufzeichnungen fehlt oder die Kirchen sich oftmals zögerlich gezeigt haben, ihre Archive umfassend zu öffnen.
Vertreter der Ureinwohner forderten die Kirchen auf, sich aktiver als bisher an der Aufklärung zu beteiligen. Der Häuptling der kanadischen Federation of Sovereign Indigenous Nations, Bobby Cameron, verlangte eine offizielle Entschuldigung des Papstes. Die Kirchen müssten zudem alle Aufzeichnungen und Schülerlisten, die sich noch in ihrem Besitz befinden, umgehend freigeben, so Cameron.
Noch langsamer als in Kanada schreitet die Aufarbeitung in den Vereinigten Staaten voran. Auch in den USA gehörten „Boarding Schools“ für indigene Kinder bis in die 1960er Jahre zum Alltag. In den 1930er Jahren gab es laut US-Innenministerium 367 derartige Einrichtungen in 30 Bundesstaaten. Schätzungen zufolge mussten in den USA mehrere hunderttausend Kinder die Schulen besuchen.
Als Reaktion auf die jüngsten Funde in Kanada hat US-Innenministerin Deb Haaland, die selbst einer indigenen Familie angehört, diese Woche umfassende Aufklärung über die Geschehnisse in den ehemaligen US-Internaten angeordnet. Angesichts der neuen Initiativen in den USA und Kanada dürfte in den nächsten Wochen und Monaten mit weiteren erschreckenden Funden zu rechnen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden