„Hospital der Geister“ als Theaterstück: Jeder Fortschritt ein Rückschritt
Jan-Christoph Gockel adaptiert am Deutschen Theater in Berlin Lars von Triers „Hospital der Geister“. Dialektik der Aufklärung trifft auf Hochkomik.

Dieser Theaterabend hat zwar vordergründig überhaupt nichts mit der Coronapandemie zu tun und doch denkt man nach einer Weile, dass er genau zur richtigen Zeit herauskommt: nur einige Tage, nachdem öffentlich gewordene Geheimdienstrecherchen die sogenannte Labortheorie über den Ursprung des Erregers neuerlich ins Gespräch gebracht hatten. Denn so wie dieser Verdacht das Bild der Wissenschaft als Heilsbringerin der Menschheit in Zweifel zieht, so präsentieren sich die Mediziner auf der Bühne als eine Sammlung lächerlicher bis gefährlicher Spinner.
In klandestiner Runde – sie nennen es Loge – treffen sie sich im Keller des Kopenhagener Reichskrankenhauses, gießen sich Schnaps hinter die Binde und stecken die mit Zylindern beschwerten Köpfe zusammen.
Der Männerbund, eine von feministischer Seite mit Vorliebe kritisierte Institution patriarchaler Ordnung, feiert hier wunderbare Auftritte, etwa wenn der ehrgeizige Pathologe Professor Doktor Bondo, gespielt von dem humorhochbegabten Andri Schenardi, seine Logenbrüder auffordert, ihm die krebskranke Leber eines im Sterben liegenden Patienten zu transplantieren, damit der Tumor in seinem Körper weiterwachsen kann. „Ich will das größte Lebersarkom Europas züchten!“
Und auch die anderen haben ihre delikaten Probleme. Der dauerlächelnde Chefarzt, gespielt von Ulrich Matthes, will sein Team auf Teufel komm raus mit Methoden aus dem Coachingseminar motivieren und sucht später, nach einem fatalen Besuch des Gesundheitsministers, Trost bei einem bongospielenden Therapeuten.
Doktor Stig Helmer, verkörpert vom zweiten Star des Abends, Wolfram Koch, muss unbedingt einen Kunstfehler vertuschen und schreckt dabei auch vor dem Einsatz von Voodoozauber nicht zurück. Derweil steigert sich seine Geliebte, die von Anja Schneider gegebene Anästhesistin Doktor Mortensen, in animalische Gewaltfantasien hinein. „Der Dachs ist ein niedliches Tier, das so lange zubeißt, bis der Knochen zerquetscht ist.“
Skepsis an der Vernunft
Follow the science? Bei diesem Personal lieber nicht! Genüsslich konterkarieren Regisseur Jan-Christoph Gockel und sein 14-köpfiges Ensemble die Vorstellung kühl berechnender Forscherinnen und Forscher, die ihre überragende Ratio in den Dienst des Fortschritts stellen. Die hier durchweg fröhlich vorgetragene Skepsis an der Vernunft ist freilich nicht ganz neu, folgen Gockel und sein Team doch mit ihrer Adaption recht werktreu den ersten beiden Staffeln von Lars von Triers Serie „Riget“ („Das Reich“) aus den Neunzigerjahren. Der dänische Starregisseur verband damals die Krankenhausserie mit dem Horrorgenre.
Gockel, seit 2020 Hausregisseur und Teil der künstlerischen Leitung der Kammerspiele München, hat den Stoff bereits am Schauspiel Graz, der früheren Wirkungsstätte von Intendantin Iris Laufenberg, inszeniert. Die Berliner Fassung ist mit fünf Stunden einschließlich zwei Pausen noch einmal länger geworden, auch hat er fast das ganze Ensemble ausgetauscht. Mit dabei sind nun auch Jonas Sippel und Dirk Nadler vom Theater RambaZamba.
„Hospital der Geister“, wie der Abend hier heißt, spielt in einem Spital, das einst – wie immer wieder erwähnt wird – auf uraltem Sumpfland erbaut wurde. „In alten Zeiten wässerten hier Bleicher riesige Tücher und breiteten sie zum Trocknen aus. Der Dampf, der aus den feuchten Stoffen aufstieg, hüllte den Ort in ewigen Nebel.“ Dann aber kehrte mit dem Krankenhaus, mit Ärzten und Forschern Objektivität und Technologie ein.
„Nie mehr sollten Aberglaube und Unwissenheit die Bastion der Wissenschaft erschüttern.“ Aber weit gefehlt! Eine Art Dialektik der Aufklärung waltet hier, mit jedem Wissenszuwachs droht der Verstand in sein Gegenteil umzuschlagen. Das Okkulte und Spiritistische hat an diesem Ort genauso seinen Platz wie die Vernunft.
Kulturhistorisch bewandert
Gockel und seine Dramaturgin Karla Mäder folgen mit ihrer Fassung den kulturhistorisch bewanderten Bezügen des Originals. Im gedanklichen Hintergrund des um keinen Gag verlegenen Bühnengeschehens leuchten all die Rückschritte des Fortschritts und Fortschritte des Rückschritts auf: Die Renaissance war die Epoche des Wissensdurstes und der Emanzipation von den Religionen, sie war aber auch die Zeit der Hexenverfolgung; das 19. Jahrhundert erfand das Konzept der Objektivität und nutzte es sofort, um Geisterwesen zu bezeugen; die ungemeine Rechenleistung unserer Tage ermöglicht Forschung auf einem ganz neuen Niveau – genauso wie täuschend echte Fakes.
Die Wahrheit ist also nicht ohne die Täuschung zu haben, das Leben nicht ohne den Tod und die Wirklichkeit nicht ohne das Unerklärbare. Dabei lassen sich diese Ebenen aber nur unter großen Mühen miteinander in direkten Kontakt bringen. Dafür ist unter anderem Tanja Hameter zuständig. Sie fungiert an diesem Abend als eine Art Medium zwischen den Welten, was Sinn ergibt, da sie persönlich stark auf Vermittlung angewiesen ist.
Hameter ist taubblind, eine Dolmetscherin übersetzt ihr das auf der Bühne Gesagte und die Reaktionen des Publikums auf ihren Vortrag über Druckzeichen auf ihrer Hand. Mehrmals wird das genutzte Alphabet auf einen Gazevorhang vor der Bühne projiziert, wie als stolzer Beweis, welche Grenzen die Vernunft zu überwinden weiß, welche Isolation sie zu durchbrechen vermag.
Der Kontrast zum Unerklärlichen und Unheimlichen wirkt da nur umso größer. Denn andere bleiben hier schrecklich allein, so etwa die neunjährige Marie, die vor einem Jahrhundert von ihrem Vater erstickt wurde und seither keine Ruhe findet. Der Puppenspieler Michael Pietsch lässt sie durch die Krankenhausfluge geistern, reißt ihre Augen weit auf und rollt ihre Pupillen gruselig zur Seite.
Beeindruckende Puppen
Pietsch hat auch die anderen beeindruckenden Puppen für diese Inszenierung gebaut: eine kleine Ratte, die er durch den Krankenhauskeller wuseln lässt, und Maries Bruder, den die Assistenzärztin Judith (Lisa Birke Balzer) gebiert. Etwas stimmt nicht mit diesem Jungen. „Brüderchen“, wie sie ihn nennen, kann sofort sprechen, vor allem aber wächst und wächst er, bald misst er schon fünf Meter, das halbe Ensemble muss ihn stützen, als er ein paar Meter über die Bühne stapft. Ein groteskes Wesen hat da das Licht der Welt erblickt und wäre sofort fähig, sie in die Dunkelheit zu stürzen. Denn der Teufel hat Brüderchen gezeugt und bietet ihm nun an, ihn zu retten. Alles, was er dafür will, ist seine Seele.
Horror und Humor wechseln vor allem im letzten Teil dieses Abends rasch und beständig, wenn Gockel das Geschehen immer wieder in Richtung Musical steuert. Da stimmt dann Anja Schneider auf einem Leichenkarren das Lied vom Rattenfänger an oder sie hüpfen allesamt in Glitzerkostümen zu Abbas Hit „SOS“ über die Bühne.
In ihrer Aussage mag die Inszenierung pessimistisch ausfallen, bestreitet sie doch, dass es so etwas wie einen festen Boden gibt, eine Realität, auf die zweifellos Verlass wäre. Das Schöne ist jedoch, dass sich davon an diesem Abend niemand die Laune verderben lassen muss. Gockel und sein Ensemble schenken dem Theater dringlich benötigte Leichtigkeit.
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