Im Kolonialismus geraubte Körperteile: Wem gehört der Schädel?
Gerhard Ziegenfuß hat einen Totenkopf aus Deutsch-Südwestafrika geerbt. Er will ihn zurückgeben. Aber das ist gar nicht so einfach.
Gerhard Ziegenfuß zögert, als er den Karton auf der Terrasse öffnet. Der pensionierte Biologielehrer hat sich ein Leben lang mit Skeletten beschäftigt, doch den Schädel will er nur ungern anfassen, als fürchte er, die Totenruhe zu stören. Behutsam nimmt er den Schädel schließlich hoch und hält ihn wie etwas sehr Zerbrechliches. Da steht Ziegenfuß nun in seinem Rosengarten im Münsterland, ein schmächtiger 77-Jähriger mit geradem Schnurrbart, Brille und Sportschuhen, das Karohemd in die Jeans gesteckt. Mit der Vergangenheit in seinen Händen will er seit fast zehn Jahren abschließen – und wird doch immer auf sie zurückgeworfen.
Dieser Text wurde für den Deutschen Reporterpreis 2019 nominiert. Sechs weitere Beiträge, die in der taz erschienen sind, stehen ebenfalls auf der Liste der Nominierten. Hier sind sie alle nachzulesen. Die Entscheidung über die besten Texte fällt am 3. Dezember.
Denn der Schädel ist nicht nur ein dunkler Fleck in der Ziegenfuß’schen Familiengeschichte. Er ist Teil eines dunklen Kapitels der deutschen Geschichte, das immer noch nicht aufgearbeitet ist. In Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, schlug die Kolonialtruppe den antikolonialen Widerstandskampf der Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 gnadenlos nieder. Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Schätzungsweise 80.000 Herero und 10.000 Nama starben in der Region Omaheke, auch Sandfeld genannt, oder in den Konzentrationslagern. Militärärzte trennten die Köpfe der Leichen ab und schickten sie als Forschungsobjekte für rassenanthropologische Untersuchungen nach Deutschland.
Vertreter von Herero und Nama haben im Jahr 2017 vor dem Bundesbezirksgericht in New York eine Sammelklage gegen die deutsche Bundesregierung eingereicht. Sie fordern unter anderem Entschädigungszahlungen. Auch andere ehemalige Kolonialmächte schauen auf diesen Prozess. Sollten die Herero und Nama Erfolg haben, könnte das weitere Klagen nach sich ziehen. Ende Januar vertagte das Gericht eine Anhörung zu der Frage, ob die Klage überhaupt zulässig ist. Am 3. Mai soll es weitergehen.
Leopardenfell mit Kopf
Im Elternhaus von Gerhard Ziegenfuß gibt es eine Familienlegende: Der Großonkel von Ziegenfuß geht im Jahr 1900 als Missionar in die damalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika, um die Menschen dort zum Christentum zu bekehren. Pater Alois Ziegenfuß ist im Eichsfeld, einer katholischen Enklave im protestantischen Thüringen, ein hoch angesehener Mann und der ganze Stolz der Familie. Als der Kolonialkrieg ausbricht, wird er als Feldgeistlicher eingezogen und betreut die Truppe als Seelsorger. Der Schädel, so geht die Familienlegende, soll einem Häuptling gehört haben und dem Pater Alois Ziegenfuß von einem bekehrten Stamm als Geschenk übergeben worden sein. Der soll ihn zusammen mit Tiergebeinen in eine Kiste gepackt und seiner Familie in Thüringen geschickt haben.
Gerhard Ziegenfuß, Jahrgang 1940, wächst in einem Bauernhaus in Thüringen auf, in dem schon sein Großonkel geboren ist. In der Diele liegt damals ein Leopardenfell mit Kopf, in der Vitrine stehen zwei Elefantenfiguren aus Ebenholz. In der Familie erzählt man sich abenteuerliche Geschichten über die Jagdzüge des Onkels und den „Krieg gegen die Wilden“. Der Schädel ist seit Jahrzehnten im Wohnzimmerschrank verstaut. Über ihn zu sprechen vermeidet die Familie.
Esther Muinjangue, Herero-Vertreterin
Bis sich im Jahr 1960 Gerhard Ziegenfuß, inzwischen Biologiestudent in Münster, an den Totenkopf im elterlichen Wohnzimmerschrank erinnert. Im Anatomiekurs an der Universität vermessen sie Schädel. Die anderen Studenten belächeln Ziegenfuß wegen seines Plastikschädels, sie haben echte. Kurz entschlossen fährt er zu seinem Elternhaus in der DDR. So gelangt der Schädel über die deutsch-deutsche Grenze ins Münsterland, wo Ziegenfuß noch heute lebt. Dort landet er nach dem Studium im Keller. Ziegenfuß heiratet, wird Gymnasiallehrer und Vater von zwei Kinder. Den Schädel vergisst er.
„Meine Mutter war erleichtert, als sie mir den Totenkopf gegeben hat“, sagt Ziegenfuß heute. Die Verbrechen der Kolonialzeit seien in der DDR kein Thema gewesen. „Da war die Geschichte mit den Weltkriegen, Stalin wurde glorifiziert. Die hatten anderes zu tun.“
Im Jahr 1995 besucht Helmut Kohl als erster deutscher Kanzler seit 1908 Namibia. Ein Zusammentreffen mit Herero-Abgesandten meidet er. Die deutsche Regierung bedauert das Geschehene, spricht aber nicht von Völkermord – mit dem Hinweis, dass die UN-Völkermordkonvention von 1948 nicht rückwirkend gelte.
Im selben Jahr entrümpelt Gerhard Ziegenfuß mit seiner Frau Friederike den Keller. Über die Jahre als Biologielehrer hat Ziegenfuß eine Sammlung an tierischen Knochen gehortet. Da liegt auch der Schädel. „Das kannst du unseren Söhnen nicht antun, dass sie plötzlich diesen Schädel vererbt kriegen“, sagt seine Frau. Der Schädel muss also weg.
Doch was tun damit? Der Vorschlag eines Kollegen, den Schädel in einer Plastiktüte in der Straßenbahn zu vergessen, kommt für Ziegenfuß nicht infrage. Er will ihn dorthin zurückbringen, wo er hergekommen ist. Einer seiner Schüler plant eine Reise nach Namibia. Ziegenfuß will ihm den Schädel mitgeben. Doch was wird der Zoll dazu sagen? Er lässt die Idee fallen. So einfach kann er sich seines kolonialen Erbes nicht entledigen.
Zum hundertsten Jahrestag des Genozids an den Herero und Nama nimmt die Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) im Jahr 2004 an einer Gedenkfeier am Waterberg in Namibia teil. „Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde“, sagt sie anschließend in ihrer Rede und bittet um Vergebung. Es ist das erste Mal, dass eine offizielle Vertreterin Deutschlands das Wort ausspricht. Doch die Äußerung ist nicht abgesprochen. Die Bundesregierung zieht sich schnell auf die alte Position zurück, spricht weiter von Gräueltaten, um Entschädigungsforderungen zu vermeiden.
„Der Schädel gehört nicht in dieses Haus“
Im Jahr 2008 tauchen in den anthropologischen Sammlungen der Universität Freiburg Schädel aus Namibia auf, das Fernsehmagazin „Fakt“ berichtet darüber. Zur selben Zeit wird bei Familie Ziegenfuß renoviert. Friederike Ziegenfuß hat genug. „Der Schädel gehört nicht in dieses Haus“, sagt sie ihrem Mann, „finde endlich eine Lösung“.
Gerhard Ziegenfuß ist inzwischen pensioniert, es gibt keine Ausreden mehr. Er beschließt, sich der Sache zu widmen. Dass er bald mitten in die diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und Namibia geraten würde, mitten in den Konflikt über die schleppende Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen, ahnt Gerhard Ziegenfuß zu diesem Zeitpunkt nicht.
Zunächst versucht er, den Schädel über den offiziellen Weg an Namibia zurückzugeben und wendet sich an die namibische Botschaft in Berlin.
E-Mail von der namibischen Botschaft am 25. August 2008: Sehr geehrter Herr Ziegenfuß, herzlichen Dank, dass Sie diese wichtige Information mit uns teilen, und ich kann Ihnen versichern, dass die Botschaft Sie in jeder Hinsicht unterstützen wird.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
E-Mail vom Auswärtigen Amt am 18. Mai 2009: Sehr geehrter Herr Ziegenfuß, die namibische Botschaft hat Kontakt mit dem Auswärtigen Amt aufgenommen und uns Ihre Schreiben an die Botschaft von August und September 2008 übermittelt. Sie schreiben darin, dass Sie im Nachlass Ihres Großonkels einen Schädel vorgefunden haben, der aus Namibia stamme und den Sie gerne dorthin zurückführen möchten. Dieses Anliegen möchten wir gerne unterstützen.
Es gibt in Deutschland kein Gesetz, das die Rückgabe von geraubten menschlichen Überresten regelt. Nachdem in anthropologischen Sammlungen von Berlin über Dresden bis Freiburg Gebeine aus ehemaligen Kolonien gefunden worden sind, fordern die Nachfahren diese aber zurück. Im Jahr 2010 startet in Berlin das Charité Human Remains Project, das die Herkunft und den Gewerbskontext der Knochen klären soll. Das ist in vielen Fällen schwierig: Ohne historische Quellen ist eine Zuordnung zu einer Bevölkerungsgruppe kaum möglich. Die Gebeine auf biologische Merkmale zu untersuchen, ist zudem problematisch, da Wissenschaftler mit den Methoden und auf Grundlage kolonialen Wissens arbeiten.
Im Jahr 2011 reist eine Delegation aus Namibia nach Berlin, um 20 Schädel entgegenzunehmen. Es ist die erste Restitution namibischer Schädel in Deutschland. Bei den Übergabefeierlichkeiten kommt es zum Eklat. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper von der FDP, findet in ihrer Rede viele Worte für das Geschehene, sie spricht von blutiger Niederschlagung, Brutalitäten, Zwangsarbeit, Gräueltaten. Den Begriff Genozid meidet sie. Als Pieper dem namibischen Volk „Versöhnung“ anbietet, protestieren Aktivisten im Publikum lautstark, Pieper verlässt grußlos den Saal.
Gerhard Ziegenfuß ist zu der offiziellen Übergabe in Berlin eingeladen, doch er nimmt nicht teil. Seinen Schädel hat er im Jahr 2009 per Post an einen Humanbiologen in Berlin geschickt, der den Ursprung untersuchen soll. Um das Übrige, nimmt Ziegenfuß an, werden sich dann die namibische Botschaft und das Auswärtige Amt kümmern. Er glaubt, die Vergangenheit los zu sein.
Doch sie holt ihn wieder ein. An einem Tag kurz vor Weihnachten 2012 bekommt er ein Paket. Es ist der Schädel, versehen mit einer kurzen Notiz des Humanbiologen, er habe keine Zeit gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. „Ich muss ehrlich sagen, wenn ich gewusst hätte, dass in dem Paket der Schädel ist, hätte ich die Annahme verweigert“, sagt er.
Doch Ziegenfuß ist niemand, der schnell aufgibt. Er läuft Marathon, bringt die Dinge vernünftig zu Ende. Dass er den Schädel einfach nicht loswird, will er nicht hinnehmen. Jetzt erst recht nicht mehr.
Ziegenfuß schickt den Schädel erneut zur Klärung seiner Herkunft an die Charité nach Berlin, und als er dort kein eindeutiges Ergebnis bekommt, nach München zur Isotopen-Untersuchung und nach Münster zur DNA-Analyse. Anfang März 2014 gibt Deutschland zum zweiten Mal Schädel an Namibia zurück, der von Ziegenfuß ist nicht dabei.
Reise nach Namibia
Weil sich auf offiziellem Weg nichts tut, beschließt er, den Schädel selbst nach Namibia zu bringen.
E-Mail von Gerhard Ziegenfuß an die namibische Botschaft vom 18. März 2014: Nächste Woche werde ich die Ergebnisse der Isotopen-Untersuchung des Schädels, der sich über 100 Jahre in der Obhut meiner Familie befunden hat, von der Uni München erhalten. Wenn der namibische Ursprung bestätigt wird, plane ich nun eine persönliche Repatriierung und in dem Zusammenhang eine Bestattung in Namibia. Bzgl. der vorgesehenen Repatriierung ergeben sich ein paar Fragen: Brauche ich ein Dokument der namibischen Vertretung für die Einreise bzw. die Kontrollen beim Einchecken für den Flug? Wer könnte in Namibia Ansprechpartner für die geplante Bestattung sein?
E-Mail von der namibischen Botschaft vom 31. März 2014: Sehr geehrter Herr Ziegenfuß, sollte der namibische Ursprung bestätigt werden, wäre es nicht im Sinn der Sache, dass Sie den Schädel nach Namibia bringen, um ihn dort zu bestatten. Auch wenn der Schädel nach hiesigen Regeln wohl in Ihrem Eigentum ist, so sollte die Rückgabe, bzw. Rückführung in jedem Fall in Einvernehmen mit der namibischen Regierung stattfinden, was ja auch in Ihrem Sinn ist.
Befund des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Münster vom 21. Juli 2014: Die Ergebnisse der genetischen Analyse sind mit der Annahme vereinbar, dass es sich bei dem untersuchten Schädel um den Schädel eines Mannes aus dem Raum südlich der Sahara handelt, wahrscheinlich aus dem westlichen oder zentralen Raum des südlichen Afrikas.
„Wirf den Schädel in den Rhein“
Gerhard Ziegenfuß fährt trotzdem nach Namibia, ohne den Schädel. Er will dort mit Vertretern der Herero und Nama sprechen und im Archiv des Oblatenordens seines Großonkels nach Spuren suchen, die etwas über die Identität des Toten verraten, zu dem der Schädel gehört. Doch die Reise ist wenig erfolgreich. Die Oblatenbrüder lassen ihn nicht in ihr Archiv. Die Herero und Nama wollen den Schädel nicht annehmen, wenn nicht geklärt ist, welcher Ethnie er angehört. Ziegenfuß begreift, wie wenig er über die Gefühle der Betroffenen weiß.
Der Sprecher der Ovaherero Genocide Foundation, Festus Muundjua, antwortet auf die Frage, was Ziegenfuß mit dem Schädel tun solle: „Wenn die Regierung ihn nicht haben will, wirf ihn in den Rhein.“ Aus seinen Worten spricht Verbitterung. Vertreter der Herero haben die Bundesregierung aufgefordert, den Völkermord offiziell anzuerkennen und die Nachfahren der Genozidopfer förmlich um Entschuldigung zu bitten. Doch die Bundesregierung verhandelt bis heute mit der namibischen Regierung, die Nachfahren der Opfer fühlen sich ausgeschlossen.
Im Juni 2016 erkennt der Bundestag mit der Armenienresolution das türkische Massaker an den Armeniern 1915 als Völkermord an. Über den Genozid in Namibia kein Wort.
Im Januar 2017 reichen Vertreter der Herero und Nama in New York eine Sammelklage gegen Deutschland ein. Die Bundesregierung hält den Prozess für unzulässig und beruft sich auf den Grundsatz der Staatenimmunität: Das New Yorker Gericht sei dafür nicht zuständig. Die jetzt lebende Urenkelgeneration sei zudem nicht unmittelbar persönlich vom Völkermord betroffen und habe daher keinen Anspruch auf Entschädigung, sagt Ruprecht Polenz, der Sondervermittler in den Verhandlungen mit Namibia.
Gerhard Ziegenfuß sucht unterdessen weiter nach Hinweisen zum Schädel. Er versucht herauszufinden, wie er zur Familie Ziegenfuß kam, klammert sich an jede Spur. Die Vergangenheit füllt sein Arbeitszimmer mit Akten. Dabei, das ist ihm wichtig, sind Gebeine nicht sein Hobby. Seine Leidenschaft gilt der Kakteen- und Rosenzucht.
Den Schädel zurückzugeben, das war für ihn anfangs eine lästige Pflicht, dann eine Herausforderung. Inzwischen weiß er so viel über die Verbrechen der Kolonialzeit, dass der Schädel für ihn zum Symbol geworden ist: für eine Schuld, die nicht gesühnt wurde. Das Verhalten Deutschlands findet er unsäglich. „Bei uns ist die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte an Peinlichkeit nicht zu überbieten, da könnte ich mich für schämen“, sagt er. Je mehr er versucht, den Schädel würdevoll zurückzugeben, je schwieriger die Restitution wird, desto mehr wird sie für ihn zur ethischen Verpflichtung.
Brief vom Auswärtigen Amt und der namibischen Botschaft vom 7. Juli 2017: Auf Bitten der namibischen Regierung planen wir jetzt nach 2011 und 2014 eine weitere Rückführung von Gebeinen, die voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte stattfinden und die menschlichen Überreste einbeziehen soll, deren Herkunft aus Namibia zweifelsfrei geklärt ist. […] Für Ihre Zusammenarbeit danken wir Ihnen erneut sehr herzlich. Sie ist essentiell, um dieses finstere Kapitel der Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und den Verstorbenen endlich eine letzte Ruhe in Würde zu ermöglichen.
Dieses Mal steht der Name von Gerhard Ziegenfuß auf der Liste der angeschriebenen Institutionen. Klappt die Übergabe jetzt doch endlich?
„Gefangene Eingeborene“
Ein Tag im Juli, der Ziegenfuß’sche Wohnzimmertisch ist übersät mit Postkarten des Missionars. Siebzig sind erhalten geblieben, Herero sind darauf zu sehen, mit Ketten um den Hals, ein Reiter in der Steppe. Ziegenfuß hat die Karten nach Datum, Absendeort, Motiv und Adressat geordnet. Ganz rechts hat er Stichwörter zum Inhalt der Karte notiert. 22.09.1900 Hamburg – Abreise nach Afrika, 07.10.1900 Kanarische Inseln – „Es lebe Afrika!“, 1.11.1900 Swakopmund – Gefangene Eingeborene, dahinter hat Ziegenfuß ein Ausrufezeichen gesetzt. 03.06.1908 Otawi, „Mutter bekommt das 1. Tigerfell“.
Von einem Schädel ist nirgends die Rede. Nur in einer Postkarte aus dem Jahr 1913 erkundigt sich Alois Ziegenfuß nach dem Erhalt der „Gehörne“. Ist das die Kiste mit den Tiertrophäen, in der auch der Totenkopf zur Familie gelangte? Ziegenfuß glaubt nicht an die tradierte Familienerzählung. „Welcher Stamm verschenkt Gebeine von Angehörigen?“, fragt er.
An einem schönen Oktobertag fährt Ziegenfuß mit dem Auto ins thüringische Dingelstädt, seinen Geburtsort. Seine Schwester Agatha Kuchenbuch lebt noch immer im Haus des Großonkels. Im benachbarten Heiligenstadt gibt es ein Kreisarchiv, in dem sich Aufzeichnungen über den Missionar finden lassen müssten. Ziegenfuß schaltet das Navigationssystem ein, das letzte Mal war er vor eineinhalb Jahren zur Beerdigung seines Bruders hier.
„In meiner Familie bin ich der Exot“, sagt Gerhard Ziegenfuß auf der Fahrt. Die Familie seiner Schwester verstehe nicht, warum er sich so für etwas engagiere, was so lange her ist. Für weit entfernte Verwandte ist er ein Nestbeschmutzer, weil er Dinge ausgräbt, die nicht ins Bild des guten Missionars passen, nach dem in Windhuk sogar eine Straße benannt ist.
Tiertrophäen entsorgt
Heute liegt kein Leopardenfell mehr im Elternhaus des Paters, nur ein Gemälde der namibischen Steppe erinnert an ihn. Agatha Kuchenbuch, eine Siebzigjährige mit aubergine gefärbtem Kurzhaarschnitt, tischt eine Wurstplatte und Mett auf. Sie will mit dem Familienerbe nichts zu tun haben. „Das geht mich doch gar nichts mehr an.“ Die Tiertrophäen hat sie nach der Wende entsorgt.
„Jetzt sag mir mal: Wieso hat der einen Totenkopf mitgebracht?“, will sie von ihrem Bruder wissen. Ziegenfuß kann ihr das nicht beantworten. Damals habe es professionelle Schädelsammler gegeben, erklärt er, aber der Missionar sei keiner gewesen. „Was hat der dann gemacht, der Pater?“, hakt seine Schwester nach. „In seinen Tagebuchaufzeichnungen wird deutlich, dass er völkisch-nationales Gedankengut hatte, was er da geschrieben hat, ist menschenverachtend“, sagt er zögernd. Agatha Kuchenbuch nickt. „Manchmal kann man sich einer Sache nicht entziehen. Wie in der DDR. Was willst’n machen? Aus den Fängen kommst du nicht mehr raus.“
Aufzeichnungen von Pater Alois Ziegenfuß „Aus meinen Kriegerlebnissen“, 1906: Major von Estorff verfolgte unausgesetzt den flüchtenden Feind, während wir von Oparakone über Eware, Otiunda (Sturmfeld), den eisernen Ring schlossen und die Herero ihrem Schicksal überließen. […] Arme, hungernde und ermattete Weiber und Kinder wurden ohne Wasser ins Sandfeld zurückverwiesen. […] Unbemerkt ritten wir an das große Hererolager heran; um ein mächtiges Feuer in der Mitte brannten in rabenschwarzer Nacht etwa 200 kleinere Feuerchen, an denen sich die schwarze Gesellschaft plaudernd und lärmend zu schaffen machte. „Seitengewehre pflanzt auf“, erscholl das Kommando, und auf Leben und Tod, in voller Karriere, ging es hinein „ins volle Menschenleben“!
Gerhard Ziegenfuß sagt: „Wie er die Kampfhandlungen beschreibt … das tut richtig weh zu lesen. Das passt überhaupt nicht, zumindest für einen Theologen.“ Mittlerweile glaubt er, dass sein Großonkel den Schädel gar nicht selbst nach Deutschland geschickt hat. Nur so kann er diesen Widerspruch auflösen. Es könnte ja sein, dass Soldaten den Schädel in die Kiste gepackt haben. Aber warum hätten sie das tun sollen? Ziegenfuß zuckt mit den Schultern. „Vielleicht war’s nur Jux. Oder um ihn zu überraschen.“ Überzeugt klingt er nicht.
Früh am nächsten Morgen macht sich Ziegenfuß, der jeden Tag um fünf Uhr aufsteht, mit seinem Aktenkoffer auf den Weg ins Kreisarchiv von Heiligenstadt. Er erhofft sich eine Spur in den Zeitungen. Alois Ziegenfuß wurde im Eichsfeld verehrt, er veröffentlichte Reiseberichte und Pfingstgrüße in der Heimatzeitung. Im Lesesaal steht Ziegenfuß gebeugt über einer Ausgabe der Eichsfelder Volkszeitung vom Januar 1923. Er blättert die steifen, vergilbten Seiten um, sein Blick streift von oben nach unten. Plötzlich schlägt er auf den Zeitungsband und ruft: „Bingo! Ich wusste doch, dass wir was finden!“ Ein Reisebericht des Missionars. Aber vom Schädel – wieder kein Wort.
Auch Wissenschaftler haben nicht mehr über den Schädel von Gerhard Ziegenfuß herausfinden können. Der Historiker Holger Stoecker hat im Human Remains Project der Charité die historische Quellenlage untersucht. Dass Missionare in das koloniale Projekt eingebunden waren, ist laut Stoecker belegt. „Es gibt in der Geschichte einige Beispiele dafür, dass Missionare sich am Schädelsammeln beteiligt haben“, sagt er. Dass Alois Ziegenfuß dazu gehörte, lasse sich aus den Zeitdokumenten nicht rekonstruieren. „Aber die Hemmschwelle war damals deutlich herabgesetzt, und er hatte die Möglichkeit dazu.“
Historisch ist es zumindest denkbar, dass der Pater den Schädel auf dem Feld gefunden oder von der kaiserlichen Schutztruppe überreicht bekommen hat. Doch auch Stoecker sagt: Im Fall Ziegenfuß bleiben viele Fragen offen.
KZ auf der Haifischinsel
Ein kalter Januarabend im Café Fredericks in Berlin-Wedding, dem Stammcafé der Aktivisten des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht“. Die Lüderitzstraße, in der es liegt, ist benannt nach einem deutschen Kaufmann, der die Nama um ihr Land betrog. Es gab Proteste, nun soll die Straße einen neuen Namen bekommen. Auch das Café selbst hieß früher nach Lüderitz, heute erinnert es an Cornelius Fredericks, einen Widerstandskämpfer der Nama, der im Konzentrationslager auf der Haifischinsel ums Leben kam.
Im Kleinen tut sich doch etwas im Umgang mit der kolonialen Geschichte. Auch dank Israel Kaunatjike, dem einzigen Herero-Aktivisten in Berlin. Inmitten seiner Mitstreiter sitzt er im Café. Er war im Jahr 2004 der Erste, der gefordert hat, namibische Schädel aus anthropologischen Sammlungen zu restituieren. Zum Fall Ziegenfuß sagt er: „Wenn man nicht identifizieren kann, ob der Schädel von den Herero oder von den Nama ist, kann man damit nicht viel anfangen. Wir können ihn nicht annehmen.“ Ziegenfuß tut Kaunatjike leid. „Er gibt sich seit Jahren Mühe und wird ignoriert. Diesen Mann so im Stich zu lassen, finde ich nicht gut“, sagt er.
„Was sind zehn Jahre im Vergleich zu den hundert Jahren, die er den Schädel hat?“, wirft Esther Muinjangue ein. Die Vorsitzende der Ovaherero Genocide Foundation ist aus Namibia angereist. „Er kann warten, bis die Regierung sagt, jetzt ist es an der Zeit, den Schädel zu restituieren.“
Lost in Restitution
Für Muinjangue haben die Schädel eine wichtige Funktion in der Debatte. Sie erinnern die Deutschen an den Genozid. „Wir wissen, dass sie ihn leugnen wollen“, sagt sie. „Aber jedes Mal, wenn die Schädel an die Öffentlichkeit kommen, haben sie den Beweis.“
Seit neun Jahren versucht Gerhard Ziegenfuß nun schon, den Schädel zurückzugeben. Er sei „lost in restitution“, sagt er halb ironisch, halb verzweifelt. Von der im Juli angekündigten Rückführung weiterer Schädel hat er nichts mehr gehört. Das Auswärtige Amt antwortet auf Nachfrage der taz nur, die Bundesregierung führe mit der namibischen Regierung „Gespräche über eine zukunftsgerichtete Aufarbeitung der gemeinsamen Kolonialvergangenheit“. Die namibische Botschaft ist auch nach wiederholten Anfragen nicht erreichbar.
Ziegenfuß hat sich inzwischen einen anderen Weg überlegt, wie der Schädel zur letzten Ruhe kommen kann. Zufrieden ist er damit nicht, aber es wäre zumindest versöhnlich. Sollte es in absehbarer Zeit nicht mit der Rückgabe klappen, dann nimmt Gerhard Ziegenfuß den Schädel mit in sein Grab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“