Indien Drei Jahre ist die Gruppenvergewaltigung in Neu-Delhi her. Das hat Indien verändert. Gewalt in der Familie aber bleibt normal. Drei Frauen erzählen ihre Geschichte: Und sie wehren sich
Von Katharina Finke (Text) und David Weyand (Fotos)
Die Hand, die sie mir reicht, ist groß und kräftig. Ganz anders als die weichen Gesichtszüge. Ich treffe Amila in einem leer stehenden Gebäude in Alwar in der Provinz Rajasthan im Nordwesten Indiens. Die Fassade bröckelt, die Steinwände sind zerstört. Drinnen wartet sie, komplett in einen rosafarbenen Stoff mit Blütenmuster eingehüllt. Amila ist mit ihrem Vergewaltiger verheiratet.
Sie lächelt, schaut mich mit großen braunen Augen eindringlich an und zieht ein paar blonde Strähnen unter dem Kopftuch hervor, das ich für die Begegnung trage. Wir setzen uns auf das rostige Bettgestell zu ihren beiden Töchtern. Nachdem wir lange Zeit geredet haben, zieht Amila den rosa Stoff hoch und zeigt ihre vernarbten Beine. Die 24-Jährige sagt: „Das möchte ich nie wieder erleben!“
Es war schwierig, die junge Muslimin zu treffen. Das Schweigen über Gewalt gegen Frauen in Indien ist beharrlich, selbst drei Jahre nach der brutalen Gruppenvergewaltigung in der Hauptstadt Neu-Delhi. Der Fall sorgte weltweit für Schlagzeilen und zeigte doch nur die Spitze des Eisbergs.
Die Tat: Jyoti Singh und ihr Freund waren auf dem Heimweg von einem Kinobesuch, als sie am Abend des 16. Dezember in einen Minibus in Neu-Delhi stiegen. Drinnen warteten sechs Männer, die den Begleiter der 23-jährigen Auszubildenden bewusstlos schlugen. Eine Stunde lang wurde die Frau von der Gruppe vergewaltigt und dabei auch mit einer Eisenstange penetriert. Anschließend warfen die Täter die beiden jungen Leute auf die Straße und versuchten sie zu überfahren. Jyoti Singh starb Tage später an den Folgen ihrer inneren Verletzungen.
Die Folgen: Es kam zu wochenlangen Protesten in Indien, das Entsetzen in der ganzen Welt war groß. Wegen des Drucks verschärfte die indische Regierung unter Manmohan Singh das Sexualstrafrecht innerhalb von Monaten. Am 9. September 2013 wurden vier der Täter zum Tode verurteilt. Der Hauptangeklagte hatte sich in der Untersuchungshaft erhängt. Ein tatbeteiligter Minderjähriger wurde in einem separaten Prozess zu drei Jahren Jugendarrest verurteilt.
Laut den Vereinten Nationen ist Indien für Frauen nach Afghanistan das zweitgefährlichste Land der Welt. Sexuelle Gewalt ist alltäglich, egal zu welcher Kaste eine Frau gehört, egal, ob sie Muslimin ist, Hinduistin oder Christin. Oder aus welcher Region oder Schicht sie kommt. Ich will von diesen Schicksalen erfahren. Ich treffe auf Amila, die Muslimin auf dem Land, auf Kala, die Christin in Tamil Nadu, und auf Maya, die Schauspielerin in Mumbai. Ihre Namen sind geändert, auch die Orte, an denen sie leben.
Ihre Geschichten sind unterschiedlich, doch am Ende irgendwie gleich.
Es ist ein junger Mann, der mich zu Amila bringt. Ich habe Raj zum ersten Mal in Neu-Delhi getroffen. Er kommt aus Bihar, einem Staat im Osten des Landes. Als er mitbekam, wie Mädchen aus seiner Heimat als Bräute in den Nordwesten verschleppt werden, reiste er hinterher.
Seine kleine Hilfsorganisation kümmert sich um ein paar Dutzend Paros, wie auf Hindi die Frauen genannt werden, die unter dem Schutzmantel der Ehe verkauft und als Arbeits- und Sexsklavinnen missbraucht werden. Raj und seine Helfer treffen sich mit den Frauen, geben ihnen Geld und versuchen die Not, in der viele von ihnen stecken, irgendwie zu lindern. Die Ehemänner, die ihre Frauen kaum aus den Augen lassen, dürfen von alldem nichts mitbekommen. Deswegen haben sich Rajs Leute Vorwände und Legenden zurechtgelegt, um ihr Vertrauen zu gewinnen und sie ablenken zu können.
Der Mann Ende zwanzig, dem die Kleider sackartig am schmächtigen Körper hängen und der jetzt aus der Auto-Rikscha steigt, führt eine kleine Undercover-Truppe.
Amila ist eine Paro, eine von Rajs Schützlingen. Ein Treffen in ihrem kleinen Dorf ist unmöglich, dort leben nur wenige Familien. Sie ist mit ihrem Mann Akthar und den fünf Kindern nach Alwar, in die nächste Stadt, gereist. Es ist Markttag.
Alwar ist eine Stadt wie viele an den Ausläufern der Wüste Thar. Der Staub hüllt die Straßen ein, es stinkt nach verbranntem Müll und den Abgasen der hupenden Motor-Rikschas, die sich ständig den Weg versperren. Es sind nur ein paar Schritte durch den Basar, vorbei an Ständen voller Chips mit Masala-Geschmack und Haufen aus Handyladekabeln. Ein Mann streift mich grob an der Schulter, würdigt mich aber keines Blickes. „Das ist Akthar, Amilas Mann“, sagt Raj leise. „Meine Kollegen lotsen ihn gerade weg.“
Wenige Minuten später sitze ich auf dem rostigen Bettgestell. Amilas rote und goldfarbene Plastikarmreifen klimpern, während sie erzählt: „Da, wo ich herkomme, ist alles tausendmal schöner als hier.“
Als sie neun Jahre alt ist, muss Amila ihre Heimat Assam, östlich von Bangladesch, verlassen. Moti nennt Amila die Frau aus dem Nachbardorf, die auf einmal auftaucht und sich mit der Familie anfreundet. Sie überzeugt Amilas Mutter, dass ein Ausflug ins fast 2.000 Kilometer entfernte Neu-Delhi dem Mädchen guttun würde. Sie könnte dort ihren künftigen Ehemann kennenlernen. Die kleine Amila locken sie mit der Aussicht auf die Sehenswürdigkeiten. Von Neu-Delhi, sagt sie, „habe ich bis heute nicht mehr gesehen als den Bahnhof“.
Die Frau, die zu Hause noch respektvoll „Aunty“ hieß, entpuppt sich als Frauenhändlerin. Moti, wie Amila sagt, ist in Indien eine abschätzige Bezeichnung für dicke Frauen. Sie bringt das Mädchen von Neu-Delhi weiter nach Rajasthan. Amila muss auf den Feldern arbeiten, Gras schneiden und Weizen ernten. Zur Schule darf sie nicht. „Ich war völlig verzweifelt“, erzählt Amila, „ich musste viel weinen.“ Für die kleinste Träne bekommt sie Prügel, so hart, wie sie sie nie mehr erleben wird.
Wo eine Frau weniger als eine Kuh kostet
Nach zwei Jahren sucht Moti einen Mann für Amila. Sie wird mit einem viel älteren Witwer handelseinig. Amila läuft nach ein paar Tagen von ihm weg. Weil sie nicht weiß, wo sie hinsoll, kehrt sie zu der Frauenhändlerin zurück.
Es gibt schon bald einen neuen Mann für sie: den etwa zehn Jahre älteren Akthar. Amila ist jetzt elf, die Hochzeit findet ohne sie statt. Das ist in der Gegend unter Muslimen üblich. Es reicht das Eheversprechen des Mannes vor männlichen Trauzeugen. Als Akthar von der Zeremonie zurückkommt, vergewaltigt er Amila das erste Mal.
Ein Jahr später bringt sie ihr erstes Kind zur Welt. Was mit ihrem Körper geschieht, dass ihr Bauch trotz der anstrengenden Arbeit wächst: All das kann sie nicht verstehen. Als sie sich an die Geburt erinnert, steigen Amila das erste Mal Tränen in die Augen: „Danach musste ich sofort wieder aufs Feld.“
Bollywood, Yoga und würziges Essen – das Bild Indiens wird im Westen von vielen Klischees beherrscht. Manche verbinden damit auch noch das Kamasutra, dieses uralte Lehrbuch der Liebeskunst, ein Klassiker aus den Zeiten der sexuellen Befreiung. „Im alten Indien“, kann man beispielsweise in Berlin in der Werbung für einen Tantrakurs lesen, „war es Sitte, den Mädchen und jungen Männern ein Liebeshandbuch wie das Kamasutra zu geben, um ihnen zu helfen, ihre Sexualität besser zu verstehen und sie auf das Liebesleben vorzubereiten.“
Alles Folklore, längst ausgestorben. Die Diskriminierung der Frau hat in Indien uralte Tradition. Sex ist Tabuthema, das Kamasutra gilt seit Jahrhunderten nicht mehr. Fast jede Frau wurde dort schon einmal beleidigt, angegriffen oder sexuell belästigt. Laut Studien findet der Großteil der Vergewaltigungen, etwa 98 Prozent, im häuslichen Umfeld statt. Täter sind Ehemänner, Väter, Onkel.
Kala ist 13. Sie lebt seit einem Jahr in einem Mädchenhaus in Tamil Nadu im südlichen Indien, nicht weit von ihrer Familie entfernt. Sie hat schwarze kurze Haare, Jeans und einen Kapuzenpulli an, als ich sie besuche. Mathematik ist ihr Lieblingsfach. Und weil sie gut mit Zahlen ist, weiß sie auch, dass „drei Prozent der Bevölkerung Christen sind.“ So wie sie.
Das Mädchenheim ist eines von ganz wenigen in Indien. Es gibt auch staatliche, aber die haben den Ruf von Opferheimen. Wer darin lebt, ist stigmatisiert. Kala sagt deswegen, wenn sie gefragt wird, sie wohne in einem Internat. Sie teilt sich mit zehn Mädchen den Schlafsaal im obersten Stock eines unscheinbaren Hauses in Chennai.
Kala wurde von ihrem Onkel beim Nachhilfeunterricht betatscht und von ihrem Vater sexuell missbraucht. Sie lief weg und hatte Glück, irgendwann kam sie in dem Mädchenheim an. „Ich hasse meine Mutter“, sagt sie wütend, als sie von ihrer Flucht erzählt. „Ich habe ihr gesagt, was mein Vater mit mir gemacht hat, und sie wollte nichts unternehmen.“
Kala kann im Heim bleiben, bis sie volljährig ist und die Schule beendet hat. Sie geht auf eine christliche Schule, Essen gibt es reichlich, regelmäßig kommen eine Ärztin und Therapeutinnen vorbei. Alles keine Selbstverständlichkeit in den Familien, sagt mir die Heimleiterin. „Mädchen bekommen dort oft weniger Essen und Bildung, um ihre Gesundheit kümmert sich kaum jemand.“
„Am liebsten würde ich Ingenieurin werden“, träumt Kala, dafür betet sie jeden Tag. Doch wie ihre Zukunft aussieht, ist unsicher. „Ich hoffe, dass sie an einen guten Mann gerät, wenn ich sie später hier entlasse“, sagt die Heimleiterin.
In manchen Gegenden Indiens kostet eine Frau weniger als eine Kuh. Für eine Paro wie Amila, erklärt Raj, verlangen die Frauenhändler etwa 10.000 indische Rupien, umgerechnet rund 145 Euro, genauso viel wie für eine Saisonkraft. Eine Kuh, die auf dem Land oft noch den Traktor ersetzt und den Indern ohnehin heilig ist, ist teurer. Viele Eltern sehen die Geburt einer Tochter als Unglück an, sie macht aus ihrer Sicht nur Unkosten. Der Brauch verlangt, dass die Familie der Braut bei der Hochzeit eine teils horrende Mitgift zahlt. Obwohl sie schon seit Jahrzehnten verboten ist, lässt sich diese Tradition kaum ausmerzen. Die Familie der Braut würde ihr Gesicht verlieren, wenn sie sich weigerte zu zahlen.
Viele weibliche Säuglinge müssen deshalb sterben. Auf dem Land bringen Eltern ihre Töchter direkt nach der Geburt um. Im Nordwesten Indiens wurde laut UN-Angaben so ein Viertel der weiblichen Bevölkerung ausgerottet. In den Städten, wo die Mittel- und Oberschicht zu Hause ist, dienen moderne Ultraschallgeräte vor allem dazu, das Geschlecht des Kindes festzustellen. Täglich werden 7.000 weibliche Föten abgetrieben. Das ist illegal, die Gesetze dagegen wurden vor Kurzem sogar verschärft. Es kann nicht verhindern: Je besser die Technologie, desto weniger Mädchen werden geboren. Auch Fortschritt, Bildung und Wohlstand sind also keine Garanten gegen Diskriminierung. Inzwischen führt der Mädchenmangel dazu, dass sich Männer Frauen aus anderen Bundesstaaten kaufen.
Verallgemeinern lässt sich in Indien schwer etwas, dafür ist das Land zu komplex und von vielen Kontrasten geprägt. In Mumbai fahren mehr BMWs als in München, sogar relativ zur Anzahl der Einwohner. In den Slums haben die Menschen aber noch nicht mal eine Toilette, geschweige denn sauberes Wasser. Der Subkontinent steht für Hochtechnologie und Callcenter, aber weniger als fünf Prozent der Bevölkerung haben Zugang zum Internet. Und doch gibt es eine Konstante: das patriarchalische Weltbild und die alltägliche sexuelle Gewalt.
Sexualkunde an den Schulen? Nicht mit Modi
Ich treffe Maya in einem Theatercafé in Juhu, im Nordwesten von Mumbai. Der Stadtteil wurde schon Mal das „Beverly Hills von Bollywood“ genannt. Maya ist Mitte 30 und Schauspielerin. Sie trägt eine pinke körperbetonte Kurta, hohe Schuhe und zwischen den Augenbrauen ein Bindi. Der kleine rote Punkt ist bei den Hindu-Frauen ein Zeichen dafür, dass sie verheiratet sind. „Aber ich hoffe, nicht mehr lange“, sagt Maya und nippt an ihrem Cappuccino. Sie will sich scheiden lassen.
Auch Maya wird von ihrem Mann misshandelt. Seit über zehn Jahren ist sie mit ihm verheiratet. Sie kommt aus einem liberalen Haushalt. Ihre Eltern sind Schauspieler. Schon mit 15 begann die Tochter am Theater zu arbeiten und zu reisen. Eine Aufführung in Paris, ein Vorsprechen in den USA, eine kleine Rolle in einem deutschen Film. Sie sah die große, weite Welt.
Aber in ihrem Familien- und Freundeskreis wurden Ehen dennoch arrangiert. Einen Fremden zu heiraten, das wollte Maya, als sie volljährig wurde, auf gar keinen Fall. Sie willigte in die Ehe mit einem Freund ein, der bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten hatte. „Am Anfang lief alles gut“, erzählt sie, „wir hatten eine schöne Zeit.“
Es dauerte einige Jahre, bis Maya realisierte, dass auch in ihrer Ehe etwas nicht in Ordnung war. So richtig, als sie ans Theater zurückkehrte und begann, Frauen zu helfen, die zu Hause Gewalt erlebt hatten. Die Arbeit spiegelte ihr die eigene Realität. Welchen Unterschied gab es zwischen ihr und den Frauen, die sie in Workshops am Theater anleitete, Wut und Trauer herauszuschreien?
Maya hatte inzwischen zwei Kinder bekommen, war ihrem Mann nach Kalkutta gefolgt, hatte sich seinem Verbot gebeugt und das Schauspielen gelassen. Jetzt erst realisierte sie, wie privilegiert sie aufgewachsen war. Ihr Mann war nicht mehr ihr Freund, er war ihr Feind geworden. Und er nötigte sie auch zum Sex. „Über zehn Jahre habe ich das mit mir machen lassen“, sagt Maya, „dann konnte ich den Missbrauch einfach nicht mehr ertragen.“
Seit 2005 gibt es mit dem „Protection of Women from Domestic Violence Act“ zwar ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, sexuelle ist aber nicht eingeschlossen. Damit ist Indien die einzige Demokratie der Welt, in der Vergewaltigung in der Ehe keine Straftat ist. Nach der Gruppenvergewaltigung in Neu-Delhi wurde ein Komitee unter der Leitung des ehemaligen Obersten Richters J. S. Verma, ins Leben gerufen, um das Sexualstrafrecht zu verschärfen. Einige seiner Vorschläge wurden übernommen. Seitdem sind nicht mehr nur Vergewaltigungen strafbar, sondern auch psychische Misshandlungen wie Stalking, Voyeurismus und verbale Belästigung. Für Vergewaltigungen, deren Opfer dauerhaft ins Koma fällt oder stirbt, kann die Todesstrafe verhängt werden.
Doch das Plädoyer des Verma-Komitees, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, lehnte die Regierung im Mai dieses Jahres ab. Ein solches Gesetz gefährde das Familiensystem und könne die Institution der Ehe zerstören. Im indischen Strafrecht heißt es weiter: „Der sexuelle Verkehr eines Mannes mit seiner eigenen Frau ist keine Vergewaltigung, sofern sie nicht jünger als 15 ist.“
Seitdem der Hindu-Nationalist Narendra Modi als Premierminister im Amt ist, hat sich die Regierung wieder darauf verlegt, das Problem zu verharmlosen. Es gibt immer noch Minister, die es okay finden, wenn Frauen „versehentlich“ vergewaltigt werden. Indische Politiker weisen darauf hin, dass die Vergewaltigungsrate weit unter der westlicher Länder liegt, nämlich bei 2,7 Frauen pro 100.000 Einwohner, in Schweden dagegen bei 58,9. Sie lassen dabei unter den Tisch fallen, dass sich in Indien viel weniger Frauen trauen, zur Polizei zu gehen. Und Narendra Modi selbst propagiert zwar öffentlich „Null Toleranz“ bei Gewalt gegen Frauen, toleriert aber nach wie vor traditionelle Dorfgerichte (Panchayats), die Vergewaltigung noch immer als Strafe verhängen.
Ähnlich absurd argumentiert das konservative Lager, wenn es um sexuelle Aufklärung geht. Männer beziehen ihr Wissen aus Pornos, die ein brutalisiertes Bild vermitteln. Für Frauen gehört es sich nicht, auch nur Fragen zu stellen. Viele Organisationen haben deshalb versucht, Modi zu überzeugen, Sexualkunde an den Schulen einzuführen. Je mehr über Sex gesprochen wird, desto früher würde er sich verbreiten, heißt es dagegen. Schon das Wort „Sex“ ist ein Tabu.
Als das Kamasutra 1996 in Indien verfilmt wurde, eine Bollywood-Produktion, spielte die Filmcrew den staatlichen Zensoren den gesamten Dreh über ein anderes Skript vor. Als das echte an die Öffentlichkeit kam, durfte der Film nur stark gekürzt gezeigt werden. Auch im jüngsten James-Bond-Film ließ Modi alle Kussszenen herausschneiden. Paradox: Während auf der Leinwand wie in der Öffentlichkeit jedes Zeichen von Zärtlichkeit verboten ist, kommt kein Bollywood-Film ohne eine große Portion Liebe, Herzschmerz und knapp bekleideter Frauen aus, alles auf Grundlage des patriarchalischen Weltbildes. Junge Männer ahmen auf der Straße nach, was sie in den farbenfrohen Tanzfilmen sehen: Frauen müssen sich anstarren lassen, werden angetanzt und besungen, als Sexobjekt gejagt und angefasst.
Frauenfeindliche Rollen wie die naive Schöne, solche Angebote lehnt Maya inzwischen ab. Abseits der Bühne ist auch sie Ziel von Übergriffen. „Ich treffe Vorkehrungen“, sagt sie. Ist es dunkel, fährt sie nur mit dem eigenen Auto. Geht das nicht, nutzt sie in Mumbai und in Neu-Delhi die Frauen-Wagen in den Zügen. Ist sie ansonsten in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, schützt sie Brüste und Genitalbereich, am besten mit den Händen oder der Tasche. „Das rate ich jeder Frau, die in Indien unterwegs ist.“
Und doch hat sich seit 2013 etwas verändert. Die Anzeigen wegen sexueller Gewalt steigen kontinuierlich, und der Protest gegen die herrschende Sexualmoral und das Frauenbild wird lauter. Vor einem Jahr riefen Aktivistinnen im südindischen Kerala online dazu auf, sich öffentlich zu küssen. Obwohl es zu Festnahmen kam, breiteten sich die Kiss-ins über den ganzen Subkontinent aus, auch dank des Internets, die Proteste wurden nach dem Hashtag #kissoflove benannt.
In diesem Jahr setzten die Frauen noch eins drauf. Sie riefen mit dem Slogan: Red alert – you have a napkin (Roter Alarm – Sie haben eine Einlage) dazu auf, blutige Binden an eine Fabrik für Einweghandschuhe zu senden. Alle 42 Frauen der Fabrik waren dort einer Leibesvisitation unterzogen und dann entlassen worden, nachdem auf einer Toilette eine gebrauchte Binde gefunden worden war. Menstruierende Frauen gelten laut radikalen Hinduisten als „unrein“ und werden an bestimmten Orten nicht geduldet. Das gilt nicht nur für Tempel, sondern auch für öffentliche Busse, aus denen sie manchmal einfach während der Fahrt rausgeworfen werden.
Maya lebt noch immer bei ihrem Mann, aber arbeitet wieder als Schauspielerin. Sie schlafen nicht mehr in einem Zimmer. Ruhe hat sie nicht. Ihr Mann kontrolliert sie, ihren Computer, ihr Handy, alles. „Er hat mich anfangs fünfzigmal am Tag angerufen und ausgefragt“, sagt sie.
Genau in dem Moment klingelt das Smartphone: ihr Mann. Genervt würgt sie ihn ab und nimmt noch einen Schluck von ihrem Cappuccino. Der kostet in Indien genauso viel wie hierzulande, nur dass ein Bruchteil der Inder das bezahlen kann. Ohne ihren Mann könnte Maya sich den Luxus auch nicht leisten. „Trotzdem will ich mich scheiden lassen“, sagt sie, „aber er will das einfach nicht verstehen.“
Die Schauspielerin
„Über zehn Jahre lang habe ich es mit mir machen lassen. Dann konnte ich den Missbrauch nicht mehr ertragen“
Maya
„Kein Einzelfall“, sagt die Frauenrechtsanwältin Veena Gowda. „In Indien werden nur die wenigsten Ehen geschieden.“ Die Frauen müssten den Männern eindeutig schuldhaftes Verhalten nachweisen, was nahezu unmöglich sei. Eine Gütertrennung sieht das Familienrecht nicht vor. Frauen erhalten höchstens einen Unterhalt von etwa 170 Euro monatlich. Laut Gericht ist das für eine Frau genug, um in Indien zu leben.
In Mumbai würde Maya damit gerade mal ein WG-Zimmer bekommen. Rechtlich gesehen verlieren Frauen in Indien durch die Heirat nicht nur ihren kompletten Besitz, sondern auch ihre Menschenwürde. „Denn die Ehe ist ein Sexvertrag, laut dem der Mann Geschlechtsverkehr einfordern kann, wie er will“, sagt Gowda, „auch wenn das bedeutet, dass es gegen den Willen der Frau und oder unter Anwendung von Gewalt passiert.“
Was das heißt, spürt Amila jeden Tag. Harte körperliche Arbeit und Gewalt, meist auch sexuelle, sind ihr Alltag. Sie sagt, den Sex lässt sie einfach über sich ergehen. „Erotik“ und „Lust“ mit diesen Begriffen kann sie nichts anfangen. „Das werde ich sowieso nie erleben.“
Aber sie will keine weiteren Kinder mehr bekommen. Fünf hat sie, das ist wenig, ihre beste Freundin beispielsweise, auch eine Paro, hat zwölf. Amila holt sich beim Regierungskrankenhaus umsonst „die Pille danach“. Die nimmt sie manchmal mehrmals die Woche, nach jeder Vergewaltigung. Nebenwirkungen wie Herzschmerzen, Bauchkrämpfe und Übelkeit nimmt sie in Kauf. Sie sind bei indischen Medikamenten meist stärker, weil die Arzneien gleichzeitig für den westlichen Markt getestet werden. Und sie lässt die Schläge ihres Mannes über sich ergehen, der wütend ist, dass sie nicht schwanger wird.
Ihre größte Sorge ist, dass Akthar auch ihre Töchter vergewaltigt. „Manchmal reicht es mir aber“, sagt sie, „ich würde die Kinder am liebsten nehmen und weglaufen.“ Doch das geht nicht. In der näheren Umgebung würde Akthar sie finden. In anderen indischen Provinzen hätte Amila als alleinerziehende Frau mit fünf Kindern gar keine Chance.
Sie hat Akthar abgerungen, dass sie auf dem Basar einkaufen, auch ohne ihn ihre Freundinnen treffen und mit ihren Töchtern in einem Zimmer schlafen darf. „Meine Freiheit konnten sie mir nehmen,“ sagt sie, „aber nicht den Mut.“
Katharina Finke,30, ist freie Journalistin. Sie hat in den letzten vier Jahren Indien regelmäßig bereist. Eben ist ihr Buch „Mit dem Herzen einer Tigerin“ erschienen (Heyne, 256 Seiten, 9,90 €), das die Geschichte von Amila erzählt
David Weyand,37, ist freier Fotojournalist und hat Katharina Finke bei den Recherchen begleitet
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