Holocaust-Überlebende über Populismus: „Es hat keinen Zweck zu jammern“

Die Erfolge der Rechtspopulisten zeigen, dass nicht viel aus dem Aufstieg der Nazis gelernt wurde. Renate Lasker-Harpprecht bleibt trotzdem optimistisch.

Eine Frau steht vor einem Vorhang

Renate Lasker-Harpprecht im Berliner Hotel Savoy Foto: David Oliviera

taz: Frau Lasker-Harpprecht, Sie haben schon ausführlich über Ihr Überleben in Auschwitz berichtet. Gibt es etwas, worüber Sie sprechen wollen, vielleicht einen Aspekt, der immer zu kurz gekommen ist?

Renate Lasker-Harpprecht: Das Einzige, worüber ich nicht reden möchte, ist Mr Trump.

Warum nicht?

Weil das ein unerfreuliches Thema ist. Wissen Sie, wenn man eine der wenigen Überlebenden von Auschwitz ist und ein wirklich biblisches Alter erreicht hat, dann lässt man sich ausfragen – aber bei manchem sagt man sich dann auch: Das will ich jetzt nicht mehr hören.

Gibt es etwas, was bei Interviews mit Ihnen gar nicht abgefragt wird?

Nun, die Leute können sich – sie sind ja meist ein halbes Jahrhundert jünger als ich – aus völlig verständlichen Gründen überhaupt nicht vorstellen, was Auschwitz war. Und auf der anderen Seite gibt es viele Leute, die überhaupt nichts mehr davon hören wollen. Aber ich sage mir: Damit muss man leben – nicht um zu überleben, sondern um zu versuchen, den Rest des Lebens einigermaßen anständig zu verbringen. Auschwitz ist ein Kapitel für sich. Sie können sich nicht vorstellen, was da war – und das kann ich auch nicht von ihnen erwarten.

Was kann man erwarten?

Wenn man mich fragt – das finde ich eine ausgesprochen blöde Frage –, wie können Sie denn überhaupt noch mit einem Deutschen sprechen? Meine Schwester hatte sich geschworen, keinen Fuß mehr nach Deutschland zu setzen. Aber diesen Schwur hat sie Gott sei Dank gebrochen. Und sie hat gemerkt, dass inzwischen zwei, wenn nicht drei Generationen gelebt haben, die erst nach Auschwitz auf die Welt gekommen sind.

Sie waren sogar mit einem Deutschen verheiratet...

Na, das kommt erschwerend hinzu. (lacht) Aber das muss ich jetzt aus Pietät sagen, dass ich in erster Ehe mit einem – auch nichtjüdischen – Franzosen verheiratet war. Und das war etwas akzeptabler. Aber ich war ja viele Jahre mit einem Deutschen verheiratet …

wurde 1924 in Breslau geboren. Die Journalistin (BBC, WDR, ZDF) und Romanautorin („Familienspiele“, 1972) überlebte zusammen mit ihrer Schwester Anita die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen.

mit Klaus Harpprecht …

… der vor einigen Wochen leider gestorben ist. Deshalb war es für mich eine gewisse Überwindung, hierher zu kommen.

Ihr Mann war ein großer Journalist, Redenschreiber und Freund Willy Brandts.

Als er starb, dachte ich mir, vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn ich nach Deutschland fahre und mir einen ganz anderen Wind, allerdings einen sehr, sehr kalten, um die Nase wehen lasse. Wenn mich jemand fragt, wie kann man überhaupt noch leben nach einer solchen Zeit, dann sage ich: Entweder man kann es oder man kann es nicht. Einer der Gründe, weshalb ich in relativ guter Verfassung so viele Jahre überlebt habe, ist, dass mein Zugang zu dieser ganzen Frage lässig ist. Fragt mich nicht, wie Auschwitz war! Soll ich sagen, es war beschissen? Nein. Aber man muss damit leben. Ich meine, es hat keinen Zweck zu jammern. Es ist vorbei.

Manche Überlebende sagen ja: Ich bin aus Auschwitz nie heraus gekommen. Das ist bei Ihnen nicht der Fall?

Wenn ich mich recht erinnere, hat das meine Schwester gesagt. Ich sage das nicht, denn das würde ja bedeuten, dass ich nur an schreckliche Dinge denke.

Martin Walser hat mal geschrieben, seit Auschwitz sei noch kein Tag vergangen. Kommt Ihnen das auch so vor?

Ich kann darauf nicht sachlich antworten, weil ich keine Freundin von Martin Walser bin. Ich finde, jemand, der nicht in Auschwitz war, soll auch nicht über Auschwitz sprechen. Er soll Fragen stellen, wenn es ihn interessiert. Ich war mit meinem Mann beinahe 60 Jahre verheiratet. Wir haben nie über Auschwitz gesprochen – nur wenn ich mal irgendwann das Bedürfnis hatte, etwas zu erzählen. Aber von sich aus hat er nie ein Gespräch über Auschwitz angefangen. Niemals. Weil es für ihn eigentlich unerträglich war.

Sie haben gesagt, Sie wollten nicht über Donald Trump reden. Aber ich würde dennoch gern wissen, wie Sie diesen Rechtspopulismus, der auch in Europa immer mehr Anhänger findet, einschätzen. Manche sagen ja, das, was da entsteht, sei ist fast so wie in den 30er Jahren …

Es gibt gewisse Ähnlichkeiten, obwohl ich in den 30er Jahren ja noch ein Kleinkind war. Aber ich erinnere mich, als ich anfing, in die Schule zu gehen, wie sich langsam, aber sehr sicher dieser Nazismus in Familien breitgemacht hat. Und der hat ja, wie man weiß, in rapider Weise zugenommen – da gibt es schon eine gewisse Ähnlichkeit.

Können Sie sich vorstellen, dass der Rechtspopulismus, den wir erleben, sich am Ende wieder gegen Juden richtet?

Ich bin von Hause aus, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, eine Optimistin. Ich bin auf der anderen Seite froh, dass ich keine Kinder habe, die einer wahnsinnigen Zukunft entgegengehen. Vielleicht wird es fabelhaft, das weiß man nicht, aber wenn es so weitergeht, wie es im Augenblick läuft, kann es ganz schrecklich ausgehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mr Trump, über den ich eigentlich nicht reden wollte (lacht)

Ich finde es gut, dass Sie es trotzdem machen …

… ein Vollidiot ist. Das ist ein total ungebildeter Mann. Aber er ist ein Milliardär. Seine Vorfahren kamen aus Deutschland.

Ja, aus der Pfalz.

Ja, und die Familie hieß: Trump. Vielleicht sind wir ja schon zu lange aus den USA zurück, um uns wirklich zu erinnern, wie Wahlkämpfe normalerweise geführt werden. Aber so einen dreckigen Wahlkampf wie diesen hat niemand jemals gesehen.

Sie haben Angst, dass Trump völlig unqualifiziert ist und es einfach nicht kann?

Ich halte ihn für total unqualifiziert. Er hat keine Ahnung. Aber er ist mehrfacher Milliardär, da kann man nicht ganz blöd sein.

Er hat gesagt: Belgium is a beautiful city …

Ja, solche Sachen. Aber ich habe ihn nicht so oft gehört – mir ist einfach schlecht geworden.

Haben Sie auch den Eindruck, dass die Demokratie nicht mehr so leuchtet wie früher?

Ihr ist ein ständiger Schaden zugefügt worden. Wenn Sie sich die Visage von diesem schrecklichen Kerl angeschaut haben! Das sind ja widerwärtige Grimassen gewesen, nicht? Da fragt sich ein einfacher Mensch, von denen es viele gibt: Von dem soll ich mich jetzt beherrschen lassen? Das geht doch gar nicht! Aber er, wenigstens, baut Mauern, sagt, dass alle Leute, die eine dunkle Haut und kräuselige Haare haben, sowieso Verbrecher und Vergewaltiger sind.

Auch die europäische Idee hat an Glanz verloren. Hat das gemeinsame Wurzeln, das zunehmende Misstrauen gegenüber dem demokratischen Prozess und die Verachtung Europas?

Ich weiß es nicht. Aber wenn mein Mann das erlebt hätte, was mit Europa passiert, wäre er noch verzweifelter gewesen.

Den Brexit hat er noch erlebt …

Ja, und auch den Aufstieg von diesen Ultrarechten – wie heißt noch die Partei in Deutschland?

AfD.

Das haben wir auch damals nicht so ernst genommen.

Sie meinen die NSDAP?

Die NSDAP, die SA und das alles hatte ja einen solchen Typ an Ordinärheit, auch durch ihre – ich will mich jetzt nicht zu unfein ausdrücken – braune Uniform.

Was den Aufstieg der Rechtspopulisten angeht: Zeigt der nicht, dass wir, die heutige Generation, gar nichts aus Auschwitz gelernt haben?

Offensichtlich nicht. Denn es gibt ja in Frankreich Parallel-Parteien. Die Erste, die Mr Trump gratuliert hat, war Madame Le Pen – und dann kam Putin als nächstes. (lacht)

Kann man überhaupt irgendetwas lernen aus Auschwitz?

Man könnte vieles lernen – aber ich weiß nicht, ob man es tut.

Manche sprechen vom „postfaktischen Zeitalter“, in dem die Leute sich nicht mehr für Fakten interessieren. Trump wurde nachgewiesen, dass er alle drei Minuten gelogen hat – trotzdem wurde er gewählt. Ist das das Ende der Aufklärung?

Ich habe mal einen Franzosen, als gerade viel Unsinn geredet wurde, sehr schockiert mit meinem Satz: Du bist dir nicht im Klaren, dass 80 Prozent der Menschen dumm sind. Sie sind nicht ordentlich in die Schule gegangen, sie haben keine Ahnung von Geschichte, und wenn sie etwas hören, was angenehm in ihren Ohren klingt, wie: Bringt sie um! Hängt sie auf! Alle Juden sind Volksverräter! Kauft nicht beim Juden! – Das merken sie sich schnell und finden das eigentlich völlig in Ordnung. Es ist Dummheit und totale – das klingt natürlich wahnsinnig snobistisch – Unwissenheit und Ungebildetheit. Und das wiederum ist die Schuld von Eltern.

Glauben Sie trotzdem noch an so etwas wie Aufklärung?

Ich glaube und ich hoffe. Aber ich bin nicht so wahnsinnig optimistisch. Mein Optimismus zeigt sich darin, dass ich, obwohl ich jüngst verwitwet bin, das Leben immer noch genieße. Und es auch liebe, das Leben – so wie es mein Mann auch geliebt hat.

Was genießen Sie denn?

Nun, ich lebe in einer göttlichen Gegend von Frankreich, wo es warm ist und viel die Sonne scheint, wo die Leute vergnügt sind und guten Wein trinken – ein ganz normales, ordinäres, schönes Leben. Das genieße ich.

Und diesen Optimismus haben Sie sich bewahrt über den Tod Ihres Mannes hinaus?

In Grenzen. Es ist ja erst kurz her. Aber ich bin ganz sicher, dass ich hier nie mit einem langen Gesicht herumlaufen werde. Und wenn ich in Frankreich auf die Straße gehe und einkaufe, wo ich die einzige Jüdin bin – nicht deshalb bin ich denen sympathisch, aber die kennen mich einfach alle, die umarmen einen alle und sagen: Nur Mut! Nur Mut! Ich sage: Mach dir keine Sorgen, Renata schafft’s schon! (lacht)

Es gibt viele Leute, die den Holocaust überlebt haben und nicht mehr glauben konnten. Wie ist das bei Ihnen?

Ich glaube noch. Ich meine, ich bin völlig unfromm erzogen worden. Meine Eltern und auch wir Töchter sind zweimal im Jahr in die Synagoge gegangen, einmal zu Neujahr und dann zu Jom Kippur. Ich bin hingegangen, weil ich – da durfte man ja auch nicht essen – im Hof jüdische Jungen getroffen habe, die sich auch in der Synagoge etwas gelangweilt haben. Und mit denen hat man dann rumgealbert. Aber in schweren Zeiten habe ich gebetet. Und es hat mir geholfen.

Und der Glaube ist Ihnen nicht verloren gegangen?

Nein. Sonst säße ich nicht hier.

Aber wie kann Gott sechs Millionen tote Juden zulassen?

Das fragt auch meine Schwester.

Haben Sie eine Antwort?

Nein, aber Tatsachen: Ich sitze hier in einem feinen Hotel.

Und deshalb glauben Sie noch?

Nicht, weil ich in einem feinen Hotel sitze. (lacht)

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