: „In der Opposition mitregieren“
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hört 2026 auf. Ein Gespräch über den Kurs der Grünen, die Klimafrage – und seine Nachfolge
Interview Benno Stieber und Peter Unfried
taz: Herr Ministerpräsident, Friedrich Merz ist im Amt. Aber sollte diese Bundesregierung scheitern: Welche Machtoptionen gibt es in Deutschland noch für die liberale Mitte?
Winfried Kretschmann: Puh, das kann ich fast nicht beantworten. Ich gehöre zu denen, die sagen, die Regierung darf nicht scheitern. Deshalb hab ich dem neuen Bundeskanzler meine gute Zusammenarbeit angeboten.
taz: Sie haben neulich gesagt, Merz habe seine Fehler ja schon gemacht, bevor er im Amt war. Ist das nicht sehr optimistisch?
Kretschmann: Ich geh davon einfach mal aus. Diese Abstimmungen über Flüchtlingspolitik mit der AfD, das waren schon schwere Fehler. Dieses Jetzt-wird-mal-durchregiert, das war auch ein Anflug von Trumpismus.
taz: Gleichzeitig hat er es zweimal nicht geschafft, seine Leute hinter sich zu scharen, zuletzt im ersten Wahlgang der Kanzlerwahl. Einem Machtpolitiker wie Helmut Kohl wäre das nicht passiert.
Kretschmann: Mein Weggefährte Joschka Fischer hat ja gesagt, der Maßstab für Merz sei Adenauer. Von mir aus auch Kohl. Sein gescheiterter erster Wahlgang war der Schatten des ersten Fehlers. Man kann doch nicht die Partei, mit der man koalieren will, so vor den Kopf stoßen. Entscheidend ist aber, dass er im zweiten Wahlgang frei gewählt wurde in geheimer Wahl. Und seine ersten Reisen am Tag danach nach Paris und Polen, da kann ich nur sagen, so muss man’s machen.
taz: Wenn diese Regierung nicht scheitern darf, wie können sich die Grünen dann in der Opposition profilieren?
Kretschmann: Sie sollen so Opposition machen, wie sie das im Interregnum nach der Ampel bei der Grundgesetzänderung gezeigt haben: verantwortlich und aus der Mitte heraus. Dann regieren sie aus der Opposition mit und haben als Regierung im Wartestand eine Chance zurückzukommen. Sie sollten sich nicht dazu verführen lassen, in Konkurrenz zur Linkspartei zu agieren.
taz: Aber Leute wie Spahn, Dobrindt, Klöckner und auch Merz, die Schwarz-Grün ausgeschlossen und die Grünen diskreditiert hatten, sind alle mit wichtigen Ämtern belohnt worden. Heißt das nicht, wer auf den Grünen rumtrampelt, wird etwas?
Kretschmann: Aber trotz des katastrophalen Bilds der Ampel hat die CDU nur ein Sechstel der Wähler von der Ampel geholt. Ich hab schon den Eindruck, dass große Teile der Union endlich erkannt haben, dass der eigentliche harte Gegner die AfD ist. Es war ja interessant, wie hart der Kollege Söder seinem Unionskollegen Spahn und dessen Fantasien einer Normalisierung der AfD in die Parade gefahren ist. Sich hauptsächlich an den Grünen abzuarbeiten, war von der Union nicht sehr weitsichtig und nicht sehr intelligent. Mit ihrem Grünenbashing hat die Union Vorbehalte, die auch in Teilen ihrer Wählerschaft existieren, aufgenommen, um nicht noch mehr an die AfD zu verlieren. So was geht immer schief.
taz: Ist denn eine wirksame Strategie gegen die AfD ihr Verbot?
Kretschmann: Man kann das unmöglich entscheiden, ohne zu wissen, was der Verfassungsschutz über die AfD weiß, wenn er sie als gesichert rechtsextrem einstuft. Und das muss mehr sein, als in der Zeitung über die zu lesen ist. Ich bin ein gebranntes Kind, denn ich war der Bundesratspräsident, der damals den Verbotsantrag gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hat, der gescheitert ist. Wer strategisch denkt und einen Verbotsantrag gegen die AfD stellt, der muss nahezu sicher sein, dass ein Verbotsverfahren erfolgreich ist.
taz: Wie haben Sie sich denn die krachende Niederlage von Robert Habeck und seinem Politikangebot der Bündnisse erklärt? Was lernt man als Realo daraus?
Kretschmann: Dass man nicht überambitioniert glauben darf, man könnte von oben nach unten durchregieren. Mein Erfolg hat damit zu tun, dass ich immer klar in den Zielen war, aber dabei offen in den Wegen. Die Wege darf man nicht vorgeben. Habeck war ja erst mal höchst erfolgreich. Seine Leistungen in der drohenden Energiekrise im Winter 2022 erkennen ja heute auch unsere Gegner an, was höchst erfreulich ist. Habeck hat sich im Wirtschaftsministerium mit den falschen Leuten umgeben und gedacht, er könnte mit seinem ungeheuren Charisma alles bewirken.
taz: Wenn wir nun womöglich auf dem Weg aus einer Überflussgesellschaft in eine Rezessionsgesellschaft sind, dann wird man irgendwann von den Leuten unangenehmere Dinge verlangen müssen, als emissionsfrei zu heizen. Geht das überhaupt?
Kretschmann: Das geht eigentlich nicht, aber ich fang deshalb damit an. Ich postuliere grade immer wieder: Ihr müsst mehr arbeiten. Wenn wir ein Hochlohnland bleiben wollen, muss man die Nase technologisch vorne haben. Haben wir aber nicht im Moment. Weniger arbeiten bei vollem Lohnausgleich, das kann in dieser Situation nicht funktionieren. Übrigens ist die AfD neben dem ganzen Nazizeug und dem Populismus eine wirtschaftlich regressive Partei. Die wollen nur zurück zu alten Technologien und Rezepten. Die Linke will den verbliebenen Wohlstand nur verteilen. Das sind aber beides Strategien, die nur tiefer in die Krise führen.
taz: Mit der Aussage haben Sie sich keine Freunde gemacht.
Kretschmann: Eigentlich bekomme ich dafür immer Applaus. Es geht hier nicht um Menschen, die nicht gesund sind, die nicht fit sind, die Kinder aufziehen müssen oder Angehörige pflegen. Auch nicht um die Dachdecker, die dann immer genannt werden. Aber wir müssen sagen: Leute so geht es nicht einfach weiter. Wir müssen schauen, welche Ansprüche könnt ihr gegenüber dem Staat aufrechterhalten und welche nicht.
taz: Aber die zentrale Zukunftsfrage – der Erhalt planetarischer Lebensgrundlagen, der Klimaschutz – scheinen abgehakt.
Kretschmann: Das sehe ich nicht so.
taz: Sondern wie?
Kretschmann: In Bezug auf die USA mit Trump und auf dort, wo Rechtspopulisten an die Macht kommen, haben Sie recht. Aber in Deutschland kann ich nicht sehen, dass irgendeine Kraft das noch aufhalten könnte. Ich wüsste nicht, wie. Ein Beispiel: Wir haben einen Solarboom in Baden-Württemberg. Auch mit den Windrädern fängt es an. Und wenn ich Betriebe besuche, sehe ich: Alle Unternehmen gehen in diese Richtung, die sind oft grüner als die Politik. Es wird allerdings nicht mehr so viel darüber geredet
taz: Mit Blick auf die Wahl in Baden-Württemberg im kommenden März: Wie müssen die Grünen im Bund agieren, damit Cem Özdemir Ministerpräsident wird? Eher mal die Klappe halten?
Kretschmann: Die müssen erst mal erkennen, dass das jetzt die wichtigste Wahl wird. Die wird zu einem großen Teil über die Zukunft der Grünen entscheiden. Man darf nichts machen, was dem Spitzenkandidaten der baden-württembergischen Grünen schadet. Wenn man will, dass er meine Nachfolge antritt, dann muss man mehrheitsfähige Politik machen. Der Spitzenkandidat setzt die Agenden und bestimmt den Kurs. Ich kann der Bundespartei nur empfehlen, das zu verinnerlichen und auch auf ihre Agenda zu setzen.
taz: Wie sehen Sie denn Özdemirs Chancen?
Kretschmann: Cem Özdemir verkörpert den baden-württembergischen Kurs der Grünen wie kaum ein anderer. Er ist gewachsen an seinen Siegen und Niederlagen und hat eine klare Haltung. Er läuft nicht hinter jeder Überschrift her, versteht dieses Land und spricht so, dass ihn die Leute verstehen. Er vertritt nicht irgendein Milieu. Und er kommt vom Land wie ich auch und viele baden-württembergische Ministerpräsidenten. Insofern hat er wirklich gute und realistische Chancen, mein Nachfolger zu werden.
taz: In Berlin wird gern die Sorge geäußert, er könne zu „angepasst“ sein.
Winfried Kretschmann, 77, ist seit 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg – und bis heute der einzige Grünen-Politiker, der es an die Spitze einer Landesregierung geschafft hat. Nächstes Jahr endet seine Amtszeit, er will nicht noch einmal antreten.
Kretschmann: Das sind alles Begriffshubereien. Ministerpräsident wird man nur, wenn man mehrheitsfähig ist. Dieses Bündnis mit dem Bürger, das muss man schon ernsthaft machen. Um eine relative Mehrheit von 30 Prozent zu erreichen, muss man mehrheitsfähige Antworten geben. Sonst kriegt man die nicht.
taz: Sie haben bewiesen, dass Grüne Regierungen führen können. Aber wo hat denn Grün tatsächlich einen Unterschied gemacht in Ihrer Amtszeit gegenüber dem üblichen CDU-Modell?
Kretschmann: Das ist die falsche Frage, mit Verlaub. Ab dem ersten Tag meines Regierens war mein Bestreben, mich eben nicht besonders von anderen zu unterscheiden.
taz: Dann noch mal für die taz-Leser, denen progressive Politik wichtig ist. Wo hat Grün einen Unterschied gemacht?
Kretschmann: Mit einem grünen Ministerpräsidenten steht natürlich das Kernthema dieser Partei im Vordergrund, nämlich die Lebensgrundlagen zu erhalten und zu schützen. Das macht einfach den Unterschied. Dazu kam etwas Zweites, nämlich die Politik des Gehörtwerdens als Folge der Konflikte um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Also Bürger auch zwischen Wahlen zu beteiligen und dafür Formate zu schaffen.
taz: Die frühere Parteichefin Ricarda Lang hat im taz-Interview gesagt, die Grünen dürften nicht mehr im Zentrum der Gesellschaft sein wollen, sondern müssten das Zentrum des progressiven Teils der Gesellschaft sein. Was halten Sie davon?
Kretschmann: Wer soll denn das sein – der progressive Teil der Gesellschaft? Die Leute, die jetzt SPD, Linke und Grüne wählen? Was ist jetzt bitte an der Linken progressiv? Ihre Umverteilungsorgien oder was? Das sind doch alte Hüte aus einer Gesellschaft, die ganz anders war. Heute geht es doch um etwas anderes. Es geht darum, wer die Demokratie schützt und wer für sie arbeitet. Wir reden ja dauernd von der politischen Mitte. Das sind Parteien, die mit beiden Beinen auf der verfassungsmäßigen Ordnung stehen, gegenüber anderen, die nicht darauf stehen. Oder nur halb. Das ist eine völlig andere Kategorie. Mit so Begriffen wie progressiv kommen wir nicht mehr weiter.
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