IS-Rückkehrer Harry S.: Der Kronzeuge des Terrors
Vor Gericht wirkt Harry S. wie ein netter Junge. Doch er ist nach Syrien gereist, um für den IS zu kämpfen. Wie kam es dazu?
Trotzdem schaffte er es ins Ausbildungscamp der Spezialeinheit, die bei der Eroberung von Städten wie Kobane hinter den feindlichen Linien kämpfen soll. Ein Training in zehn Stufen, Ideologietest, Nahkampf-Übungen, mit Gewehr durch den Sand robben, kaum Wasser, nur wenig zu essen, Duschverbot. Wer aus der Reihe fällt, wird öffentlich ausgepeitscht.
Über Details aus dem Innenleben der Terrormiliz IS erfährt man sonst wenig. Doch Harry S. erzählt. Stundenlang. Ende Juni, Anfang Juli 2016 sitzt er auf der Anklagebank des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg. In seiner Jeans und dem hellen, lockeren Hemd will er so gar nicht in das Bild eines islamistischen Unsympathen passen, das man sich unter einem „IS-Rückkehrer“ vorstellt. Wenn Harry S. heute über seine Zeit beim IS berichtet, zieht er den Gerichtssaal in seinen Bann. Er wirkt nachdenklich, moralisch gefestigt, seine Formulierungen sind klar und geradeaus.
Harry S. vor der Flucht aus Syrien
Harry S. hat gebrochen mit der Ideologie des Dschihad, will öffentlich auftreten, sein Gesicht zeigen und andere vor einer Radikalisierung warnen. Das macht aus ihm einen Kronzeugen und Hoffnungsträger. Weil er kooperiert, wurde der heute 27-Jährige am Dienstag vergangener Woche nach nur vier Verhandlungstagen wegen Mitgliedschaft in der ausländischen Terrorvereinigung und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu drei Jahren Haft verurteilt. Anklage und Urteil basierten im Wesentlichen auf dem, was Harry S. aussagte – es gibt nur seine Version der Geschichte. Die überschaubaren eigenen Erkenntnisse von Polizei und Geheimdienst decken sich mit dem, was er sagt. Ermittler, Bundesanwälte und Richter glauben ihm.
Krankgeschrieben vom IS
Von April bis Juni 2015 war Harry S. beim IS in Syrien. Ermordet, sagt er, hat er in der Zeit niemanden. Ein Kalaschnikow-Sturmgewehr wurde ihm ausgehändigt, zu Trainingszwecken, ohne Munition. Und später eine Beretta-Pistole, diesmal mit Patronen. Erste Zweifel kamen ihm, als er in Ar-Rakka ins Hospital muss, „vom IS krankgeschrieben“, wie er erzählt, und den vielen Verwundeten begegnet. Die hatten genug. Auch Harry S. sieht die andere Seite von Terror und Krieg. Als für ihn das Training weitergeht, knickt sein Fuß gleich wieder um. Nun hat auch er keine Lust mehr auf die Kampfausbildung. Er sagt, dass er verheiratet ist, und fliegt aus der Ausbildung. Den Ausweg hatte ihm jemand im Krankenhaus aufgezeigt. Verheirateten ist die Einheit verboten.
Harry S. will nun lieber als Ingenieur die Städte für den IS wieder aufbauen und reist in den Irak. Ein Hamburger betreibt dort für die Terroristen eine Sportschule – für Jungen zwischen 14 und 16 Jahren. Harry S. will hier unterrichten, für die Genehmigung muss er zurück nach Ar-Rakka. Auch die Schlächter legen Wert auf Bürokratie. Schon als er ankam, wurden die persönlichen Daten von Harry S. – Familienangehörige, Kontaktpersonen, Blutgruppe, Ausbildungsstand – von einem IS-Mann in den Computer eingegeben.
An einem Morgen kommt dann die Nachricht: Alle Deutschen sollen sich sammeln, etwas Schwarzes anziehen. Harry S. hat nur den Tarnanzug, der ihm am Anfang ausgehändigt wurde. Nur zwei Leute wissen, worum es geht. Mit Pick-up-Trucks werden sie abgeholt und von Ar-Rakka nach Palmyra gefahren. Erst kurz zuvor war die antike Stadt mit den Tempelruinen vom IS eingenommen worden, was im Westen für Aufsehen gesorgt hatte.
Die Deutschen werden für den Dreh eines Propaganda-Videos gebraucht, in dem Harry S. später mit seinem Tarnanzug zu sehen sein wird.
Sieben Gefangene werden vorgeführt. Wer Lust habe, sie hinzurichten, wird gefragt. Nur Harry S. will das nicht. Dafür soll er reden, vor der Kamera, „ein Schwarzer aus Deutschland, das kommt gut“, wurde ihm gesagt. Auch das will er nicht. Schließlich trägt er die schwarze Fahne des IS durchs Bild, ein paar Sekunden ist er zu sehen. In dem fünfminütigen Film wird Kanzlerin Merkel bedroht und es wird zu Anschlägen in Deutschland aufgerufen. Es gilt als eines der wichtigsten Rekrutierungsvideos in deutscher Sprache.
Ekelhaftes Spiel
Für den Dreh werden den Gefangenen Uniformen angezogen. Einer von ihnen fleht, er sei nicht von Assad, er sei auch Sunnit. Bevor er weiter sprechen kann, wird er erschossen. Durchlöchert, auch als er schon am Boden liegt. Im Film wird schließlich eine andere Hinrichtungsszene gezeigt. Als Harry S. das Erlebte im Hamburger Gerichtssaal schildert, merkt man ihm seine Erschütterung an. Ob ihn das wirklich überrascht habe, will der vorsitzende Richter Klaus Rühle von ihm wissen: „Wir kennen doch eine Fülle von Hinrichtungsvideos“. Harry S. spricht von einem „ekelhaften Spiel“. Dass Zivilisten als Militärs hingerichtet wurden, sei eine „Lüge“ gewesen und habe eine „Doppelmoral“ offenbart.
Noch drei Wochen vor der Reise hätte er nicht gedacht, dass er zum IS nach Syrien gehen würde, sagt Harry S. bei seinem letzten Wort vor dem Urteil. Die Bremer Sicherheitsbehörden schätzten das anders ein: Auf ihrem Radar war er mindestens schon seit 2014. Im Januar jenes Jahres hat er auf Facebook ein Foto eines anderen Nutzers geteilt, auf dem eine Reisetasche mit dem Schriftzug des islamischen Glaubensbekenntnisses abgebildet ist, samt fiktivem Reisepass des „Islamischen Staates“ und Flugticket ins Kalifat. „Insha’ Allah, sehr bald!“, kommentiert Harry S. damals. Drei Monate später reist er vom Flughafen Hannover nach Istanbul und will weiter nach Syrien. Der Versuch scheitert, er wird an der Grenze festgenommen. Damals habe er nur humanitäre Hilfe leisten wollen, sagt Harry S. heute. „Auf der syrischen Seite, das war mir wichtig. Zu diesem Zeitpunkt habe ich es als eine islamische Pflicht gesehen.“ Ein Gutachter stützt diese Version vor Gericht, der Grenzübergang, den er nehmen wollte, war zu der Zeit nicht vom IS kontrolliert.
Dass man ihm in diesem Fall nichts anderes nachweisen könne, sagt Richter Rühle dazu in seinem Urteil. Zweifel werden Harry S. vor einem demokratischen Gericht zu seinen Gunsten ausgelegt und ebenso, dass er Reue zeigt.
In Online-Kommentaren zu Berichten über seinen Fall wird ihm nicht so viel Verständnis zuteil. Die Gruppe, der er sich angeschlossen hat, ist diejenige, die westliche Werte derzeit wohl am krassesten negiert. Zum Repertoire der Terrormiliz gehören Selbstmordanschläge, systematische Tötungen von Geiseln, Vergewaltigung und Versklavung von Frauen. Außerdem betreibt man eine gut organisierte Medienstelle, die für Propaganda-Zwecke mordet. Menschenverachtung als Programm.
Was brachte Harry S. dazu, sich dem IS anzuschließen?
Harry S. über die Zeit in London
Harry S. sagt, die salafistische Ideologie hätte im krassen Gegensatz zu seiner vorherigen Lebensführung und seinen Werten gestanden. Geboren 1988 als Kinder ghanaischer Eltern in Bremen, wächst Harry S. im Stadtteil Osterholz-Tenever in schwierigen Verhältnissen auf. Seinen Vater lernt er erst spät kennen. Seine streng-christliche Mutter schickt ihn in einen katholischen Kindergarten und später auf die katholische Privatschule St. Johann in der Bremer Innenstadt. 2006, als Harry S. in der 9. Klasse ist, zieht die Familie nach London. Er hat dort zunächst Probleme, Fuß zu fassen. Auf einem technischen College im Osten der Stadt studiert er Ingenieurwesen, arbeitet nebenbei im Imbiss eines deutschen Auswanderers und anschließend in einem Baumarkt.
Auf dem College lernt er muslimische Kommilitonen kennen, die ihm ihren Glauben näherbringen. Er liest den Koran, ist fasziniert – und konvertiert. Das führt zunächst zum Zerwürfnis mit seiner Mutter, die ihn kurzzeitig rausschmeißt. Harry S. wird für ein paar Tage obdachlos und kommt in einer Moschee-Gemeinde unter.
Dann, 2010, stirbt sein bester Freund in Bremen. „Das hat mein Leben aus den Fugen gebracht“, sagt Harry S. heute. Er reist für einige Tage nach Bremen zurück. Freunde von früher überreden ihn zu einer Straftat: Im Januar 2011 überfällt er mit ihnen einen Supermarkt. Er wird erwischt und zu zwei Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt. „Diesen Auflagen bin ich leider nicht nachgekommen“, sagt er im Prozess. Im November 2012 folgt die Haftstrafe. Der Raub? Sei eine Dummheit gewesen, erklärt Harry S., er habe nicht nachgedacht, es ging ums schnelle Geld. Von der Beute machte er einen Kurzurlaub auf Gran Canaria.
Ein ganz normaler Moslem
„Zu dieser Zeit war ich noch ein ganz normaler Moslem“, sagt Harry S.. Doch im Gefängnis wird er sich verändern. In der Bremer Justizvollzugsanstalt Oslebshausen lernt der damals 20-Jährige den als „Emir von Gröpelingen“ bekannten deutsch-malaysischen Salafisten René Marc S. kennen. Der ist in Haft, weil er im Auftrag der „Globalen Islamischen Medienfront“ Propaganda für al-Qaida verbreitete. Er ist Führungsfigur und Gründer des islamistischen „Kultur- und Familienvereins“ samt Moschee in Bremen-Gröpelingen.
Als René Marc S. im Februar 2016 nach drei Jahren frei kommt, gilt er den Behörden noch immer als einer der gefährlichsten Salafisten den Landes. Es entbrennt eine Diskussion über den Umgang mit haftentlassenen Islamisten: Der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) fordert, verurteilten „Gefährdern“ wie ihm Fußfesseln anzulegen. Rechtlich gibt es dafür keine Grundlage. Im April 2016 kommt es bei René Marc S. und anderen zu Hausdurchsuchungen. Er soll ein Mordkomplott gegen ehemalige Mitstreiter aus der Moschee geplant haben. Der Polizei macht er Vorwürfe, ihn im Polizeigewahrsam schwer verletzt zu haben.
Eine Welt aus Gläubigen und Ungläubigen
René Marc S. habe ihm im Gefängnis „eine Art Crashkurs in die Ideologie gegeben“, sagt Harry S. Er habe ihn eine Unterscheidung zwischen Liebe und Hass, eine Trennung in Gläubige und Ungläubige gelehrt, sei wie ein großer Bruder gewesen, nahm den Platz seines verstorbenen Freundes ein. „Sobald du hier rauskommst, solltest du die Moschee in Gröpelingen besuchen“, hatte René Marc S. zu ihm gesagt.
Harry S. tut, was er sagt. In der Moschee trifft er Freunde von früher. Er erfährt, wie ausschließend diese Ideologie tatsächlich ist. „In der Haft haben wir noch alle zusammen gekocht“, sagt er. Draußen sollte er sich nun von Leuten fernhalten, die nicht seinem Glauben folgten. Für die Bremer Bierbrauerei Beck’s darf er nicht mehr arbeiten, weil Alkohol verboten ist. Sogar Fußballspielen ist für Harry S., den begnadeten Torwart, von nun an tabu.
Später wird der Richter in seinem Urteil sagen, dass sich mit der Haft im November 2011 eine Spirale in Gang setzte, die letztendlich zur Reise nach Syrien geführt habe. Für Harry S. scheint demnach zu gelten, was auch bei anderen dschihadistischen Islamisten – vor allem aus Frankreich und Belgien – beobachtet wurde: Der Knast war ihre Brutstätte. Die Pariser Charlie-Hebdo-Attentäter lernten sich im Gefängnis kennen, auch Ibrahim und Khalid El-Bakraoui, die Attentäter von Brüssel, waren zu Haftstrafen verurteilt worden.
Viele der Syrien-Ausreisenden kämen aus dem kriminellen Milieu, sagt der Politikwissenschaftler und Sozialpädagoge Thomas Mücke 2015 im Interview mit der taz. Er leitet das Violence Prevention Network, das seit 2001 Deradikalisierungstrainings anbietet und auf dem Gebiet als Vorbild gilt. Junge Menschen, die in ihrem Leben gescheitert sind und keine gute soziale Perspektive haben, seien besonders anfällig für einfache Ideologien, sagt er. Islamisten würden im Gefängnis von außen unterstützt, im Knast gebe es informelle Netzwerke: Wer von seiner Ideologie überzeugt sei, würde dort auch rekrutieren. Das sei eine Gefahr im Strafvollzug.
Laut einem Bericht des Bundeskriminalamts von 2015 ist das Problem in Deutschland noch überschaubar: Nur elf Ausreisende werden genannt, die im Gefängnis radikalisiert wurden. Dennoch sind die deutschen Justiz- und Sicherheitsbehörden mittlerweile sensibilisiert. Getan werde in diesem Bereich bislang immer noch zu wenig, sagt Thomas Mücke.
Was beim Islamismus als Mechanismus greift, kritisieren fortschrittliche Kriminologen für die totale Institution Gefängnis insgesamt: Es beginnt ein Aufschaukelungsprozess. Die Sanktion verhindert nicht die weitere Straftat, sondern wird zu ihrer Ursache.
Schon auf seinen ersten Freigängen macht sich Harry S. zu Besuchen im Kultur- und Familienverein auf. Ab seiner Freilassung im November 2013 besucht er regelmäßig das Freitagsgebet. Etwa 60 der rund 360 Salafisten in Bremen gehen dort mit ihm hin. Doch nicht nur im von Armut geprägten Bremer Stadtteil Gröpelingen hat der Kultur- und Familienverein eine Sogwirkung. Dschihadisten aus ganz Deutschland und Europa reisen in die Räume des ehemaligen Kindergartens. Sie hören Predigten über Juden und Christen als „Hunde und Ratten“, darüber, dass es für Eltern eine Ehre sei, wenn ihre Kinder am Dschihad teilnehmen, dem bewaffneten Kampf. Dass ein gläubiger Moslem nicht unter Ungläubigen leben dürfe.
Gläubige und Ungläubige, Liebe und Hass – was Harry S. von René Marc S. gelernt hat, ist eine besonders radikale Form des Salafismus: die Lehre der Takfir-Bewegung. Laut Bremer Innenressort war der Kultur- und Familienverein die erste Moschee dieser Ideologie-Richtung in Deutschland. „Takfir“ bedeutet, jemandem zum Ungläubigen zu erklären – in diesem Fall fast alle, Muslime und Nicht-Muslime, die sich der Ideologie nicht anschließen.
Laut Erkenntnissen des Bremer Innenressorts wurde auch Besuchern des Freitagsgebets in der Moschee immer wieder das Bedrohungsszenario vermittelt, selbst ungläubig zu werden, sollte man das deutsche politische System anerkennen oder sich der hiesigen Gesellschaft anpassen. Das ging so weit, dass Anhänger des Vereins sich bei einer Verkehrskontrolle wehrten: „Eure Gesetze beachte ich nicht“, sagte einer zur Polizei, „wir leben nach dem Recht der Scharia.“ Ein Vorfall, wie er in ähnlicher Weise auch von Harry S. bekannt ist.
Vereinsverbot durch Innensenator
Im November 2014 wird der Verein vom Bremer Innensenator verboten. In der Verbotsverfügung heißt es: Der Verein habe eine „aggressiv-kämpferische Grundhaltung“, er rufe zum Hass gegen Angehörige anderer Religionen auf und stachele zu terroristischen Handlungen an. Neun Männer, sieben Frauen und elf Kinder seien zum Zeitpunkt des Verbots aus dem Umfeld des Vereins ausgereist, um sich an Kampfhandlungen in Syrien und dem Irak zu beteiligen.
2008 hatte sich der Kultur- und Familienverein vom „Islamischen Kulturzentrum“ (IKZ) in Bremen abgespalten. Die Gründungsmitglieder warfen ihren einstigen Glaubensbrüdern vor, sich auf einem islamischen Irrweg zu befinden.
Obwohl das Islamische Kulturzentrum seither beteuert, mit derartiger Spielart des Islamismus nichts zu tun zu haben, sind auch deren Anhänger bis heute im Blick der Bremer Polizei und unter genauer Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Beim Alarm wegen angeblicher Anschlagspläne in Frühjahr 2015 in Bremen richtete sich der Fokus auf die Moschee des IKZ unweit des Hauptbahnhofs. Ein Haufen Uzi-Maschinenpistolen sollte hier für einen Anschlag versteckt worden sein. Die Räume wurden gestürmt, gefunden wurde nichts. Die Durchsuchung war nicht rechtmäßig, stellte das Landgericht Bremern später fest – nicht der einzige Fehlgriff der Bremer Polizei an jenem Wochenende.
Harry S. fühlte sich angezogen von den Gelehrten und Belesenen der Takfir-Bewegung. Ende 2013 reist er nach Wien, um den Prediger Abu Hamzah al-Afghani zu sehen. Der kritisiert Vorgänge in der Gröpelinger Moschee. Zurück in Bremen streitet sich Harry S. in der Gemeinde und bekommt Moscheeverbot. Dennoch reist er im März 2014 mit anderen aus dem Kultur- und Familienverein nach Mekka. Hier trifft er auch den salafistischen Prediger Pierre Vogel.
Einen Monat später unternimmt er den ersten Reiseversuch nach Syrien, jenen, wo er nur humanitäre Hilfe leisten wollte. Nach der Rückkehr heiratet Harry S. nach islamischen Recht, findet eine neue Wohnung und will einen Neuanfang versuchen. Er sei zu dem Zeitpunkt auf einem guten Weg gewesen, sagt Harry S. im Prozess. Doch der Reiseversuch nach Syrien hatte Konsequenzen: „In den Augen ihrer Umwelt waren Sie derjenige, der sich mit dem Terror einlässt“, sagt Richter Rühle. Die Behörden entziehen Harry S. den Reisepass. Als 2014 der Kultur-und Familienverein verboten wird, hört er im Fernsehen von Wohnungsdurchsuchungen. Harry erzählt, wie auch seine neu eingerichtete Wohnung zerstört wurde.
In die Ecke gedrängt
„Mann, Harry, was ist los hier“, habe ein Nachbar zu ihm gesagt. Die Leute veränderten sich und wurden misstrauisch, sagt er im Prozess. „Und immer wieder der Spruch, dass wir Muslime in diesem Land nichts zu suchen haben.“ Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Am 30. März 2015 kam es zu einer erneuten Durchsuchung, diesmal wegen Raubes. Dass er Terrorverdächtiger sei, hätten die Beamte ihm vorgehalten. Was er „hier“ wolle, hätten sie ihn gefragt, erzählt sein Anwalt Udo Würtz der taz. Würtz beschreibt die Zeit als von „Stigmatisierung“ geprägt, spricht von „Schikane“ durch die Polizei – und davon, dass dies seinen Mandanten letztendlich so emotionalisiert habe, dass er aus Deutschland weg wollte.
Harry S. Freund Adnan S., der mit ihm im Kultur- und Familienverein war, hatte ihm schon früher gesagt: „Die wollen nicht, dass Muslime hier frei leben können.“ Adnan S. fragt ihn, ob er mit ihm ausreist. Diesmal trifft das Angebot auf fruchtbaren Boden. Der Richter nennt Adnan S. einen „Mephisto“, der Harry S. verleitete. Einen Tag später machen die beiden Ernst: Harry S. besorgt sich den Pass eines Verwandten und sie reisen gemeinsam aus.
Die Infrastruktur dafür steht: In Hamburg gibt ein Kontaktmann ihnen Geld für ihr Auto, nach dem Weg über Österreich, Ungarn und Bulgarien werden sie von IS-Leuten in einem „Safe-House“ schon in der Türkei in Empfang genommen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Harry S. zusammen mit Adnan S. am 6. April 2015 in die terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat Irak und Großsyrien“ eingetreten ist.
Drei Monate später ist der Weg zurück für Harry S. sehr viel schwieriger. Der IS-Machthaber an der Grenze will ihn nicht durchlassen, er lädt sich Landkarten von Google im Internet-Café runter, kontaktiert seine Frau: „Wenn du in den nächsten 48 Stunden nichts von mir hörst, leb’ dein Leben.“ Und er nimmt über sie Kontakt zu seinem Anwalt Würtz auf. Ihr Verhältnis ist eng, schon Jahre vorher hatten sie sich zufällig kennengelernt und immer wieder in einer lockeren Runde miteinander Fußball gespielt. Doch Würtz kann ihm nicht helfen, auch er kennt niemanden, der ihn aus Syrien rauszuholen vermag.
Nur noch raus
Er habe viele junge Leute in Syrien getroffen, die nur noch raus wollen, aber keine Ausweg kennen, sagt Harry S. Er kauft sich etwas Wasser, trägt einen Jogginganzug und seine Waffe und macht sich zu Fuß auf den Weg. Über Stunden verbringt er Zeit im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Immer wieder wird er entdeckt, wird beschossen. Er tarnt sich mit Schlamm. Bis er einen Beduinen trifft, der ihm den Weg zeigt: „30 Minuten in diese Richtung, dann bist du in der Türkei.“
Im Juni 2015 geht er ins deutsche Konsulat in Izmir und sagt, er habe seinen deutschen Pass verloren. Er tritt aus dem Schatten ins Blickfeld der Behörden. Im Juli 2015 wird er direkt nach der Ankunft am Bremer Flughafen festgenommen.
Seitdem ist er in Haft. Im Oktober 2015 wird er zunächst vom Verfassungsschutz verhört. Der Polizei in Bremen traut er nicht. Schließlich kommt es auch zu stundenlangen Sitzungen mit dem LKA. 700 Seiten an geheimdienstlichen Informationen, Hinweise über IS-Strukturen, Morde und Massenmorde.
Harry S. wird aus der JVA Bremen in den Hochsicherheitstrakt in Oldenburg verlegt. Dort sei man mit sich und seinem Atem allein, sagt sein Anwalt Würtz, es sei ein Isolationstrakt der Art, wie er in der RAF-Zeit entstanden ist. In seinem Plädoyer spricht er auch über die Haftbedingungen. Und darüber, dass es letztendlich der Bremer Innensenator gewesen sei, der eine Verlegung seines Mandanten in die normale Justizvollzugsanstalt in Bremen verhindert habe, obwohl dem nach dem Geständnis nichts mehr im Weg stand.
Der Innensenator führte an, es sei für Harry S. im normalen Vollzug zu gefährlich. Anwalt Würtz sieht dafür keine konkreten Anhaltspunkte. Er spricht von „politischem Kalkül“: Mit der Gefahr lasse sich eine harte Gangart besser verkaufen.
Harry S. ist mittlerweile wieder im Hochsicherheitstrakt. Das Urteil ist rechtskräftig. Anwalt Würtz hofft, dass er schnellstmöglich in den normalen Vollzug verlegt wird. Harry S. will helfen, dass andere es ihm nicht gleichtun, will Jugendliche vor der Ausreise warnen. Es sollen nicht immer noch mehr Kämpfer werden. Eine Zusammenarbeit mit einem Präventionsprojekt ist in Planung. Irgendwie soll das gehen, auch hinter Gittern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“