Hungersnot in Guatemala: Die Ernte reicht nur bis Januar
In Guatemala ist die Ernte aufgebraucht. Laut Regierung werden zwei Millionen Menschen hungern müssen. Und die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ist chronisch unterernährt.
LIMÓN taz | Die Aussicht ist grandios und deprimierend. Wenn Rosalinda García hinter ihre Hütte geht, liegt vor ihr ein langes, tief in eine Landschaft aus weichen Hügeln eingeschnittenes Tal; in der Ferne begrenzen die Berge des Nachbarlands Honduras den Horizont. Jetzt, kurz nach dem Ende der Regenzeit, wo andere Gegenden in Guatemala vor sattem Grün strotzen, ist hier in der Region Chorti schon alles gelb verbrannt oder grau vom Staub.
Der Bach unten im Tal ist so gut wie ausgetrocknet. Es regnet nie viel in dieser Gegend. Die schweren Wolken der Regenzeit bleiben meist in den Bergen am Horizont hängen. Chorti liegt im sogenannten trockenen Korridor des zentralamerikanischen Landes. In diesem Jahr ist dieser sich über sieben Provinzen hinziehende Streifen noch trockener als sonst. Die Menschen hungern. Mindestens 500 sind schon gestorben.
Zu Rosalinda García kommt man nur zu Fuß. Von Limón aus, einem Weiler, der zur Gemeinde Jocotán gehört, steigt man eine gute halbe Stunde lang den Hang hinauf. Nach Limón gelangt man nur in einem geländegängigen Fahrzeug. 16 Kilometer lang windet sich der holprige Erdweg mit tief ausgewaschenen Fahrrinnen den Berg hinauf. Nach Jocotán führt immerhin ein geteertes Sträßchen - seit gerade einmal vier Jahren. Zu dem knapp 35.000 Einwohner zählenden Städtchen gehören über 50 solcher nur schwer zugänglicher Weiler. Nach einer Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ist Jocotán die ärmste Gemeinde in Guatemala.
Die Wände der Hütte von Rosalinda García sind ein mit Lehm verschmiertes Gerüst aus Bambusstangen, das Dach bilden Palmblätter, der Boden ist gestampfte Erde. Jeden Morgen gehen die 30-Jährige und die drei älteren ihrer fünf Kinder eine halbe Stunde lang zur nächsten Quelle, alle barfuß und die Mutter in immer demselben roten Kleid. In großen Plastikamphoren holen sie das Wasser für den Tag. Eine halbe Stunde, sagt sie, das sei nicht weit. Um Holz zu sammeln, müsse man viel weiter gehen. Es gibt kaum mehr Wälder rund um Limón. Ihr ältester Sohn, 14 Jahre alt, ist gerade beim Holzschlagen, um ein paar Quetzales zu verdienen. Mit Glück bringt er umgerechnet ein bisschen mehr als einen Euro mit nach Hause. Der Mann ist weiter im Westen unterwegs, um Arbeit zu suchen bei der Kaffeeernte.
Armut: 56 Prozent der knapp 13 Millionen Guatemalteken leben in Armut (mit weniger als 2 US-Dollar pro Kopf und Tag). Drei Viertel dieser Armen sind Indígenas. 16 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als 1 US-Dollar pro Kopf und Tag zurechtkommen. 49 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind chronisch unterernährt.
Reichtum: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 5.200 US-Dollar jährlich, also 14,25 US-Dollar pro Tag. Vor allem die Reichen führen so gut wie nichts an den Staat ab. Das Steueraufkommen ist mit 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eines der niedrigsten weltweit. Präsident Colom hat im Wahlkampf versprochen, es auf 18 Prozent zu verdoppeln und mit dem Geld Sozialprogramme zu finanzieren. Eine ernst zu nehmende Steuerreform aber hat er nach fast zwei Jahren im Amt noch nicht in Angriff genommen.
Die Mehrheit der Bevölkerung von Jocotán gehört zum Mayavolk der Chorti. Die Menschen sind klein und tiefbraun gebrannt, die Frauen haben lange, pechschwarze Haare. Kaum jemand spricht noch die Sprache der Vorfahren, kaum jemand trägt noch deren Tracht. In den Weilern leben ausschließlich Arme. Keine Großgrundbesitzer, nur Kleinbauern mit einem halben Hektar Land oder noch weniger. Manche besitzen gar keinen Grund. Der Boden ist karg und gibt nicht viel her, nur eine Ernte Mais und Bohnen im Jahr. In besonders trockenen Jahren wie diesem verdorrt auch von dieser Ernte mehr als die Hälfte. In manchen Jahren pachtet Rosalindas Mann ein Stückchen Land, in diesem Jahr ließ er es bleiben. "So haben wir wenigstens nichts verloren", sagt die Frau.
Acht Kinder hat sie zur Welt gebracht, drei davon sind gestorben. Ein Junge mit acht Jahren und einer mit drei, und ein Mädchen wurde nur drei Monate alt. "Die Kleine hatte Atemprobleme", sagt die Mutter. "Die beiden Großen starben am Fieber." Wann genau das war, weiß sie nicht mehr. "Das habe ich vor lauter Schmerz vergessen." Fast alle Frauen in Limón tragen so einen Schmerz in sich. Ihre Kinder, sagen sie, starben an Fieber, an Hautkrankheiten oder an Durchfall. Tatsächlich starben sie an den Folgen chronischer Unterernährung. Sie sind so schwach, dass sie keiner Bakterie und keinem Virus Widerstand entgegensetzen könnten.
Rosalinda macht sich vor allem um die Dreijährige Sorgen. "Sie wiegt nur knapp über zehn Kilo und will einfach nicht zunehmen." Und weil es viele solche Kinder gibt und allein in der ersten Jahreshälfte fast 500 von ihnen gestorben sind, hat Präsident Álvaro Colom den nationalen Notstand erklärt. In der zweiten Jahreshälfte haben die staatlichen Stellen keine Zahlen mehr veröffentlicht. Im August und September wird der Mais geerntet. Erst einmal haben die Menschen wieder ein bisschen etwas zu essen. "Aber in diesem Jahr reicht es nicht weit, höchstens bis in den Januar", sagt Gloria Calderón. "Danach wird es schlimm." Dann werden in Guatemala nach einer Prognose der Regierung mindestens zwei Millionen Menschen Hunger leiden.
Gloria Calderón ist Nonne und arbeitet in einer Hungerstation in Jocotán, die vor fünfzig Jahren von einem belgischen Orden gegründet wurde. Seit 15 Jahren füttert sie hier unterernährte Kinder auf. "Sie sind einen bis drei Monate lang hier und gehen danach zurück in dieselben Verhältnisse, aus denen wir sie geholt haben", sagt sie. "Viele sind nach ein paar Wochen wieder da. Manche sterben."Avelino Ramirez ist sieben und schon zum zweiten Mal in diesem Jahr in der Hungerstation. Er sieht nicht ausgemergelt aus. Sein Gesicht ist rund, die Wangen sind dick, auch die Beine sind mehr als nur Haut und Knochen. Dass er mit unendlich traurigem Blick abwesend auf seinem Gitterbettchen im Schlafsaal sitzt, mag auch am Heimweh liegen. Doch "man darf sich da nicht täuschen lassen", sagt Gloria Calderón. "Die Kinder schwemmen auf, bekommen Flecken auf der Haut. Kurz danach ist es dann zu spät."
Maripol Broekmans ist die älteste der Nonnen und arbeitet schon seit vierzig Jahren in der Hungerstation. "Ich weiß nicht, wie viele Kinder wir schon auf den Friedhof getragen haben", sagt sie. In den fünfzig Jahren der Hungerstation gab es schlechte Jahre und ganz schlechte Jahre und gute eigentlich nie. Dieses Jahr war ein schlechtes Jahr, das kommende werde ein ganz schlechtes. "Wenn das bisschen, das in diesem Jahr geerntet wurde, verbraucht ist, werden die Menschen gar nichts mehr zu essen haben." Frühere Regierungen hätten das Problem einfach ignoriert. Colom machte es als erster Präsident öffentlich. "Um leichter an internationale Hilfsgelder zu kommen", glaubt Broekmans.
Der Präsident hat selbst zugegeben, dass der Hunger in Guatemala ein strukturelles Problem ist. Dass das Land eigentlich reich ist und genügend Lebensmittel produzieren könnte, aber die Menschen zu arm sind, um sich welche zu kaufen. Auf den fruchtbarsten Böden wachsen Schnittblumen und Erdbeeren für den Export und afrikanische Ölpalmen für Biodiesel. In Gegenden wie der Region Chorti versuchen die Armen, mit immer kleineren Parzellen zu überleben, und holzen, um kochen zu können, die letzten Reste des Waldes ab. Mit der Folge, dass es immer heißer wird. "Früher war es Anfang Dezember immer kühl", erinnert sich Rosalinda García. Heute ist es staubig, trocken und heiß.
Die Regierung will die Not mit etwas Geld lindern. 150 Quetzales, gut 12 Euro, bekommt jede arme Familie monatlich - unter der Bedingung, dass die Kinder geimpft werden und regelmäßig zur Schule gehen. Das Programm heißt "Meine Familie kommt voran". First Lady Sandra Torres verteilt das Geld gern persönlich. Die Opposition wirft Colom vor, die Almosen seien billiger Stimmenfang, die Gattin solle so zur Kandidatin für seine Nachfolge im Amt aufgebaut werden.
Auch Rosalinda wollte das Geld, hat aber nichts bekommen. Bis hinauf nach Limón ist die Frau des Präsidenten ohnehin nicht gekommen. Und als ihre Abgesandten in den Weiler kamen, da stand auch Rosalinda in der Schlange. Doch statt des verlangten Personalausweises hatte sie nur eine Geburtsurkunde als Dokument dabei. "Ich weiß nicht, ob ich überhaupt einen Personalausweis besitze", sagt sie und zuckt mit den Schultern.
Wenn sie nicht Mais kocht oder spült, setzt sich Rosalinda vor ihre Hütte und flicht Petates genannte Matten aus Palmblättern. Eine schafft sie in der Woche. Auf dem kleinen Markt drunten in Limón bekommt sie 15 Quetzales dafür, ein bisschen mehr als einen Euro. "Weiter unten im Tal bezahlen die Leute nur noch zehn." Petates dienen den Armen als Schlafplatz. Und wenn Kinder armer Leute sterben, schlägt man sie in solchen Matten ein und trägt sie zum Friedhof.
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