Hochschulen im Onlinemodus: Frustwissenschaften, im 3. Semester
Auch im kommenden Semester bleibt das Studium meist digital. Die Unzufriedenheit wächst – nicht nur unter Studierenden.
Los geht es um 14 Uhr vor dem Roten Rathaus, dem Sitz des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD). Der Ort ist bewusst gewählt. Müller hat – in seinem Amt als Wissenschaftssenator, das er auch bekleidet – gemeinsam mit den Berliner Hochschulen beschlossen, auch das kommende Semester „im digitalen Modus“ zu starten. Wie auch andere Bundesländer.
Campusleben, adieu! An den meisten Hochschulen in Deutschland ist die Präsenzlehre weitgehend heruntergefahren. Manche Länder, darunter Bayern und das Saarland, haben Präsenzveranstaltungen aktuell untersagt. In Brandenburg sind sie mit bis zu fünf Personen zulässig. Ausnahmen gibt es in den Ländern für Laborpraktika, Kunst-, Musik-, Sport- und Medizinstudierende.
Hochschulautonomie Andere Bundesländer wie Niedersachsen, Thüringen, Hamburg oder Sachsen betonen die Autonomie der Hochschulen – und lassen sie entscheiden, wann Präsenzunterricht unter Berücksichtigung des Pandemiegeschehens und der Infektionsschutzregelungen anzustreben ist. Berlin hat einen Stufenplan für die Hochschulen entwickelt.
Einsame Erstsemester Einige Bundesländer wollen besondere Regelungen für Erstsemester ermöglichen, zum Beispiel Rheinland-Pfalz. (taz)
Die dritte Welle der Pandemie durchkreuzt derzeit sämtliche Öffnungspläne. Auch die der Unis. Anfang März haben die Hochschulrektor:innen noch lautstark die Rückkehr zum Präsenzbetrieb verlangt und dafür Schnelltests ins Spiel gebracht. Vergangene Woche ruderten sie zurück: Die aktuelle Situation, erklärten sie in einer gemeinsamen Stellungnahme, erlaube dies noch nicht. Eine Ansicht, die die Landesregierungen teilen – auch wenn manche Länder die letztliche Entscheidung den Rektor:innen überlassen.
Für die meisten der drei Millionen Studierenden in Deutschland heißt das: ein weiteres Online-Semester, das dritte in Folge. Bei vielen Betroffenen sorgt diese Aussicht für Verzweiflung. Auch bei HU-Dozentin Chesi: „Wir sind vor dem Burnout“, sagt die 44-Jährige und meint Studierende und Dozierende gleichermaßen. Die physischen und psychischen Belastungen seien enorm, die Qualität der Lehre leide. Chesi begrüßt, dass die HU ein „sehr gutes Beratungsangebot“ geschaffen habe. Aber ewig so weitergehen könne es nicht. Deshalb fordert sie eine „vorsichtige Rückkehr“ zur Präsenzlehre.
Studierende fordern Präsenzlehre
Giulia Maria Chesi ist eine von 1.600 Personen, die einen offenen Brief an den Berliner Senat und die Berliner Hochschulen unterschrieben haben. Initiiert wurde er von Studierenden. Darin fordern sie, die Präsenzlehre „auch unter Corona“ zu ermöglichen. Wie das angesichts der steigenden Inzidenzwerte möglich sein soll, wissen die Initiator:innen von #NichtNurOnline selbst nicht so genau. „Wir verlangen ja keine sofortige Rückkehr zur Präsenzlehre“, sagt Lucie Gröschel, die an der Freien Universität Berlin (FU) Politikwissenschaften studiert.
Brigitte Reysen-Kostudis, Psychologin
„Uns stört aber, dass es keine Öffnungsperspektive gibt“. Für Läden, Fußballstadien, Opernhäuser gebe es Pilotprojekte, wie man das gesellschaftliche Leben wieder hochfahren kann. „Die Hochschulen werden komplett vergessen“, glaubt Gröschel. Als Beweis dient ihr, dass auch der jüngste Bund-Länder-Beschluss Studierende mit keinem Wort erwähnt.
Warum Studierende unzufrieden mit dem reinen Online-Studium sind, zeigt eine bundesweite Befragung durch das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem vergangenen Jahr. Demnach empfand jede:r dritte die Umsetzung des digitalen Angebots als misslungen. Jede:r fünfte gab an, dass die eigene Wohnsituation nicht für das Home-Studium geeignet sei. 80 Prozent der Befragten fehlte der persönliche Austausch mit Mitstudierenden. Von finanziellen Nöten ganz zu schweigen.
Auch Bachelor-Studentin Lucie Gröschel hält die Isolation für ein großes Problem: „Mein Studiengang lebt von Austausch“. Der lasse sich digital aber kaum erreichen. Vor allem Studienanfänger:innen stelle der digitale Betrieb vor ein Problem. Einfach mal die Sitznachbarin fragen geht nicht mehr.
Uni kaum von innen gesehen
Und die Zahl derer, die ihre Uni nie oder so gut wie nie von innen gesehen haben, wächst. Fast 500.000 haben im vergangenen Jahr ihr Studium aufgenommen. Zum Sommersemester im April kommen Zehntausende neu hinzu. Viele Hochschulen wollen nun für Erstsemester möglichst viel Präsenzkurse ermöglichen – doch reicht das, um sie gut in das Studium einzuführen?
Den Frust der Studierenden kann Oliver Jahraus „absolut verstehen“. Jahraus ist einer der fünf Vizepräsident:innen der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und für den Bereich Studium zuständig. „Für alle Beteiligten ist die Situation sehr unbefriedigend“, erzählt der Germanist am Telefon. Doch die jüngste Infektionsschutzmaßnahmenverordnung der Bayerischen Landesregierung vom 5. März sei unmissverständlich: „Dort steht klipp und klar: ‚An den Hochschulen finden keine Präsenzveranstaltungen statt.‘“
Jahraus bezweifelt, dass sich das im Lauf des Sommersemesters noch ändern könnte. „Mit baldiger Präsenzlehre schaut es schlecht aus.“ Er hofft, dass das Wintersemester dann zumindest hybrid laufen wird, das Studium sowohl digitale als auch Veranstaltungen vor Ort umfasst. Dafür könnte man beispielsweise die Seminargruppen verkleinern.
Entsprechende Konzepte habe die LMU bereits letzten Sommer entwickelt, aber bisher nicht anwenden können. Regelmäßige Schnelltests wie an Schulen, wie die Hochschulrektor:innen sie vorschlagen, hält Jahraus für große Universitäten wie die LMU jedoch kaum umsetzbar: „Wir haben 54.000 Studierende, die 8.000 Lehrveranstaltungen an 150 Standorten besuchen. Das wird schwer.“
Bibliotheken sind großes Anliegen
In Berlin hingegen könnten Schnelltests bald zum Einsatz kommen. Das zumindest stellte der zuständige Staatssekretär Steffen Krach am Montag in Aussicht. Der Krisenstab der Senatskanzlei und der Hochschulen sei im Gespräch, wie genau die Tests eingesetzt werden können. Die Ergebnisse werden im Laufe dieser Woche erwartet.
Ein großes Anliegen der Studierenden: dass bald wieder die Bibliotheken öffnen. Nach einer aktuellen Umfrage des Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) unter 27.000 Studierenden konnte im Wintersemester nur ein Viertel von ihnen einen ungestörten Lernraum an der Uni aufsuchen. Die Möglichkeit, Termine zum Lernen in den Bibliotheken zu buchen, gibt es längst nicht überall. Und – das hat soeben ein Berliner Verwaltungsgericht in einem Eilverfahren entschieden – Studierende haben auch kein Anrecht darauf, für ein Staatsexamen in der Bibliothek lernen zu dürfen.
Wie viel Stress die aktuelle Situation für Studierende bedeute, kann Brigitte Reysen-Kostudis erzählen. In einem sechsköpfigen Team ist die Psychologin an der FU Berlin für die psychologische Beratung von Studierenden zuständig – und hat derzeit alle Hände voll zu tun. Während die Zahl der Beratungsanfragen im vergangenen Jahr trotz Pandemiebeginn relativ konstant geblieben sei, meldeten sich seit Jahresbeginn immer mehr Studierende bei Reysen-Kostudis und ihren Kolleg:innen.
Auch die Anliegen hätten sich verändert: Im vergangenen Jahr ging es noch hauptsächlich um Lernblockaden, Entscheidungsprobleme, Zweifel am Studium und Schwierigkeiten, sich selbst zu organisieren. „Jetzt hat jede zweite Anfrage mit Verunsicherung aufgrund der unsicheren Situation zu tun“, sagt Reysen-Kostudis. „Den Studierenden fehlt der Zeithorizont, wie lange sie noch durchhalten müssen.“ Was die Psychologin auch beobachtet: Die Zahl der Studierenden, die die Beratungsstelle wegen depressiver Verstimmungen aufsuchten, habe sich „massiv erhöht“.
Viele Inhalte verlorengegangen
Ob ihre Studierenden vermehrt überlegen, das Studium abzubrechen? Das verneint Reysen-Kostudis. Sie rät aber dringend, die bisherigen Erfahrungen mit der Onlinelehre gründlich auszuwerten – und den Öffnungsplan entsprechend zu gestalten.
Manche werden die Unis verlassen haben, bis die Öffnungen kommen. Zum Beispiel Lisa Winkelmann, die in Erfurt Literaturwissenschaften studiert. Im nächsten Semester muss sie noch ihre Masterarbeit schreiben, danach ist ihr Studium zu Ende. Auch Winkelmann fand das digitale Studium anstrengend und bedauert, dass viele Inhalte durch die Onlinelehre verlorengegangen sind.
In manchen Seminaren sind Winkelmann und ihre Kommiliton:innen nur zu zehnt. Dennoch hat sie Verständnis dafür, dass ihr Institut unabhängig von den Teilnehmerzahlen auf Onlinelehre umgestellt hat: „Man muss ja kein unnötiges Risiko eingehen und es ist weniger Hin und Her“. Ein bisschen traurig ist Winkelmann aber schon: „Mir wurden meine letzten drei Unisemester genommen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los