Lidokino 11: Der Abschluss: Die Größe kleiner Geschichten

Der Goldene Löwe geht in Venedig an den Film „Roma“ des Mexikaners Alfonso Cuarón. Und damit erstmals an eine Netflix-Produktion.

Alfonso Cuaron und sein goldener Löwe

Mit „Roma“ erfolgreich: Alfonso Cuaron Foto: ap

Ein Sieg für Netflix und Schwarz-Weiß. Die Strategie der Filmfestspiele von Venedig, sich die Eigenproduktionen des US-amerikanischen Streamingdiensts, die in Cannes in diesem Jahr abgelehnt worden waren, in den Wettbewerb der 75. Ausgabe der „Mostra“ einzuladen, ist aufgegangen. Mit „Roma“ des Mexikaners Alfonso Cuarón hat der frühe Favorit den Goldenen Löwen als bester Film erhalten, zugleich ist es der erste Hauptpreis, der an Netflix geht.

Ein bisschen hatte man sich ja nach der Vorführung von Cuaróns Film gefragt, warum eine derart klug komponierte Arbeit, deren raumtiefenbetonte Schwarz-Weiß-Bilder nach großer Leinwand verlangen, in erster Linie für das Gucken am heimischen Bildschirm hergestellt wurde – das ist schließlich das Kerngeschäft von Netflix. Dem Film selbst schadet das allerdings nicht.

Mit seinem ruhigen Erzähltempo, der Konzentration auf die Figur der Haushälterin Cleo (Yalitza Aparicio), die in einem bürgerlichen Haushalt im Stadtteil Roma von Mexiko-Stadt dient, und der vordergründigen Beschaulichkeit der Handlung, die ihren politischen Hintergrund – die Aufstände im Mexiko der siebziger Jahre – ohne übermäßigen Nachdruck erst allmählich durchscheinen lässt, ist „Roma“ ein Glücksfall an reflektierter Filmkunst, dessen punktgenau beiläufiger Tonfall lange nachhallt.Der Kinostart ist im Übrigen für den Herbst angekündigt.

Auf lange Sicht wird man sich dann bei Netflix überlegen müssen, wie das Verhältnis zum Verleihwesen im Kino insgesamt aussehen soll. Fürs Erste scheint die Vielfalt des Filmschaffens durch den digitalen Giganten jedenfalls nicht bedroht.

Parteinahme für die Arbeiterklasse

Fast noch bemerkenswerter als die starke Präsenz von Netflix im Wettbewerb mit drei Filmen ist jedoch die künstlerische Allianz, die der Konkurrent Amazon dieses Jahr eingegangen ist: Ausgerechnet der aufrechte Kapitalismuskritiker Mike Leigh ließ seinen britischen Historienfilm „Peterloo“ mit Geld des für sein aggressives Geschäftsgebaren bekannten Online-Versandhändlers produzieren. So viel Ironie muss anscheinend sein.

Leighs zum Didaktischen neigende ausnahmslose Parteinahme für die Arbeiterklasse war durch die geschichtliche Distanz des Stoffs – das Massaker von Peterloo bei Manchester ereignete sich 1819 – sogar recht gut zu ertragen. Der langsame Aufbau der Handlung mit ihren endlosen Debatten über politische Reformen, die im gewalttätigen Gemetzel der Kavallerie an friedlich demonstrierenden Proletariern ihren tragischen Höhepunkt findet, war überdies gelungen. Einen Preis gab es am Ende nicht.

Die Vielfalt scheint durch die Digitalen nicht bedroht

Mit dem italienischen Beitrag von Luca Guadagnino, einem Remake von Dario Argentos Horrorklassiker „Suspiria“ aus dem Jahr 1977, war Amazon gleich ein weiteres Mal ohne Auszeichnung im Wettbewerb mit dabei. Wobei Guadagninos Versuch, deutsche Geschichte zwecks Sinnstiftung in eine ansonsten unbedarft mit Hexenzauber in einer Ballettschule spielende Handlung zu integrieren, krachend gescheitert ist.

Trotz einiger beeindruckenden Tanzszenen. „Suspiria“ war ein extremes Beispiel für die Dominanz historischer Themen in diesem Jahrgang – bei einem runden Jubiläum nicht überraschend –, extrem insofern, als mit einer puren Fantasievorlage an zeitgeschichtliche Themen wie NS-Zeit, deutsche Teilung und die RAF angedockt wurde.

Verstörend-rohes Finale des Wettbewerbs

Auch erfolgreichere Versuche, ungewohnte Bilder für historische oder persönliche Stoffe zu finden, blieben bei der Preisvergabe außen vor. Rick Alversons weitgehend ungeliebter Film „The Mountain“, eine kaltwütige Abrechnung mit den fünfziger Jahren der USA, in der die Schrecken der Psychiatrie in Gestalt von Elektroschock und Lobotomie als Symbole für Normalisierungszwang in einer vorgeblich individualistischen Gesellschaft stehen, inszenierte mit seinen wie ausgewaschen farblosen Bildern eine beklemmende Stimmung. Das bot wenig an Unterhaltung der herkömmlichen Sorte, bei Alverson bekamen dafür selbst leere Räume filmisch einen treffenden Sinn verliehen.

Ebenso wenig konnte Mario Martones italienischer Beitrag „Capri-Revolution“, der einen stillen Blick auf den Ersten Weltkrieg von der beschaulichen Felseninsel aus wagte, mit seiner fast traumhaft hippieesken Stimmung und Musik die Jury unter Vorsitz von Guillermo del Toro überzeugen. Und Shinya Tsukomatos explosive Meditation über den Akt des Tötens bei Samurai, „Killing“, im 19. Jahrhundert angesiedelt, lieferte zwar ein verstörend-rohes Finale des Wettbewerbs, blieb aber gleichfalls ohne Auszeichnung.

Das galt andererseits genauso für die konventionell bis klischeehaft erzählten Beiträge wie Florian Henckel von Donnersmarcks –inzwischen für einen Auslands-Oscar ins Rennen geschickten – Künstlerfilm „Werk ohne Autor“ oder Paul Greengrass’ „July 22“ über die norwegischen Terroranschläge des rechtsextremistischen Massenmörders Anders Breivik.

Starke Frauen als Hauptfiguren

Künstlerisch wurde eher das auf individuelle Weise Wohlkomponierte belohnt, ohne allzu sehr anzuecken. Die Konsensfilme – neben Cuarón war das Yorgos Lanthimos mit seinem Historienfilm „The Favourite“ über die Regentschaft der britischen Königin Queen Anne, der den Großen Preis der Jury bekam – waren dafür so stark, dass man allenfalls sehr eingeschränkt von fehlendem Mut für künstlerische Randpositionen sprechen könnte. Und mit dem Spezialpreis der Jury für Jennifer Kents „The Nightingale“ wurde dann obendrein ein Beitrag geehrt, der furchtlos und mit wunderbar wilden Naturaufnahmen aus Tasmanien eine weibliche Rachegeschichte im Australien des 19. Jahrhunderts mit explizit blutiger Gewalt präsentiert.

Alle drei Filme haben zudem auf ihre Weise starke Frauen als Hauptfiguren. Ein kleines Gegengewicht zur geringen Präsenz von Filmemacherinnen im Wettbewerb, was Kent in ihrer Dankrede veranlasste, an die Adresse aller Frauen, „die Filme machen wollen“, zu rufen: „Please go and do it, we need you!“

Bedauerlich, dass Olivier Assayas’ virtuos verquatscher Beitrag „Doubles vies“ mit endlosen Debatten über Digitalisierung im Verlagswesen und Treue beziehungsweise Untreue im Liebeswesen leer ausging. Das sind dann im Ergebnis Kleinigkeiten bei einem mehr als soliden Jahrgang, in dem man sich manche Entscheidung anders hätte vorstellen können, die Auswahl aber groß genug war, um das Übergehen des einen oder anderen Films unumgänglich zu machen.

In den Nebenreihen war womöglich noch etwas mehr Freude an ungewöhnlichem Erzählen zu spüren, in Pema Tsedens chinesischem Film „Jinpa“ in der Reihe „Orizzonti“ etwa, der eine schlichte Handlung mit wenigen eleganten Mitteln – der Doppelbesetzung von Rollen mit denselben Schauspielern vor allem – für eine irritierende Komplexität zwischen Realität und Traum sorgt. Nebenbei bot „Jinpa“ auch kleine Einblicke in den Alltag der spärlichen Bevölkerung einer entlegenen Region in Tibet, die 5.000 Meter über dem Meeresspiegel liegt.

Ausdrückliche Oscar-Orientierung

Das Kino, so konnte man am Lido den Eindruck gewinnen, ist in guter Form, braucht sich bis auf Weiteres auch nicht die Frage zu stellen, ob mit Virtual Reality (VR) Cinema und seiner Rundumsicht eine Gefahr für den begrenzten Bildraum der traditionellen Filmformate droht. Immerhin gibt es für die VR-Sektion auch Preise, um deren Bemühungen zu würdigen.

Mit „Spheres“ der US-Amerikanerin Eliza McNitt wurde dieses Jahr denn eine Arbeit zwischen Wissenschaft, Poesie und Science-Fiction als bester VR-Beitrag geehrt. Das mutet mit seinen Animationen ziemlich psychedelisch an, wenn man im Zentrum eines schwarzen Lochs stehen und Sterne in das eigene Gravitationsfeld ziehen kann. Wirklich mehr über den Kosmos versteht man hinterher nicht. Und Revolutionen sind das auch keine. Aber nicht uninteressant.

Was als Tendenz viel deutlicher auffiel in diesem Jahrgang, war die ausdrückliche Oscar-Orientierung im Wettbewerb. So waren zahlreiche Filme von nichtangelsächsischen Regisseuren englischsprachige Produktionen.

Vom Griechen Lanthimos über die Italiener Guadagnino und Roberto Minervini („What You Gonna Do When the World’s On Fire?“) bis zum Franzosen Jacques Audiard („The Sisters Brothers“) war Englisch bei zwölf von insgesamt 21 Wettbewerbsfilmen die Lingua franca. Hier könnte man beim ältesten Filmfestival der Welt in Zukunft wieder auf mehr Vielfalt setzen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.