Hommage an Countrymusiker Roger Miller: Der lustigste Hurensohn
Die Antifolkies Toby Goodshank und Mathias Kom haben ein Album mit Songs des Countrysängers Roger Miller gemacht. Es ist eine Hommage auf Augenhöhe.
Von Honky-Tonk zum Broadway, das gibt es auch nicht oft. Es ist eine typische Roger-Miller-Geschichte: In den 1960er Jahren machte der US-Künstler als Countrymusiker von sich reden, nachdem ihn die Branche viele Jahre ignoriert hatte, obwohl er sogar schon mal Johnny Cash bei dessen drogenbedingt verpassten Auftritten als Sänger ersetzen sollte.
Nach einem umfangreichen Output, veröffentlicht innerhalb weniger Jahre, war der musikalische Erfolg zu Ende, nicht aber Millers autodidaktisches Talent – 1985 feierte sein hochgelobtes Broadway-Musical „Big River“ Premiere, zwischendurch komponierte und spielte er die Musik für die Walt-Disney-Zeichentrickverfilmung von „Robin Hood“-ein.
Roger Miller (nicht zu verwechseln mit dem Bostoner Punkpionier gleichen Namens) wurde 1936 in Fort Worth,Texas, geboren, wuchs bei Verwandten in Oklahoma auf und zog später nach Nashville. Nach brotlosen Jahren als Countrymusiker bekam er schließlich den langersehnten Plattenvertrag und veröffentlichte Lieder, die extrem eingängig, oft albern, in einem guten Sinne simpel sind, etwa „You Can’t Rollerskate in a Buffalo Herd“, „King of the Road“ und „Dang Me“. Alle sind mitsingbar. Auch weil Miller, typisch für die 1960er Jahre, mit seinem festen Tenor trotz des Südstaatendialekts ausgesprochen artikuliert singt.
„Jeder Roger-Miller-Song enthält diese perfekt proportionierten Dosen von Humor und Ernsthaftigkeit, Albernheit und Schwerkraft,“ beschreibt es der kanadische Musiker Mathias Kom, der mit seinem New Yorker Kollegen Toby Goodshank 30 Jahre nach Millers Tod 1992 nun ein Tribute-Album veröffentlicht hat. „Millers Lieder sind unendlich zugänglich und zutiefst merkwürdig, er singt, als ob er dir stets zuwinkt und dich einlädt, mitzumachen.“
Mathias Kom & Toby Goodshank: „Miller Time“ (BB*Island/Cargo/The Orchard)
Das stimmt: Miller war Pop, bevor es den richtig gab. Er war Aushängeschild der Countrymusik und zugleich alles andere als ihr typischer Vertreter. Eben Novelty, wie man in den USA eine verquere, erneuernde Genre-Interpretation nennt (wobei Country ohnehin sehr viel inklusiver und weniger stromlinienförmig als sein landläufiges Image war, wie Ken Burns in seiner gleichnamigen TV-Dokumentation umfassend darlegt).
In wenigen Jahren durch die Branche gestürmt
Während Miller in Deutschland eher unbekannt sein dürfte, hat im US-Country quasi jeder mit Rang und Namen irgendwann mal etwas Gutes gesagt über ihn als Kollegen, der in wenigen Jahren durch die Branche stürmte. „Roger war die talentierteste und am wenigsten disziplinierte Person, die man sich vorstellen kann“, meinte durchaus anerkennend zum Beispiel Singer-Songwriter Bill Anderson.
Etliche Textzeilen und -Ideen hat Miller der Erzählung nach Kollegen „geschenkt“, ohne als Urheber genannt werden zu wollen. Labelbosse sollen ihn gezwungen haben, Songs überhaupt zu Ende zu bringen. Auch die Texte zeugen von seiner großen Flinkheit: Einleitungen gibt es keine, Pointe oder schlichter Unsinn folgen schon in der zweiten Zeile, nach zweieinhalb Minuten ist oft Schluss.
Das schönste Kompliment über Roger Miller stammt von seinem Weggefährten, dem texanischen Outlaw Willie Nelson, der seinen Freund bis heute vermisst: „The funniest son of a bitch in the world.“
Man kann sich unschwer vorstellen, dass der Country-Musiker bei den LoFi-Künstlern Toby Goodshank und Mathias Kom auf offene Arme stieß. Sie waren gemeinsam auf einer ihrer selbstorganisierten Touren, im Auto auf der Fahrt zu den Konzerten wurden Roger-Miller-Lieder gesungen. Rasch kam die Idee auf, diese Grille zu einem Tribute-Album auszugestalten. Erst die Coronapandemie verschaffte dem Duo schließlich die nötige Zeit, das Vorhaben zu verwirklichen.
Mitsingreime und textliche Haken
Auf „Miller Time“ interpretieren nun die grundfreundlichen Stimmen von Goodshank und Kom die Musik des großen Stars. Das Piepsen und Klonken billiger Digitalgeräte, Videospiel-Samples und eine schöne Mehrstimmigkeit ergänzen die Originale, ohne diese zu überfärben. Hier treffen zwei beziehungsweise wohl drei zusammen, die offenbar schon immer zusammengehörten: die Mitsingreime, die treibende Erzählung zwischen Sprechen und Singen, die textlichen Haken, die mit unverhoffter Regelmäßigkeit geschlagen werden.
Eine Zeile wie „My uncle used to love me but she died / A chicken ain’t chicken ’til it’s lickin’ good fried“ könnte man sich exakt so auch auf einem zeitgenössischen Album der zwei Singer-Songwriter vorstellen. Man meint, den Roadtrip der beiden, das Voranrollen der Räder zu hören, in dem Millers höhere Unsinnstexte, lauthals mitgesungen, ihre Geschichten entfalten.
Ausgesprochenen Americana-Kitsch findet man bei Roger Miller, der nach eigener Aussage „drecksarm“ im Niemandsland aufwuchs und als Kind auf einer Baumwollplantage arbeiten musste, nicht. Für Landstraßenromantik hatte der Sänger mit den Punksong-kurzen Countrysongs vermutlich auch gar keine Zeit. Nur dort, wo es doch einmal etwas rührselig wird, helfen Goodshank und Kom nach: So tanzen die Eltern in ihrer Fassung des grundsentimentalen „Tom Green County Fair“ zum Beispiel nicht gesittet übers Parkett, sondern kippen sich lieber einen hinter die Binde („Mom and Pop getting Wasted“).
„Miller Time“ verbindet das ohrwurmlastige Songwriting Roger Millers mit der DiY-Haltung und den höchst unterschiedlichen Stimmen zweier Anti-Folk-Protagonisten nicht aus den Country-Hochburgen Nashville oder Oklahoma, sondern aus New York City (Goodshank) und von Prince Edward Island (Kom). Für einen wie Miller, der sich nach eigenem Bekunden immer irgendwie off fühlte, derweil er mit seinen makellos produzierten Songs Erfolge auf großen Bühnen und am Broadway feierte, kann man sich kaum eine bessere Hommage vorstellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann