Indien und China im Vergleich: Zwei Revolutionen
Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen Indern und Chinesen: das politische Grundvertrauen in die eigene Regierung. Um so spannender die Unterschiede. Ein Vergleich.
Oh, was hatte ich Angst um Xiaohua! Xiaohua ist unsere Pekinger Straßenkatze. Meine drei Kinder heißen Yamamoto, nach meiner japanischen Frau. Aber Xiaohua – übersetzt: kleine Blume – heißt nach mir! Sie ist auch wirklich so weiß und zart wie ein Gänseblümchen. Mit ihr allein wollte ich von Peking nach Delhi umziehen, die Familie später aus Tokio nachkommen.
Wie aber sollte Xiaohua den langen Flug von Peking nach Delhi samt Zollabfertigung, Quarantänemaßnahmen und Verladung in Shanghai überstehen? Ich besorgte einen chinesischen Impfpass und ein "Tier-Gesundheitszeugnis" des Pekinger Quarantänebüros, gezeichnet Chen Shisong, offizieller Tierarzt.
Ich erhielt die Importerlaubnis Nummer 110037 des indischen Landwirtschaftministeriums, gezeichnet Dr. Vijay Kumar, Quarantänebeamter. Ich behielt trotzdem meine Angst. Was scheren sich Chinesen und Inder um meine Katze? Die tierlieblosen Grenzbeamten würden sie aus irgendeinem Grund abfangen, sie wäre verloren, ich machtlos.
Doch es kam anders. Xiaohua wurde vom Pekinger Flughafenpersonal umringt, die chinesischen Zöllner streichelten sie. Nicht anders in Delhi: Zwei eifrige Träger überreichten mir die munter miauende Katze, kaum dass wir gelandet waren. Die indischen Zöllner warfen nur einen schnellen Blick auf ihre Papiere, dann winkten sie uns lächelnd durch. Als wäre nichts so normal, wie mit einer Katze von Peking nach Delhi umzuziehen.
Ich fühlte mich ertappt. Hatte ich mir etwa eingebildet, es sei etwas Besonderes, für Katzen wohlmöglich gar Gefährliches, übers Himalaya zu ziehen? "Chindia ist eine Abkürzung für wachsenden Wohlstand", titelt die Financial Times dieser Tage. Das Wort Chindia, ursprünglich ein indischer Buchtitel, ist längst nicht mehr erklärungsbedürftig. Es steht für "wachsenden Wohlstand", für das, was alle wollen.
"Chindia" steht für "wachsenden Wohlstand"
Daraus folgt: Peking-Delhi ist eine ganz normale Strecke. Und meine Geschichte von den guten Zöllnern und guten Tierärzten, Chen und Kumar mit Namen, an die ich mich immer erinnern werde, ist eine ganz banale Geschichte unserer Zeit.
Anshul war der erste, der uns in Delhi nach Hause einlud. Anshul und seine Brüder montierten im neuen taz-Büro in Delhi die Klimaanlage. Ich bereitete Tee für sie. Das erstaunte sie so sehr, dass sie gleich meine ganze Familie zum großen Sonntagsmenü mit Hammel, Linsen und Fladenbrot in die arme Vorstadt von Delhi einluden.
Auf dem Weg sahen meine Kinder zum ersten Mal richtige Slums. Sie kannten Pekings schäbige Wanderarbeitervorstädte. Sie kannten den Staub, die unasphaltierten Stadtwege, die Garküchen auf den Straßen mit ihren vielen, vielen Menschen. Da nehmen sich Peking und Delhi nichts. Aber sie kannten die absolute Armut nicht: die Wellblechhütten ohne Strom und Wasser, die verlumpten, bettelnden Kinder, ihre Blicke, die uns verfolgten.
Anshul führte uns durch das Labyrinth in den vierten Stock eines alten Hauses. Hier aber herrschte Ordnung. In drei winzigen Zimmern wohnte er mit seinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwägerin. Es gab einen Kühlschrank und einen Fernseher, die wie Prunkstücke in der Zimmermitte aufgebaut waren.
In jeder Ecke stand ein altes Holzbett. An jeder Wand klebte ein buntes, mit Tesafilm befestigtes Plakat. Und plötzlich wusste ich wieder, wo wir waren: in der Keimzelle des Fortschritts, dort, wo die einfachen Bürger an ein besseres Leben glauben. Hatte die alte Backsteinwohnung unserer Kinderfrau in Peking nicht ganz ähnlich ausgesehen, als wir dort vor zwölf Jahren ankamen?
Heute gibt es in Peking Ikea
Heute gibt es in Peking Ikea. Heute lebt unsere Kinderfrau in einer neuen Hochhauswohnung. Aber in Kleinstädten und auf dem Land sieht es auch in China noch so aus wie bei Anshul. Hier und dort wird man mit dem Stolz derer empfangen, die ihren Gästen endlich ein Mahl mit üppig viel Fleisch servieren können, die mit Kühlschrank und Fernseher endlich was zum Vorzeigen haben.
Es war rührend: Der alte Vater von Anshul im langen indischen Gewand zeigte uns seine Hochzeitsphotos. Alle in schwarzweiß, er immer lachend, seine Frau mit Blick zum Boden. Er sagte, er sei Goldschmid gewesen und froh, dass seine Söhne heute alle Arbeit hätten. Er führte uns zu dem bunten Hausaltar neben der Küche mit seinen hinduistischen Göttern und zwei Plastikbechern mit Deckel.
Da drinnen sei das heilige Wasser des Ganges. Er erklärte schließlich auch seinen politischen Standpunkt: "Frau Gandhi", sagte der alte Goldschmid, "ist eine große Führerin". Seine Söhne lauschten und schwiegen. In China hätte es der einzige Sohn in einem einfachen Bauern- oder Arbeiterhaus nicht anders getan. Und der Vater hätte gesagt: "Hu ist ein guter Führer".
Sonia Gandhi ist die Führerin der regierenden Kongress-Partei in Indien, Hu Jintao der Führer der KP Chinas. Die Inder haben Gandhi im Mai mit eindrucksvoller Mehrheit wiedergewählt.
50 Millionen Entlassungen in China
Die Chinesen haben in diesem Jahr 50 Millionen Entlassungen im Zuge der Wirtschaftkrise ohne jeden politischen Protest hingenommen – ein eindrucksvoller Vertrauensbeweis für die Führung in Peking. Die erstaunliche Stabilität in Indien und China aber ist ein wertvolles politisches Kapital.
Es sorgt weltweit für Hoffnung in der Wirtschaftkrise. Es ermöglicht sinnvolle Klimagespräche in Kopenhagen. Es beflügelt die einzige Utopie, die geblieben ist: good global gouvernance, ein vernünftiges Weltregieren. Es beruht auf dem politischen Grundvertrauen, das Familien, wie die von Anshul, in Indien und China in ihre Regierung haben.
Delhi ist bunter als Peking
Doch solche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Riesen Asiens sind auf den ersten Blick leicht zu übersehen. Es ist ja alles so viel bunter in Delhi als in Peking. Märkte, Märkte, Märkte. Jeder Einkauf ein Abenteuer. Klopapier? Der winzige General Store auf dem Malcha Markt in meinen Wohnviertel in Delhi hat alles. Der alte Verkäufer zeigt in die Höhe.
Schon schwingt sich ein Junge auf Bambusleitern vier, fünf Meter empor zu den höchsten Regalen. Dann fällt eine Klopapierrolle vom Himmel. Sie kostet umgerechnet fast einen Euro. Inder wischen sich nicht, sie waschen sich das Gesäß. In Peking war das Klopapier früher auch teuer.
Ein Opernsänger aus Sichuan erzählte mir einmal, dass er fast ins Gefängnis gekommen wäre, weil er in der Großen Halle des Volkes in Peking während der Kulturrevolution auf der Toilette das Klopapier benutzte. Das Papier wäre damals nur für den Großen Vorsitzenden Mao Tsetung bestimmt gewesen, erzählte er. Doch heute benutzt jeder Chinese Klopapier, das eigentlich eine westliche Erfindung ist.
Frauen und Männer getrennt
Überhaupt wirken die Inder auf mich traditionsverhafteter als die Chinesen. Während unseres Besuchs bei Anshul teilten sich Frauen und Männer in zwei Zimmer auf. Nur beim Essen kam man zusammen. Anshuls älterer Bruder aber berichtete offenherzig und stolz von seiner arrangierten Heirat.
Eine Liebesheirat wäre für ihn nicht in Frage gekommen, allein hätte er nicht die Verantwortung für seine Ehe tragen wollen. Die Erfahrung des Westens würde zudem zeigen, dass die meisten Liebesheiraten kaputt gehen, sagte der 26jährige. Ich kenne keinen jungen Chinesen, der so redet. In China küssen sich die Liebespaare offen auf der Straße.
Zwei unterschiedliche Revolutionen
Mir fällt mir auf, was Maos Revolution in China erreicht hat, und was Mahatma Gandhis Revolution in Indien nicht erreicht hat. Unsere neue indische Haushälterin gibt mir nicht die Hand, weil Frauen Männern nicht die Hand geben.
Sie darf im Dunkeln nicht allein auf die Straße gehen, weil ihr Mann ihr das verboten hat. Ich darf ihr nicht in der Küche helfen, weil meine indischen Freunde sagen, dass gehöre sich nicht. Ständig erinnert sie mich an die unterschiedliche Rolle von Frau und Mann. Das hat unsere chinesische Kinderfrau nie getan.
Neu ist in Delhi auch, dass wir mit Bediensteten in einem Haus leben. Sie arbeiten für die Familie des Vermieters im Erdgeschoss. Sie wohnen zu viert in einem winzigen Zimmer ohne Fenster im Hinterhaus. Überhaupt ist der Hinterhof unseres Hauses eine Welt für sich: staubig, dreckig, ungepflegt – hier habe ich nichts zu suchen, hier sind nur die Angestellten zu Hause.
Das sind Dienerverhältnisse, wie ich sie in China nie erlebt habe. Trete ich aber durch den wunderbar gepflegten Vordergarten unseres Hauses in Delhi auf die Straße, steht dort der Zeitungsmann und hat auf dem Bürgersteig die englische Weltpresse ausgebreitet: Time, Newsweek, der Economist – alles da, das Weltwissen des Westens, das es in China nur am Flughafen gab.
Jeder dritte Mensch ist Inder oder Chinese
Aber wie passt das zusammen: Diktatur, stärkere Gleichberechtigung und freie Liebe in China? Demokratie, Geschlechtertrennung und halbfeudale Verhältnisse in Indien? Was ist uns fremd, was nah? Jeder dritte Mensch der Welt ist entweder Inder oder Chinese. Wir müssen mir beiden leben lernen. Deshalb schreibe ich jetzt aus Indien – mit China im Kopf.
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