Horrorklassiker „Suspiria“ neu verfilmt: Mit Schuld und Scham
Luca Guadagnino macht den Kultfilm „Suspiria“ zur feministischen Orgie. Er hat ein Meisterwerk geschaffen, das die menschliche Natur seziert.
Berlin, 1977: Die schüchterne Susie Bannion (Dakota Johnson), reist aus ihrer Kleinstadt in Ohio nach Berlin, um sich bei der renommierten Tanzschule Madame Blancs (Tilda Swinton als Pina-Bausch-Lookalike) zu bewerben. Schnell wird Suzie klar, dass es sich um keine gewöhnliche Tanzschule handelt.
So viel zu den Ähnlichkeiten mit Dario Argentos „Suspiria“, dem Horrorklassiker aus dem Jahr 1977. In Wirklichkeit ist Luca Guadagninos Remake jedoch nicht bloß eine Hommage an Argentos Film, sondern geht deutlich darüber hinaus: Er verhält sich wie ein Metafilm zu seinem Vorbild.
Der Hauptaspekt des Films ist – ganz anders als bei Argento – die Komplexität der weiblichen Natur. Alle einer Frau von der Gesellschaft aufgezwungenen Lebensabschnitte werden von Luca Guadagnino seziert, zerstört und schließlich neu definiert. Eine Frau ist mehr als eine unschuldige Tochter, eine naiv-sexuelle junge Frau oder eine barmherzige Mutter. Guadagnino geht sogar so weit, dass er die Charakteristika dieser Rollenbilder vermischt und den gegensätzlichen Altersgruppen zuweist.
Wir sehen Suzie als Mädchen masturbieren, sehen junge Tanzschülerinnen, die reifer und weiser wirken als ihre Lehrerinnen, die ihre hedonistischen Züge frei ausleben, oder sehen Mütter, die ihre Kinder verachten. Männer existieren nur außerhalb der Gemäuer, sie sind Objekte absichtlicher Belustigung, letztlich irrelevant. Die einzig männliche Figur, der Psychoanalytiker Klemperer, wurde von Tilda Swinton mit Make-up gespielt.
Die Mutigen und Ehrlichen
Generell ist außer der Prämisse nichts aus Argentos Version wiederzuerkennen. Die Farben wirken im Vergleich zum Neon des Vorgängers trist bis bieder und die Figuren haben eine melancholische Tiefe, während die Frauen im Original fast kindlich wirkten (eine Anekdote besagt, dass Argento „Suspiria“ ursprünglich mit Kinderdarstellern drehen wollte).
Auch die historischen Elemente – von vielen als überflüssig und verwirrend bezeichnet – sind richtig am Platz. Das Nazi-Regime, die politischen Unruhen des Deutschen Herbsts und der Hexenzirkel in der Ballettschule haben viele Gemeinsamkeiten: In allen Situationen geht es um Machtspiele und Minderheiten, die diesen ausgesetzt sind.
Die Mutigen und Ehrlichen werden als Erstes zum Opfer, und wer sich widersetzt, an dem wird ein Exempel statuiert. Nur in der Gruppe, im Geheimen kann man sich sicher fühlen. Die Tanzakademie bietet einen Kosmos weiblicher Liebe und Solidarität, doch gleichzeitig wird sie zum Schauplatz absoluten Betrugs und gegenseitiger Zerstörung.
„Suspiria“. Regie: Luca Guadagnino. Mit Dakota Johnson, Tilda Swinton u. a. Italien/USA 2018, 152 Min.
So gelingt es Guadagnino erneut, Psychogramme des Alltags mit der Politik und ihrer medialen Inszenierung zu kontrastieren. So wie sich bei „A Bigger Splash“ (2015) die europäische Flüchtlingspolitik dezent und grausam im Hintergrund abspielt, während sich die Boheme in ihren Villen erbittert bekämpft, so ist auch bei „Suspiria“ die RAF im Radio zu hören, während die Tanzschule intern ihre eigenen Kämpfe austrägt.
Perfide Gewaltszenen
Gegen die perfiden Gewaltszenen allerdings wirkt die „große“ Politik draußen wie eine Schlacht von Jungs im Sandkasten. „Wir brauchen Schuld und Scham, aber nicht deine“, sagt Suzie am Ende des Films zum gebrochenen Mann Klemperer.
Guadagnino hat mit seinem „Suspiria“ ein komplexes Meisterwerk geschaffen, das der menschlichen, vor allem der weiblichen Natur auf den Grund geht. Wer einen nach den Regeln des Genres spielenden Horrorfilm erwartet, ist hier fehl am Platz. Es geht vielmehr um den ganz realen Horror, der einen im Alltäglichen anspringt. Guadagnino hat Argentos Werk komplett zerstört, um etwas Neues, etwas Besseres zu erschaffen.
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