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Holocaust-GedenkenAppellierende Reize

In absehbarer Zeit wird es keine noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus mehr geben. Wie wichtig sind Zeitzeugen für das Gedenken und warum?

Umfassende Aufarbeitung: Registrierungsfotos Kriegsgefangener in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen Foto: dpa

Z unehmend sollen in der niedersächsischen Gedenkstätte Bergen-Belsen provokante Fragen gestellt werden, in diesem Falle war von einer Schulklasse die Rede, und auch sonst kommt Ähnliches vor, in der ganzen Bundesrepublik. Wie kann das sein und was ist das für eine Entwicklung?

Am Montag waren auf allen Nachrichtenportalen zu Skeletten abgemagerte Menschen zu sehen, anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus. Bilder von Überlebenden wurden in den Zeitungen abgedruckt, unermüdlich berichten sie von dem, was sie erlebt haben. Viele fürchten sich davor, dass es sie bald nicht mehr geben wird. Und darüber musste ich schon oft nachdenken. Wie wichtig sind Zeitzeugen und warum? Ist die Tatsache, dass sie es wirklich erlebt haben, mit ihren eigenen Augen gesehen, für uns so wichtig, für unser eigenes Verständnis, gar für unseren Glauben an diese Dinge?

Es gibt ja mittlerweile eine umfassende, wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Verbrechen, es gibt Film- und Fotomaterial, es gibt Gedenkstätten, deren ausschließliche Aufgabe darin besteht, ihre eigene Geschichte öffentlich zu machen, es gibt Forschungsaufträge, Dokumentationen, Habilitationen, aber nichts scheint die Zeitzeugen ersetzen zu können. Woran liegt das? Und ist das überhaupt so? Sind wir nicht in der Lage, zu abstrahieren, brauchen wir, um urteilen zu können, um Sachverhalte moralisch einordnen zu können, wirklich jemanden, der uns die Umstände dieser Sachlage anhand der eigenen Biografie illustriert?

Oder wird in dieser Angst vor der Zukunft ohne Zeitzeugen nur ganz allgemein die Angst vor der schwindenden Kraft des (Ab-)Schreckens­ deutlich, aber die fehlenden Zeitzeugen sind gar nicht der Grund, sondern eine Gesellschaft, die von diesen Zeitzeugen sowieso nichts mehr wissen will?

Es ist vielleicht auch gefährlich, wenn unsere Entscheidungen zu sehr auf Gefühlen fußen
Bild: Lou Probsthayn
Katrin Seddig

ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Insbesondere den Kindern, den Jugendlichen möchte man immer eine anschauliche, eine detaillierte, empathische Vorstellung geben. Eine Annäherung an das eigentlich Unvorstellbare, in Form eines einzelnen Schicksales, in Form einer Geschichte, einer Erzählung.

Ich kann das verstehen. Wir brauchen Erzählungen, um uns einfühlen zu können, wir brauchen die Details, um uns etwas vorstellen zu können. Wir brauchen Farben, Gerüche, Geräusche, die Stofflichkeit der Dinge, und eben aus diesem Grund gibt es ja auch Gedenkstätten, in denen das Leben und Sterben in den Lagern auch sinnlich erfahrbar gemacht werden soll, nebst den Zahlen und Fakten. So können wir vielleicht einen Hauch des Grauens spüren. Der Rest bleibt abstrakt, und das Abstrakte führt die meisten Menschen nirgendwo hin.

Aber es ist vielleicht auch gefährlich, wenn unsere Entscheidungen zu sehr auf Gefühlen fußen, Urteile aufgrund unserer unmittelbaren Regungen getroffen werden. Auch bei nüchterner Betrachtung der Dinge, und diese Herangehensweise käme, in der Zukunft, auch ohne Zeugen aus: In keiner vorstellbar lebenswerten, menschenwürdigen Welt sind die Verbrechen, die in diesen Lagern geschehen sind, auch nur in Ansätzen rechtfertigbar. Es brauchte keine Gefühle, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen – wenn wir in unserer Gesellschaft Wert auf eine umfassende humanistische, moralische Bildung legen würden, wenn unsere Gesellschaft aus reifen, vernünftigen Menschen bestünde.

Aber unsere Gesellschaft ist beruflich spezialisiert und moralisch-philosophisch verkümmert. Die Menschen brauchen immer wieder simple, an das Mitgefühl appellierende Reize, wie Kinder, in denen das Mitgefühl erst geweckt werden muss. Auf diese Weise sind sie aber auch leicht zu manipulieren, durch ein Bild, eine Schlagzeile, eine Lüge. Alles, was ihr leider dummes Herz erreicht, treibt sie in eine Richtung. Handeln müssen wir aber kühl, mit unserem Verstand, handeln muss die Vernunft. Und Menschen, die sich in Gedenkstätten respektlos benehmen, müssen hinausgeworfen werden, damit der gesellschaftliche Anstand, als Wert an sich, geschützt wird.

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1 Kommentar

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  • Es ist leider wie mit dem Holodomor, wo niemand vor Gericht stand und 1931-1933 laut Bundestag 7-10 Millionen Menschen, meist Bauern, vom NKWD unter Kaganowich und Bareia ermordet wurden. Niemand kam je vor Gericht und die Sowjetunion schirmte sich ab, bis nahezu alle Zeitzeugen gestorben waren. Tausende Dörfer waren entvoelkert und sind einfach verschwunden. Unendliche Getreidefelder ohne ein einziges Dorf, ohne einen Menschen in der Nähe, gigantische Kolchosen des Todes. Niemand gedenkt hier der Opfer des Holodomor. Wir müssen aufpassen, daß das Holocaustgedenken nicht genauso minimiert wird. In der SHOA waren nur zwölf Jahre später 6 Millionen Juden und auch Sinti, Roma, Homosexuellle und auch Kommunisten ermordet. Sogar SA-Chef Röhm fiel den Nazis wegen seiner Homosexualität zum Opfer. In den Schulen wird der Millionen Kinder, die 1932 verhungert gemacht wurden oder Opfer von Kannibalismus wurden nicht gedacht, dabei bestehen auch Bauernfamilien aus Menschen.